Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Umkämpfter linker Wahlkreis in Berlin: Ströbeles langer Schatten
> Schon fast 20 Jahre lang halten die Grünen in Berlins östlicher
> Innenstadt das Direktmandat. Ein Linker und eine SPD-Frau wollen das nun
> ändern.
Bild: Konkurrierende Direktkandidat*innen: Pascal Meiser, Canan Bayram und Cans…
Berlin taz | Der Wahlkreis mit dem wenig einprägsamen Namen
Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg-Ost ist längst legendär. Nicht,
weil er flächenmäßig mit nicht einmal 27 Quadratkilometern der kleinste
überhaupt ist. Sondern weil hier grüne Geschichte geschrieben wurde: 2002
gewann Christian Ströbele im Wahlkreis 83 das erste Direktmandat für seine
Partei überhaupt. Und Ströbele und seine Nachfolgerin Canan Bayram
[1][verteidigten es] bei jeder folgenden Wahl. Bis heute ist es das einzige
Direktmandat der Grünen bei Bundestagswahlen geblieben.
[2][Bayram], die nun zum zweiten Mal in der östlichen Innenstadt Berlins
antritt, gibt sich entspannt, dass die grüne Tradition auch 2021 halten
wird. Sie sitzt an einem Freitagnachmittag Ende August mit dem Inhaber
einer türkischen Bäckerei am viel befahrenden Kottbusser Damm in Kreuzberg
und isst Baklava. Hier gehören die meisten Geschäfte türkeistämmigen
Menschen, längst nicht alle dürfen auch wählen. Und doch ist die 55-Jährige
begehrte Ansprechpartnerin: „Die steigenden Gewerbemieten machen vielen
Geschäftsinhabern große Probleme“, berichtet Bayram.
Selbst in einfachen Lagen im Bezirk würden inzwischen 20 Euro pro
Quadratmeter verlangt. Die [3][Räumung der Buchhandlung Kisch und Co.] nach
einer absurd erhöhten Miete machte bundesweit Schlagzeilen. Deswegen setze
sie sich für eine Reform des bisher unkonkreten Gewerbemietrechts ein, sagt
Bayram, im Bundestag Mitglied im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz.
Sie hat an einem Gesetzentwurf mitgeschrieben, der kleine Läden schützen
soll, etwa durch die Anwendung der Mietpreisbremse und einen spürbaren
Kündigungsschutz. Im Juni wurde er im Bundestag diskutiert und mit den
Stimmen der Koalition abgelehnt.
## Die politische Nachfolgerin von Ströbele
Neben dem omnipräsenten Thema Mieten prägt die Außenpolitik Bayrams Arbeit.
„Sie spielt bei vielen Fragen eine große Rolle“, erzählt die im türkisch…
Malatya Geborene. Manchmal werde sie gefragt, ob Ströbele noch im Bundestag
sitze. Bayram sieht sich selbst „politisch als seine Nachfolgerin“. Bei
wichtigen Fragen halte sie mit ihm Rücksprache.
Etwa, als Mitte August über die rückwirkende Zustimmung für den
Bundeswehreinsatz zur Evakuierung aus Afghanistan abgestimmt wurde.
Erstmals habe sie einem solchen Einsatz zugestimmt, berichtet Bayram.
Schließlich sei es vor allem darum gegangen, so vielen Menschen wie möglich
wahrscheinlich das Leben zu retten. Aus den Reihen der Grünen hat niemand
dagegen votiert.
Bayram hätte sich das wohl leisten können. Wie ihr Vorgänger bezieht sie
eine besondere Legitimation aus dem Direktmandat. „Ströbele wählen heißt
Fischer quälen“, stand einst mit Blick auf den grünen Außenminister auf
einem Plakat Ströbeles. Und wie jener hat Bayram durch radikalere
Positionen in der Außenpolitik und bei der Unterstützung der linken Szene
Aufmerksamkeit in den Medien bekommen: Kaum eine grüne
Bundestagsabgeordnete jenseits des Fraktionsführungszirkels war wohl so oft
in der „Tagesschau“ zu sehen wie Bayram.
Sie sei inzwischen viel bekannter als im Wahlkampf 2017, als sie das erste
Mal um das Direktmandat kämpfte, heißt es aus ihrem Umfeld. Damals war sie
Mitglied des Abgeordnetenhauses in Berlin und Expertin für
Flüchtlingspolitik, aber darüber hinaus nicht besonders profiliert. Am Ende
holte sie [4][den Wahlkreis] knapp gegen ihren linken Kontrahenten Pascal
Meiser: Keine 1,5 Prozentpunkte trennten die beiden bei den Erststimmen; im
Vergleich zu Christian Ströbeles letztem Ergebnis verlor Bayram fast 14
Prozentpunkte. Und bei den Zweitstimmen wurde die Linkspartei im Wahlkreis
83 klar stärkste Kraft.
## Der Ausgang ist offen
Wirklich belastbare Umfragen, wer am 26. September die meisten Chancen auf
den Sieg im Wahlkreis hat, gibt es nicht. Deswegen ist es auch ein Risiko,
dass Bayram – ganz in der Tradition von Ströbele – nicht über die
Landesliste abgesichert ist. Sie zieht nur wieder in den Bundestag ein,
wenn sie das Direktmandat holt.
Pascal Meiser versucht erneut, das zu verhindern. Anders als Bayram zieht
er ziemlich sicher wieder ins Parlament ein, egal, wer den Wahlkreis 83
gewinnt. Aber es wäre ein prestigeträchtiger Erfolg für ihn und seine
Partei, ausgerechnet gegen eine dezidiert linke Grüne zu gewinnen.
Meiser, 46 Jahre alt, war wie Bayram 2017 neu im Bundestag. Zuvor hatte er
viele Jahre den Bereich Kampagnen und Parteientwicklung bei der Linken
geleitet. Er ist Mitglied in den Ausschüssen für Wirtschaft sowie für
Arbeit und Soziales. Viele seiner Positionen sind gewerkschaftsnah; das
merkt man bisweilen auch am Duktus seiner Pressemitteilungen.
Aber im Wahlkreis geht es um viele Themen: Hier hat die linke Szene ihre
letzten Hochburgen in Berlin; während Teile von Friedrichshain von
Plattenbauten geprägt sind, gilt Prenzlauer Berg als glatt saniertes und
gentrifiziertes Altbauparadies für Besitzer*innen von
Eigentumswohnungen. Und doch ist auch die Obdachlosigkeit ein großes
Problem, wie Meiser bei einem Termin vergangenen Freitag nahe dem
Alexanderplatz verdeutlicht wird.
## Wohnungsnot ist das große Thema
Hier, in einem ehemaligen Hotel, ist die sogenannte Task Force des Vereins
Karuna untergebracht. Ihre Mitarbeiter, allesamt selbst ehemalige
Wohnungslose, kümmern sich um Obdachlose auf der Straße. Doch die
Zusammenarbeit mit den verschiedenen staatlichen Anlaufstellen sei oft
holprig und mühsam, berichten sie. Dazu fehle Planungssicherheit, denn
viele Jobs seien nur befristet finanziert.
Und schließlich gebe es gravierende politische Fehler: „Dass
Zwangsräumungen in die Obdachlosigkeit noch erlaubt sind, ist absurd“, sagt
einer der Mitarbeiter. Eine Einschätzung, die Meiser vollauf teilt.
Obdachlosigkeit präventiv zu bekämpfen, sagt er, habe viel mit
Wohnungspolitik zu tun – in diesem Fall vor allem mit fehlenden Wohnungen.
Das Thema dürfte die nächste Legislatur im Bundestag prägen.
Meiser geht von einem „Kopf an-Kopf-Rennen“ im Wahlkreis zwischen Bayram
und ihm aus. Doch es gibt einen zusätzlichen Faktor, der relevant werden
könnte. Eine weitere Besonderheit des Wahlkreises 83 ist, dass ihn derzeit
gleich drei linke Politiker*innen im Bundestag vertreten: Wie stark
also profitiert die SPD-Kandidatin Cansel Kiziltepe vom aktuellen Hype um
Olaf Scholz?
## Unterschiedliche politische Schwerpunkte
Dass Kiziltepe, die seit 2013 Mitglied des Bundestags ist, das Direktmandat
für die SPD holt, gilt als sehr unwahrscheinlich. Aber sie könnte den
anderen beiden wichtige Stimmen wegnehmen. Denn politisch liegen alle drei
bei vielen Positionen nahe beisammen. Sie gelten zum Beispiel schon lange
als klare Befürworter*innen einer rot-rot-grünen Koalition im Bund.
Bayram, Meiser und Kiziltepe schätzen sich und sind per du. Im
Bundestagsalltag haben sie allerdings wenig miteinander zu tun, zu
unterschiedlich sind dort ihre politischen Schwerpunkte.
Aber auch Kiziltepe engagiert sich stark in der Wohnungsfrage. Überregional
bekannt wurde ihr Kampf gegen die Immobilienfirma Akelius, einen der großen
Vermieter in Berlin: Die 46-jährige Finanzexpertin hat die Firma mehrfach
wegen vermeintlicher Steuerhinterziehung angezeigt.
Es dürfte also erneut ein langer Wahlabend werden, insbesondere für Canan
Bayram. Eine Besonderheit könnte sie am 26. September verlieren: die des
einzigen grünen Direktmandats für den Bundestag. Denn in mehreren
Wahlkreisen in größeren Städten haben grüne Kandidat*innen ebenfalls
gute Chancen auf einen Sieg.
16 Sep 2021
## LINKS
[1] /Canan-Bayram-ueber-ihr-Direktmandat/!5450010
[2] /Gruene-nach-Frauenmarsch-im-Visier/!5538523
[3] /Buchhandlung-Kisch--Co-vor-der-Raeumung/!5791746
[4] /Linker-Wahlkreis-in-Berlin/!5447065
## AUTOREN
Bert Schulz
## TAGS
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Canan Bayram
Hans-Christian Ströbele
Direktmandat
Grüne
Grüne Berlin
Canan Bayram
Bauministerium
Briefwahl
Schwerpunkt Wahlen in Berlin
Berliner Bezirke
Canan Bayram
Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin
## ARTIKEL ZUM THEMA
Christian Ströbele ist tot: Niemals Wischiwaschi
Für Christian Ströbele war alles politisch; Persönliches zu entlocken
gelang kaum. Eine Erinnerung einer tazlerin, die ihn 40 Jahre begleitet
hat.
Verdrängung von Gewerbemietern: Mieten gefährden Ihre Gesundheit
Ungebremst steigende Gewerbemieten bedrohen zunehmend auch Arztpraxen und
Apotheken in Berlin – insbesondere die wichtige hausärztliche Versorgung.
Bau-Staatssekretärin Cansel Kiziltepe: Viel Anspruch, wenig Möglichkeiten
Die linke SPD-Politikerin Cansel Kiziltepe wird Staatssekretärin im
Bauministerium. Doch ihre Positionen sind im Koalitionsvertrag nicht
vertreten.
Superwahljahr in Berlin: Mr. Wahl organisiert's
Wahlen sind eine logistische Herausforderung. Uwe Weise sorgt in
Charlottenburg-Wilmersdorf dafür, dass sie laufen – mit Stofftier und
Digitalwaage.
Ode an Prenzlauer Berg: Kein schwäbisches Dorf
Ist Prenzlauer Berg ein arrivierter, langweiliger Biedermeierkiez? Ist er.
Trotzdem ist er schön und liebenswert.
Im September ein Superwahltag in Berlin: Farbe bekennen
Am 26. September ist Superwahltag in Berlin. Zur Wahl stehen das
Abgeordnetenhaus, die Bezirksparlamente und obendrauf der Bundestag.
Grüne nach „Frauenmarsch“ im Visier: Bayram soll Immunität verlieren
Weil sie einen rechten Aufmarsch blockiert haben soll, will die
Staatsanwaltschaft Berlin gegen die Grünen-Abgeordnete Canan Bayram
ermitteln.
Canan Bayram über ihr Direktmandat: „Mein Nein zu Jamaika steht“
Canan Bayram hat das grüne Direktmandat in Kreuzberg verteidigt. Falls eine
Jamaika-Koalition kommt, sieht sie ihre Partei vor einer Zerreißprobe.
Linker Wahlkreis in Berlin: Drei wollen Ströbele werden
Canan Bayram, Pascal Meiser und Cansel Kiziltepe kämpfen um
Friedrichshain-Kreuzberg. Ein Gespräch über Mieten, die Rigaer Straße – und
Koalitionen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.