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# taz.de -- Verdrängung von Gewerbemietern: Mieten gefährden Ihre Gesundheit
> Ungebremst steigende Gewerbemieten bedrohen zunehmend auch Arztpraxen und
> Apotheken in Berlin – insbesondere die wichtige hausärztliche Versorgung.
Bild: Protest gegen die drohende Verdrängung einer Substitutionspraxis in Kreu…
Kitas und Kinderläden, autonome Zentren, Kultureinrichtungen – immer mehr
solcher sozialen Einrichtungen in Berlin sind von Verdrängung bedroht. Denn
die Mieten der Gewerbeflächen, auf die sie angewiesen sind, werden nicht
vom Mietspiegel oder der Mietpreisbremse begrenzt. Und zunehmend ist von
den Auswirkungen offenbar auch die medizinische Versorgung betroffen.
Andrea Diebel ist eine von sehr wenigen Neuropsychologinnen in Berlin –
laut eigener Aussage die einzige im Stadtteil Moabit. Ihre Praxis liegt
dort in der Oldenburger Straße 30 – noch jedenfalls.
Denn seit Diebels Einzug dort im April 2015 erhöhte der Vermieter die Miete
um 20 Prozent. Außerdem zog 2018 eine junge Familie in die Wohnung über der
Praxis, was den Praxisbetrieb in dem Altbau ohne Trittschalldämpfung
schwierig macht. Denn Diebel arbeitet viel mit Gesprächstherapie und
Konzentrationsübungen. Ihre PatientInnen sind etwa Menschen, die einen
Schlaganfall hinter sich haben und ihre Gehirne neu trainieren müssen.
Diebel bat die Hausverwaltung mehrfach um Unterstützung beim Umgang mit dem
Lärm. Nachdem auf diesem Wege nichts zu erreichen war, klagte sie im April
2021, um eine Schalldämpfung zu erwirken. Ihren Mietvertrag hatte die
Ärztin kurz zuvor fristgerecht verlängert. Dennoch kündigten ihr kurz
darauf, im Juni 2021, ihre VermieterInnen zum Dezember. Es habe einen
formellen Fehler bei der Verlängerung ihres Mietvertrags gegeben, so die
Begründung. Einen Fehler, der laut Diebel von den EigentümerInnen selbst
verschuldet wurde. Der Ausgang des Verfahrens sei ungewiss, teilt der
Anwalt der Ärztin auf taz-Anfrage mit.
Das Problem der Neuropsychologin ist ein grundlegendes: Arztpraxen können
um die immer teureren Gewerbeflächen in der Innenstadt zusehends genauso
wenig mit gewinnorientierten Unternehmen konkurrieren wie Kitas oder
soziale Einrichtungen. Vor allem für Praxen mit wenig Umsatz – etwa die
klassischen HausärztInnen – sind die hohen Mieten eine Belastung. Diebel
erklärt, ihre Recherche habe ergeben, dass sie für eine ähnliche Fläche in
der Umgebung den doppelten Preis zahlen würde, wenn sie nächstes Jahr
umziehen müsste.
Auch andere Praxen kämpfen mit den hohen Mieten. So wurde kürzlich der
Substitutionsambulanz in der Kochstraße gekündigt, weil der öffentliche
Träger die Gewerbemieteinheit zu „marktüblichen Preisen vermieten“ möcht…
sagte [1][Norbert Lyonn von der Substitutionsambulanz] der taz. Besonders
für Praxis-Neueröffnungen sind die immer weitersteigenden Gewerbemieten ein
Problem. Wer heute eine Praxis gründen möchte, hat es schwer, einen
bezahlbaren Raum zu finden. Dabei ist mit der seit 2011 stark angewachsenen
Anwohnerzahl nicht nur Wohnraum knapp, sondern auch ärztliche Versorgung:
Berlin braucht eigentlich mehr ÄrztInnen, und das nicht nur am Stadtrand.
Stefan Klein, Geschäftsführer der Kiezgewerbe UG, einer Initiative gegen
Gewerbeverdrängung in Kreuzberg, berichtet der taz von mindestens drei
Fällen in den vergangenen zwei Jahren, in denen Praxen und Apotheken
geschlossen wurden, weil aufgrund zu hoher Mieten keine BetreiberInnen mehr
gefunden wurden. Noch wenigstens acht ähnliche Fälle haben sich in den
vergangenen Wochen bei der taz gemeldet.
Der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Berlin, Burkhard
Ruppert, klagt, dass gerade in den Bezirken Marzahn, Lichtenberg und
Treptow immer weniger Hausärztinnen Fuß fassen könnten. Um einer
medizinischen Unterversorgung vorzubeugen, unterstützt die KV inzwischen
Neuniederlassungen von HausärztInnen in diesen Bezirken mit bis zu 60.000
Euro.
Ein großes Problem bei der Erfassung der Entwicklung ist, dass es keine
Daten zu Gewerbemieten gibt. Es ist also besonders schwer, hier
systematische Verdrängung festzustellen. Aus diesem Grund fordere die
Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK) schon lange ein
Gewerbemietenkataster, also eine Datenbank für Gewerbemieten, so
IHK-Pressesprecherin Claudia Engfeld. Weder gibt es einen Vergleich noch
eine Regelung. Die Gewerbemieten bleiben weiterhin von jeder
Mietpreisbremse ausgeschlossen, ihre Entwicklung nach oben ist damit offen.
Auch Kündigungsschutz genießen die Gewerbe kaum – für soziale Einrichtungen
oder eben ÄrztInnen-Praxen eine verheerende Regelung.
## Grüner Gesetzentwurf gescheitert
Canan Bayram, Bundestagsabgeordnete der Grünen mit Wahlkreis in
Friedrichshain-Kreuzberg, hatte bereits im Oktober 2020 einen
Gesetzesentwurf für ein neues Gewerbemietrecht im Bundestag vorgeschlagen.
Ihr Entwurf ist allerdings gescheitert. Die Hoffnung war damals eine neue
Koalition im Wahljahr 2021. Im Koalitionsvertrag der Ampel kommt das Wort
Gewerbemiete jedoch nicht einmal vor.
Was eine Unterversorgung mit ÄrztInnen-Praxen für Berlin bedeuten könnte,
macht die Pandemie deutlich. Seit Mai 2021 klagen HausärztInnen, dass sie
mit der zusätzlichen Belastung durch das Impfen überfordert seien. Viele
Patienten warteten wochenlang auf einen Termin. Die Grüne Canan Bayram sagt
auf taz-Anfrage: „Ich kämpfe dafür, dass wir in dieser Legislaturperiode
nach über hundert Jahren endlich ein Gewerbemietrecht in Deutschland
bekommen, das kleine Gewerbetreibende und soziale Träger schützt.“ Aber ob
ein so schwieriges Thema durchzubringen ist, wenn es im Koalitionsvertrag
nicht einmal vorkommt?
26 Dec 2021
## LINKS
[1] /Substitutionsambulanz-vor-dem-Aus/!5810565
## AUTOREN
Hanno Rehlinger
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