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# taz.de -- Vorbildliche Integration in Stuttgart: Technologie, Talente und Tol…
> In Stuttgart haben 40 Prozent der Bürger einen Migrationshintergrund. Sie
> sind selbstverständlicher Teil der Stadt. Wer verstehen will, wie das
> funktioniert, muss ins "Haus 49".
Bild: Sprachförderung gibt es für Kleinkinder ebenso wie für Gymnasiasten.
STUTTGART taz | "Die Affen sind raus aus dem Gehege. Der Zoowächter wundert
sich, dass die Tiere weg sind." Stimmt nicht ganz, was Mikail, Grundschüler
in der 2. Klasse, da aufschreibt. Er steckt den Stift kurz in den Mund,
schaut auf die Bildergeschichte mit den Affen und dem Zoo und dann auf das
Blatt Papier, auf das er die Sätze mit geschwungenen Handbewegungen eher
malt als schreibt. "Stimmt doch." Nein. Heißt nicht Zoowächter, heißt
Zoowärter. Den letzten Satz muss er gleich ganz wegradieren.
Die 17-Jährige Deutschtürkin Sibel hat eine Engelsgeduld mit Mikail. Sie
macht das freiwillig, die Hausaufgabenbetreuung im "Haus 49" im Stuttgarter
Nordbahnhofsviertel. Wenn man in Deutschland eine Vorzeigestadt in Sachen
Integrationspolitik sucht, dann muss man nach Stuttgart. Und wenn man
verstehen will, wie das funktioniert, dann muss man ins Haus 49 und das
Nordbahnhofsviertel.
Eine altes Eisenbahnerviertel zwischen Gleisanlagen, Rosensteinpark und
dicken Straßen. Alte Backsteingebäude, Kneipen und Gehwege, die so
aussehen, wie Stuttgart dem Vorurteil nach auszusehen hat. Als würden
Schwaben jedes Wochenende Kehrwoche machen und ansonsten bodenständig ihr
Leben leben. Dabei wohnen hier fast nur Migranten.
In Stuttgart haben 40 Prozent der Einwohner das, was man landläufig einen
"Migrationshintergrund" nennt. Viele Familien kamen schon während der
großen Anwerberzeit in den 50ern und 60ern, als man sie noch "Gastarbeiter"
nannte und dachte, sie würden nach ein paar Jahren Fließband "beim Daimler"
oder bei Bosch wieder in ihre Heimat zurückkehren. Heute wird Stuttgart für
sein im Jahr 2001 ausgerufenes "Bündnis für Integration" überall gelobt.
Der Europarat nahm das Programm als Vorlage für einen Integrationsleitfaden
für europäische Städte. Die Unesco zeichnete die Stadt 2004 mit dem "Cities
for Peace"-Anerkennungspreis aus. Ihr Integrationsbeauftragter Gari
Pavkovic hat Städte wie Köln, München und Frankfurt am Main beraten.
Menschen aus 170 Nationen leben in der Stadt. Man spricht so ziemlich jede
Sprache, außer Hochdeutsch.
Das Haus 49 ist genau das, was die Stadt ausmacht. Ein Potenzial an
engagierten Bürgern, das die Politik nach Kräften unterstützt, und vor
allem Migranten, die selbst für Integration sorgen. Im dritten Stock sitzen
ein paar zusammen und werden von der Sozialarbeiterin Jutta Horsthenke
ermahnt, erst mal Hausaufgaben zu machen, statt "Uno" zu spielen. Marko,
Vater zugewanderter Italiener, macht also an seinem Rap-Referat für Deutsch
weiter: "Sido heißt eigentlich Paul Würdig", schreibt er auf eine Karte.
Syedghane ist trotz Englischprüfung relaxt: Er kam 2004 aus Afghanistan,
jetzt hat er einen Ausbildungsplatz als Koch. "Banker wollen gute Zahlen,
Journalisten Titelgeschichten, das hier ist unser Erfolg", sagt Horsthenke.
Vor 28 Jahren haben ein paar Eltern der Grund- und Hauptschule
Rosensteinschule angefangen, Lernhilfe für Schüler zu geben. Heute haben
sie ein eigenes Haus, fünf Hauptamtliche wie Horsthenke und 20
ehrenamtliche wie Sibel. Sie hat es anderen Helfern zu verdanken, dass sie
ihren Notenschnitt von 3,6 in der achten Klasse auf 2,2 in der neunten
Klasse verbessern konnte und heute eine Realschule besucht. Später will sie
das Gymnasium nachmachen und dann studieren. Der Integrationsbeauftragte
der Stadt weiß, was es heißt, sich ohne Einrichtungen wie das Haus 49
durchschlagen zu müssen. Er erinnert sich noch gut an seinen ersten Tag auf
dem Gymnasium: "Ich also mit einer Stoffhose bis zur Brust, rosa Hemd und
Knoblauchfahne", sagt Gari Pavkovic, und skizziert mit seiner Hand eine
Fahne vor seinem Mund. Es war ein schwieriger Start: Er kam mit zehn Jahren
aus Mostar im damaligen Jugoslawien nach Deutschland und konnte kein Wort
der Sprache.
In der 5. Klasse kam er in die Hauptschule. Seine Mutter ging im
Krankenhaus putzen. Irgendwann sah sie ein Schulbuch bei einer Patientin.
In dem standen ganz andere Sachen als in dem ihres Sohnes. Sie fragte,
warum. So erfuhr sie von Gymnasien und den drei Schulsystemen.
Ein Zufall, sonst kümmerte sich damals niemand. Sie wollte, dass Gari
studiert, und suchte und fand ein Gymnasium, das ihm eine Chance gab. In
der 13. Klasse waren es für Pavkovic dann "Parka, Jeans, selbst gedrehte
Drums", in Deutsch bekam er die beste Abiturnote seines Jahrgangs. Später
studierte er Psychologie.
Heute sagt er: "Das Glück, die richtigen Personen zur richtigen Zeit zu
treffen, soll nicht über die Zukunft eines Menschen entscheiden." Dann
zählt er die Ziele der Stadt auf: Ab dem dritten Lebensjahr soll jedes
einzelne Kind individuell gefördert werden. 98 Prozent der Kinder ab dem
vierten Lebensjahr haben schon heute einen Platz in einer Kita.
Sprachförderung gibt es für Kleinkinder ebenso wie für Gymnasiasten - oder
für Eltern: zum Beispiel im Programm "Mama lernt Deutsch". Sport und
musikalische Bildung sollen ebenso jedem Kind offenstehen und auch der
Unterricht in der jeweiligen Muttersprache. Denn Zweisprachigkeit erhöhe
nicht nur die beruflichen Chancen, sondern auch die Exportchancen der
Wirtschaft, sagt Pavkovic. Der Oberbürgermeister selbst leitet den
Ausschuss der Stuttgarter Bildungspartnerschaft im Gemeinderat, in dem das
Netzwerk aus Vereinen, Kirchen, Ämtern, Stiftungen, Wirtschaft und Politik
koordiniert wird.
Natürlich hat auch Stuttgart Probleme. Die Hauptschulen etwa, in die kaum
noch Kinder gehen, deren Muttersprache Deutsch ist. Selbst bei den im Haus
49 betreuten Schülern findet knapp die Hälfte der Absolventen der
Hauptschule im ersten Jahr keine Lehrstelle. Trotz Förderung und obwohl die
Arbeitslosenquote unter Ausländern in Stuttgart gerade mal 5 Prozent
beträgt.
Monika Schubert kann einiges davon erzählen. Sie gibt seit 28 Jahren
zweimal die Woche Lernhilfe im Haus 49, war einer der Initiatoren und bekam
für ihr Engagement die Ehrenplakette der Stadt verliehen. Sie hat Kinder
erlebt, die einen kaum mehr auszugleichenden Rückstand in der Schule hatten
und irgendwann studiert haben. Und manchmal, sagt sie, tut es richtig weh,
wenn man intelligente, wissbegierige Kinder sieht, die aus heiterem Himmel
abstürzen. Warum auch immer, manchmal passiert was in den Familien, sagt
sie und schluckt.
Menschen wie sie meint Pavkovic, wenn er sagt, es hänge lange nicht alles
am Geld: Immerhin gibt die Stadt 600 Millionen Euro im Jahr für 90.000
Kinder und Jugendliche aus - die Hälfte von ihnen mit
Migrationshintergrund. "Wir sind keine Maschinen, die man in einen
Integrationskurs schickt, und dann kommen sie integriert wieder raus", sagt
er. Vor allem ist es eine Sache der Einstellung.
Integration wird in Stuttgart nicht als Kostenfaktor oder reine
Kriminalprävention betrachtet. Die Region mit der höchsten Exportquote in
Deutschland braucht Ausländer, ihre Talente, ihre Sprachen und ihre
Weltoffenheit, sagt Pavkovic. "Sonst wäre Stuttgart längst ein Altenheim,
und Daimler würde woanders produzieren", sagt er. Man will kulturelle
Vielfalt auch wirtschaftlich nutzbar machen: "Technologie, Talente und
Toleranz" heißt der Dreiklang.
Zudem haben die "Ureinwohner" weit mehr als die Wirtschaftskraft von den
Migranten. Rolf Graser nennt die Schwaben "Ureinwohner". Er ist der
Geschäftsführer des "Forums der Kulturen Stuttgart"; auch so ein Verein,
den die Stadt zwar finanziell unterstützt, den man aber für Geld nicht
einfach kaufen kann: ein Dachverband von heute 80 Vereinen von Migranten.
Vor elf Jahren haben sich einige zusammengetan, nun haben sie eine zentrale
Interessenvertretung.
In diesem Jahr gibt es vom 30. Juni bis zum 5. Juli zum achten Mal das
"Sommerfestival der Kulturen", direkt auf dem Marktplatz vor dem Rathaus
der Stadt: Tänze aus Russland und Südamerika, Rock aus der Türkei,
Maultaschen mit afrikanischer Füllung, 60.000 Besucher werden erwartet.
Sonst bietet das Forum Kurse an: von politischen, wie über Sinn und Zweck
von Kommunalwahl, über die deutsche Rentenversicherung bis zum
Theaterworkshop. Und es bringt das Magazin INterkultur Stuttgart heraus.
Seit Kurzem hat das Forum eine Stelle eingerichtet, die
Entwicklungszusammenarbeit koordiniert. Es führt professionelle
Organisationen mit den Vereinen zusammen, von denen viele Mitglieder Geld
in die alte Heimat schicken.
So sorgen Migranten für Entwicklungshilfe und Migration -weshalb die Stadt
versucht, möglichst viele für den Beruf des Lehrers oder für eine Laufbahn
in der Stadtverwaltung zu gewinnen. Auch Sibel will später mit Menschen
arbeiten, etwas Ähnliches machen wie im Haus 49. Auch wenn es manchmal
anstrengend ist.
Mikail hat seine Geschichte erst nach zwei Stunden aufgeschrieben: Der
Zoowächter, nein, Zoowärter hat die Affen wieder eingefangen. Draußen vor
dem Fenster kicken ein paar Jungs. Mikail packt seine Hefte in den
Schulranzen und ist ziemlich schnell weg. Der Tisch: voll abgeriebener
Radiergummireste.
25 Jun 2009
## AUTOREN
Ingo Arzt
Ingo Arzt
## TAGS
Schwaben
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