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# taz.de -- Geflüchtete in Libyen: Mit Milizengewalt gegen Flüchtende
> Libysche Sicherheitskräfte haben Tausende Menschen aus afrikanischen
> Ländern festgenommen. Viele waren erst seit Kurzem vom UNHCR anerkannt.
Bild: MigrantInnen an Bord eines Bootes von Ärzte ohne Grenzen vor der libysch…
Tunis taz | Bei mehreren Verhaftungsaktionen haben libysche
Sicherheitskräfte in den letzten Tagen mindestens 4.000 MigrantInnen
festgenommen. Die vom Innenministerium organisierte Kampagne begann am
Freitag mit einem unangekündigten Aufmarsch von mehreren hundert
Uniformierten in dem Tripolitaner Stadtteil Gargaresch. Unweit der von
Lagerhäusern und verwinkelten Wohnvierteln durchzogenen Gegend liegt ein 10
Kilometer langer Strandabschnitt, von dem Menschenhändler seit vielen
Jahren MigrantInnen und Flüchtlinge aus Subsahara-Afrika in Schlauchbooten
über das Mittelmeer nach [1][Lampedusa] oder Sizilien schicken.
Ein Mensch wurde bei den Razzien erschossen, mindestens 15 teils durch
Schüsse verletzt, so ein Sprecher des Innenministeriums. Die Mehrheit der
in Gargaresch lebenden Migrant:innen mieten zusammen mit Freunden
Wohnungen und arbeiten als Tagelöhner auf Baustellen, Autowaschanlagen oder
in Restaurants.
„Die Milizen haben aber zwischen den von Menschenhändlern entführten und in
Hallen festgehaltenen Menschen und denjenigen mit Wohnung, Arbeit und einer
UNHCR-Karte keinen Unterschied gemacht“, beschwert sich telefonisch Michael
aus Lagos, der seit einem Jahr in Gargaresch lebt.
Zusammen mit fünf anderen Nigerianern mietet Michael im 5. Stock eines
Mehrfamilienhauses eine Zweizimmerwohnung. Bei einem Überfahrtsversuch nach
Italien im Juli 2020 wurde die Gruppe von der libyschen Küstenwache
aufgegriffen, in den Hafen von Tripolis zurückgebracht und dann in das
Gefängnis Ain Zara gesteckt. „Dort haben uns Mitarbeiter der Vereinten
Nationen registriert und eine ID-Karte gegeben. Die Milizen in Tripolis
würden uns in Ruhe lassen, sagten sie.“
Sie konnten das Gefängnis verlassen und in eine Wohnung ziehen. Nun ist das
vorbei. Michael wurde von den Bewaffneten am Freitag aus seiner Wohnung
vertrieben und befindet sich nun nach eigenen Angaben im Abschiebezentrum
der Behörde gegen illegale Migration, die dem Innenministerium untersteht.
## Alltäglicher Terror der Milizen
Nach der Bombardierung eines Lagers für Migranten und Flüchtlinge während
des Krieges um Tripolis im Juli 2019 hatte das UN-Flüchtlingshilfswerk
UNHCR zusammen mit dem damaligen libyschen Innenminister Fathi Bashaga
beschlossen, die über ein Dutzend Lagern und Gefängnisse für Migranten zu
schließen. Mit einem Paket Grundnahrungsmittel, Seife, Handtücher und
umgerechnet 30 Euro wurden die Menschen in die Stadt entlassen. Seitdem
gehörten sie zum Straßenbild in Gargaresch, Jansour und anderen küstennahen
Stadtteilen der Zwei-Millionen-Einwohner-Metropole Tripolis.
Alltäglich blieb aber auch der Terror der ehemaligen Milizen, die nun in
modernen gepanzerten Mannschaftstransportern und Uniformen der
westlibyschen Armee operieren. Immer wieder nahmen diese Milizen Gruppen
von dunkelhäutigen Migranten willkürlich fest, auch vor den neuen
Großrazzien.
„Mehrmals haben mich auch Jugendgangs mit vorgehaltener Waffe auf dem
Nachhauseweg um meinen Lohn und mein Handy gebracht“, berichtet Michael der
taz am Telefon. „Ich habe jeden Tag erlebt, wie die Milizen, die Schmuggler
und Menschenhändler zusammenarbeiten.“
Bei einem Besuch im letzten Jahr hatte der 32-Jährige der taz in Gargaresch
die Stelle gezeigt, von der er vor zwei Jahren in einem Schlauchboot nach
Lampedusa abgelegt hatte. „Whisky Street“ stand auf einem handgemalten
Schild in der von Industriebetrieben und Import-Export-Geschäften
dominierten Straße. Hier herrschten Menschenhändler und Schmuggler des in
Libyen verbotenen Alkohols. Immer wieder hatten verschiedene revolutionäre
Milizen die im Mafia-Stil arbeitenden Gruppen vertreiben wollen. Aber
selbst Islamisten scheiterten bei ihrem Vorgehen gegen den Alkoholhandel an
den engen Straßen und den Familiennetzwerken in Gargaresch.
## Kein Zugang zu den Verhafteten
Ein Sprecher von Libyens [2][Premierminister Abdul Hamid Dbaiba] sagte am
Montag vor libyschen Journalisten, dass man die Mehrheit der verhafteten
Migranten zurück in ihre Heimatländer fliegen wolle. Dbaiba inspizierte
persönlich den Verlauf der Aktion in Gargaresch.
Doch da viele Migrantinnen ohne Reisedokumente nach Libyen gekommen sind,
dürfte die sogenannte „Repatriierung“ nur bei einer Minderheit gelingen.
Vorläufig sitzen die Menschen nun in den wiedereröffneten Gefangenenlagern.
Vertreter des UNHCR und der UN-Migrationsorganisation IOM zeigten sich über
das Vorgehen der libyschen Behörden beunruhigt. Sie haben bisher keinen
Zugang zu den Verhafteten und mahnen an, Repatriierungen müssten auf
Freiwilligkeit basieren und vom IOM durchgeführt werden.
Wenn die Häftlinge weiter festsitzen, dürften sie ihre Odyssee bald einfach
wieder von vorne beginnen. „Das beginnt mit dem Freikaufen aus der Haft,
indem man die Wächter mit umgerechnet rund 300 Euro besticht. Dann arbeitet
man drei Monate, bis man die 500 Euro für einen Platz auf einem Boot
zusammen hat. Oder man lässt sich von einem Taxifahrer an die
libysch-tunesische Grenze bringen“, berichtet die 32-jährige Queen.
Die Nigerianerin lebt mit ihrem in einem libyschen Krankenhaus geborenen
Sohn und ihrem Mann in der [3][tunesischen Hafenstadt Zarzis]. Mehrmals
erlebte sie Razzien und Verhaftungsaktionen durch Milizen, als sie zwei
Jahre lang in Gargaresch lebte.
## „Menschenhändler haben das Sagen“
Man lebe in der libyschen Hauptstadt in ständiger Angst, sagt sie. Nachdem
sie in der Grenzstadt Zuwara von maskierten Milizen der Stadtverwaltung aus
dem „Getto“ eines Menschenhändlers befreit wurde, floh sie nach Tunesien.
„Ich wollte nicht das Leben meines einjährigen Sohnes riskieren und ging
orientierungslos nachts zu Fuß durch das Niemandsland, bis ich auf eine
tunesische Armeepatrouille traf.“
Der libysche Menschenrechtsaktivist Ayoob Sufian aus der Stadt Zuwara fühlt
sich durch die aktuellen Zustände an 2015 erinnert, der Höhepunkt der
Flüchtlingskrise. „Auch wenn die Zahlen etwas geringer sind – die
[4][Menschenhändler haben in den westlibyschen Städten] wieder das Sagen“,
berichtet er. „In einigen Häfen tragen sie sogar die Uniformen der
Küstenwache und werden von der Dbaiba-Regierung bezahlt.“ Mehrmals in den
letzten Jahren hat Sufian mit Mitstreitern die Öffentlichkeit in Zuwara
gegen die privaten Gefängnisse und das Zusammenpferchen von über 100
Menschen auf Schlauchbooten mobilisieren wollen, doch ohne Erfolg.
Nun will der Bürgermeister von Zuwara ähnlich wie in Gargaresch vorgehen.
Ausländer, die sich bis Dienstag nicht mit Ausweispapieren bei den Behörden
melden, würden abgeschoben, steht auf der Facebook-Seite der
Stadtverwaltung. Vielen bleibt nichts weiter als die zurzeit recht günstige
Flucht über das Mittelmeer.
Seit Sonntag wird bereits ein von Zuwara losgefahrenes Schlauchboot mit 70
Passagieren vermisst. Viele Boote werden in den nächsten Tagen unentdeckt
verschwinden, fürchtet Ayoob Sufyan. Allein von den Stränden Zuwaras legten
am Sonntag zehn Boote ab.
4 Oct 2021
## LINKS
[1] /Fluechtlinge-auf-der-Insel-Lampedusa/!5766229
[2] /Friedensprozess-fuer-Libyen/!5780825
[3] /Gefluechtete-in-Tunesien/!5776534
[4] /Migration-nach-Europa/!5780315
## AUTOREN
Mirco Keilberth
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