| # taz.de -- Letzter Balkan-Besuch der Kanzlerin: Wehmütiger Abschied ins Ungew… | |
| > Die Perspektive des Westbalkans und die Ambitionen auf die EU drohen nach | |
| > der Ära Merkel aus dem Blick zu geraten. | |
| Bild: Hier noch in Belgrad: Angela Merkel auf dem Balkan | |
| Sarajevo taz | Mit gemischten Gefühlen schauen viele Menschen auf dem | |
| Balkan auf das Ende der Ära Angela Merkel. Denn die Bundeskanzlerin wurde | |
| in diesen letzten Jahrzehnten so etwas wie ein Anker für doch noch etwas | |
| Stabilität und Hoffnung angesehen. Was ohne sie wird, ist unklar, und damit | |
| wächst Unsicherheit vor allem bei jenen, die unter dem Krieg vor 30 Jahren | |
| am meisten gelitten haben. | |
| Die Stimmung in der Bevölkerung bei ihrem aktuellen Besuch spiegelt sich in | |
| dem von den Medien vieler Länder gezeichneten Bild, das bei aller Kritik | |
| auch von Respekt und Sympathie geprägt ist. Ihr positiver Ruf hängt damit | |
| zusammen, dass Merkel die Perspektive der Integration des Westbalkan in die | |
| EU nie aufgegeben hat, auch wenn es ihr nicht gelang, in diesem Punkt einen | |
| Durchbruch zu schaffen. | |
| Das feierliche Versprechen der Europäischen Union in [1][Thessaloniki] | |
| 2003, die Staaten des Westbalkans sollten kein weißer Fleck auf der | |
| Landkarte Europas bleiben, sondern könnten nach einem | |
| Demokratisierungsprozess und dem Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturen in | |
| die EU integriert werden, wurde nicht zuletzt von konservativen Strömungen | |
| in ganz Europa und einigen Mitgliedstaaten der EU selbst blockiert. | |
| Die Bevölkerungen des Balkans haben durchaus registriert, dass Merkel und | |
| die deutsche Politik immerhin versuchten, an dem alten Plan festzuhalten. | |
| In Erinnerung bleibt, dass es Merkel war, die 2010 die serbische Führung | |
| dazu zwang, einen Verhandlungsprozess mit dem 2007 für unabhängig erklärten | |
| Kosovo zu beginnen. Aber auch, dass der deutsche Einfluss nicht ausgereicht | |
| hat, in der EU eine gemeinsame Position zum Kosovo zu entwickeln: Nach wie | |
| vor erkennen die EU-Mitglieder Spanien, Griechenland, Zypern, die Slowakei | |
| und Rumänien das Land diplomatisch nicht an und verhindern sogar die | |
| Visafreiheit für die Bevölkerung des Kosovo. | |
| ## Fortschritte in Richtung EU | |
| Positiv wird in Erinnerung bleiben, dass Merkel und andere westliche Länder | |
| die demokratische Opposition in Mazedonien (heute Nordmazedonien) | |
| unterstützt haben. Unter dem Sozialdemokraten Zoran Zaev gelang es, das | |
| Land zu reformieren und alle Kriterien für die Aufnahme von | |
| Beitrittsverhandlungen mit der EU zu erfüllen. Auch in Albanien wurden | |
| große Fortschritte in Richtung Beitrittsverhandlungen gemacht. Merkel | |
| unterstützte deren Position in Brüssel, scheiterte jedoch bisher am | |
| Widerstand Frankreichs und anderen EU-Mitgliedstaaten. | |
| In Erinnerung bleiben wird auch, dass Merkel mit ihrem Nein zur Politik von | |
| US-Präsident Trump, der einen Gebietsaustausch zwischen Kosovo und Serbien | |
| vorgeschlagen hatte, 2019 die Unverletzlichkeit der Grenzen auf dem Balkan | |
| festgeschrieben hat. Diese Position hat sich in der EU durchgesetzt. Nicht | |
| zuletzt profitiert Bosnien und Herzegowina davon, denn die serbischen | |
| Nationalisten wollen den serbisch kontrollierten Landesteil Bosnien und | |
| Herzegowinas mit Serbien vereinigen. | |
| Mit dem [2][„Berliner Prozess“ von 2014] versuchte sie, Weichen für die | |
| Etablierung eines gemeinsamen Marktes der Westbalkanländer zu stellen. Doch | |
| die Erfolge dieser Politik sind bisher bescheiden. Bei dem am Dienstag | |
| erfolgten Besuch in Albanien traf die Bundeskanzlerin mit den | |
| Repräsentanten aller sechs Westbalkanstaaten zusammen, wobei dieses Thema | |
| sicherlich im Zentrum des Gesprächs gestanden ist. | |
| ## Unterschätzter Nationalstolz | |
| Merkel hat wie alle westlichen Politiker:innen über all die Jahre aber | |
| die Kraft des Nationalismus in der Region unterschätzt. Gleichzeitig wurde | |
| von westlicher Seite die Lage der Bürgerbewegungen, der demokratischen | |
| Oppositionen und Widerstandsbewegungen als wenig relevant abgetan. Auch | |
| Merkel hat nicht energisch genug auf Unterdrückung der freien | |
| Meinungsäußerung, auf die Verhaftung von Journalisten, auf die | |
| Unterdrückung oppositioneller Netzwerke, sexueller oder nationaler | |
| Minderheiten in Serbien und der gesamten Region reagiert. | |
| Viele Jahre hat der Westen geschlafen. Als Putins Russland begann, Serbien | |
| massiv – nicht nur politisch, sondern auch militärisch – zu unterstützen, | |
| gab es kaum Aufmerksamkeit. Russische Geheimdienste waren verwickelt in | |
| antiwestlichen Putschen in Mazedonien und Montenegro, sind aktiv in der | |
| bosnischen Teilrepublik Republika Srpska. Antiwestliche und rechtsradikale | |
| Strömungen werden sogar aus der EU, nämlich aus Ungarn, unterstützt. Die | |
| Türkei und China versuchen angesichts des politischen Vakuums ihre | |
| Positionen auf dem Balkan zu festigen. | |
| Dass Nationalisten, nicht nur in Serbien, langfristig ihre Ziele verfolgen, | |
| ist westlichen Gesprächspartnern oftmals entgangen. Wie in einem Brennglas | |
| ist dies vor allem in Bosnien und Herzegowina sichtbar. Die Verleugnung von | |
| Kriegsverbrechen, die Propagierung von Geschichtslügen, die aus Tätern | |
| Helden und aus Opfern Täter machen, wird von vielen westlichen Diplomaten | |
| und Politikern hingenommen. Die Unkenntnis der Geschichte, das kurze | |
| Gedächtnis gegenüber den Verbrechen zu Kriegszeiten, die Naivität und | |
| Gutgläubigkeit werden von nationalistischen Politikern gnadenlos | |
| ausgenützt, um mit Hilfe Serbiens und Kroatiens das Land territorial | |
| aufzuteilen. | |
| Es bleiben also gemischte Gefühle. Was wird also ohne die Kanzlerin werden, | |
| ist die bange Frage. Und das nicht nur in Sarajevo. Immerhin hat Merkel mit | |
| Christian Schmidt einen deutschen Politiker zum Hohen Repräsentanten in | |
| Bosnien und Herzegowina gemacht. Er ist angetreten, um mit Unterstützung | |
| Deutschlands, der USA, Großbritanniens, auch Frankreichs, Bosnien | |
| funktionsfähig zu machen. Wird er aber den Nationalisten wenn nötig hart | |
| entgegentreten? Welche Politik wird Berlin zukünftig verfolgen? Wie | |
| zuverlässig ist auch Joe Biden nach Afghanistan, einen Kurs, der auch | |
| Konflikte in sich birgt, zu unterstützen? | |
| 14 Sep 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Agenda_von_Thessaloniki | |
| [2] https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/westbalkan-gipfel-1939554 | |
| ## AUTOREN | |
| Erich Rathfelder | |
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