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# taz.de -- Bosnien und Herzegowina vor EU-Gipfel: Ruhe vor dem Sturm
> Serbische und kroatische nationalistische Politiker arbeiten eifrig an
> einer Auflösung des Staates. Bislang hat die EU darauf keine klaren
> Antworten.
Bild: Protest gegen die Regierung der bosnisch-serbischen Teilrepublik am letzt…
Sarajevo taz | Einen Steinwurf oberhalb der Kathedrale in Sarajevo hat
Adnan seinen Teeladen. „Franz und Sophie“ steht auf der Leuchtreklame. Der
Name erinnert an das Attentat von Sarajevo 1914, das den Ersten Weltkrieg
ausgelöst hat. Und hier zwischen dem Duft erlesener Teesorten aus aller
Welt und der immer mit netten jungen Leuten gefüllten Teestube fällt es
leicht, Gedanken schweifen und den Körper entspannen zu lassen. Doch jetzt
ist die Stimmung gedrückt.
Der Endvierziger Adnan war während des letzten Krieges 1991–95 als Kind und
Jugendlicher in Deutschland. Seine Familie musste fliehen, weil sie der
bosniakischen Bevölkerungsgruppe angehört. Er möchte nicht gerne an den
Krieg und die Flucht erinnert werden. Adnan zeigt es nicht, aber schon die
kleinste Krise in Bosnien ruft bei ihm ungute Gefühle hervor. Dass jetzt in
Serbien die Vereinigung der „Serbischen Welt“ (Srpski Svet) propagiert
wird, versetzt ihn in Unruhe.
Adnan ist ein ruhiger Mensch, er strahlt Souveränität aus. In all den
politischen Stürmen der vergangenen Jahre hat er immer Contenance bewahrt.
Doch er ist sensibel gegenüber allem, was nach Nationalismus riecht. Er
selbst hat eine junge Serbin aus der serbischen Teilrepublik angestellt,
lebt ein Leben in der Tradition der multinationalen Gesellschaft. Die
Rhetorik aber, die jetzt wieder benutzt wird, erinnert ihn an die
Vorkriegszeit 1991, als in Belgrad Großserbien proklamiert wurde. Das
heißt: die Vereinigung aller Serben in dem damals zerfallenden Jugoslawien
in einem Staat.
Großserbien sollte damals durch den Angriffskrieg gegenüber Kroatien und
dann ab 1992 in Bosnien erreicht werden. Die Verbrechen der ethnischen
Säuberungen und die dreieinhalb Jahre währende Belagerung Sarajevos waren
die Folge. Das Projekt Srpski Svet erinnert nicht nur ihn an die Politik
von damals und löst Ängste in Sarajevo aus.
## Neue Agressivität
Denn die Konflikte in Montenegro, wo die serbische orthodoxe Kirche im
Zusammenspiel mit Nationalisten Unruhe schürt, sowie [1][an der Grenze zu
Kosovo, wo kürzlich serbische Truppen zusammengezogen wurden und
Kampfflugzeuge die Grenzregion überflogen], sind auch für Mehmed Aličehajić
Anzeichen für eine neue Aggressivität Serbiens unter dem Autokraten
Alexandar Vućić.
Der 87-jährige Sozialdemokrat hat als Kind den Zweiten Weltkrieg miterlebt,
überlebte den Bombenhagel im letzten Krieg kaum 200 Meter von der Teestube
entfernt. Aličehajić ist ein freier Mensch, kritisiert nicht nur die
serbischen oder kroatischen Nationalisten, sondern auch die muslimische
Nationalpartei SDA und deren Führer Bakir Izetbegović.
Er hegt keinen Groll, ist immer für Versöhnung der Bevölkerungsgruppen
eingetreten. Doch was jetzt die serbische Führung unter Milorad Dodik im
serbischen Teilstaat Republika Srpska aufführt, macht ihm wie vielen in
Sarajevo schwer zu schaffen.
Denn Valentin Inzko, der Anfang August von dem Deutschen Christian Schmidt
als Hoher Repräsentant der internationalen Gemeinschaft in Bosnien und
Herzegowina abgelöst wurde, hatte am Ende seiner Amtszeit ein Gesetz
erlassen, das die Leugnung von Kriegsverbrechen wie den Genozid in
Srebrenica und die Verherrlichung von Kriegsverbrechern unter Strafe
stellt.
## Prozess der Versöhnung
Das Amt des Hohen Repräsentanten wurde mit den Verhandlungen in Dayton
(Ohio) 1995, das den bosnischen Krieg beendete, geschaffen und sollte die
Umsetzung des Abkommens überwachen. Der Hohe Repräsentant hat die Macht,
Gesetze zu erlassen, wenn die politischen Lager nicht in der Lage sind,
Kompromisse zu finden. Inzko wollte ein Zeichen gegen die nationalistischen
Ideologien setzen, die Verleugnung der Verbrechen, nicht nur die der
serbischen Seite. Das Gesetz sollte einen Prozess der Versöhnung einleiten.
Die Reaktion der Serben war harsch. Serbische Nationalisten wollen von
Versöhnung nichts wissen, für sie sind die von dem UN-Tribunal in Den Haag
verurteilten Kriegsverbrecher Helden. Jugendliche tragen T-Shirts mit ihrem
Konterfei. Würden sie die Verbrechen zugeben, wäre die Existenz des
serbischen Teilstaates in Frage gestellt.
Auf dem Gebiet des serbischen Teilstaates lebten vor dem Krieg zur Hälfte
Nichtserben, die militärische Okkupation der Region und die Politik der
ethnischen Säuberungen machte erst die Gründung des Teilstaates möglich.
Folglich zogen die Serben alle Mitarbeiter aus den Institutionen des
Gesamtstaates zurück, auch die Parlamentarier.
Sie fordern, unterstützt von Russland und China, die Abschaffung des Amtes
des Hohen Repräsentanten und des Obersten Gerichtshofes. Milorad Dodik
kündigte, ermutigt durch diese Strategie, Srpski Svet an, das heißt, die
serbischen Einheiten aus der gemeinsamen Armee des Landes zurückzuziehen
und eine eigene Armee der Republika Srpska aufzubauen.
## Militärische Ausbildung
Eine eigene Armee? Will er die Abspaltung der Republika Srpska, die er
fordert, mit Waffengewalt durchsetzen? Schon seit Jahren sind russische
Militärs dabei, serbische Polizisten unter dem Deckmantel des
Antiterrorkampfs militärisch auszubilden. Was von der Nato nicht
unbeobachtet blieb. Während eines Manövers im Sommer dieses Jahres zogen
amerikanische Einheiten durch Banja Luka, die Hauptstadt der serbischen
Teilrepublik.
Auch kroatische Nationalisten arbeiten an der weiteren Destabilisierung des
Landes. Dragan Čović, Vorsitzender der kroatischen Nationalistenpartei HDZ,
beklagt lautstark die Unterdrückung der Kroaten durch die Bosniaken im
anderen Teilstaat, der kroatisch-bosniakischen Föderation.
In Wirklichkeit aber sind Kroaten im Land privilegiert, sie besetzen
unverhältnismäßig viele Stellen im Gesamtstaat und der Föderation. Jeder
bosnische Kroate hat das Recht, einen kroatischen Pass zu erhalten, ist
damit Teil der EU und kann als EU-Bürger alle Vorteile nutzen.
Čović fordert ein Wahlgesetz zugunsten seiner Nationalistenpartei. Und last
but not least: Der kroatische Staatspräsident Zoran Milanović erklärte sich
zum Staatspräsidenten aller Kroaten, also auch der bosnischen Kroaten.
Diese haben kein Interesse an der EU-Integration Bosnien und Herzegowinas.
## Bosnien als Seismograf
Bosnien ist der Seismograf für die Entwicklung auf dem Balkan. Natürlich
weiß man das in Brüssel und Berlin. Man weiß, dass Russland alles
daransetzt, eine weitere Ausdehnung der EU und vor allem der Nato zu
verhindern und die nationalistischen Kräfte nicht nur in der serbischen
Welt, sondern auch in Nordmazedonien und Kroatien zu unterstützen.
Und das sogar mit Hilfe aus der EU, so des ungarischen Regierungschefs
Viktor Orbán. Es ist zu befürchten, dass die an diesem Dienstag in
Slowenien beginnende Balkankonferenz in ihren Erklärungen im Vagen bleibt
und die Gefahren, die sich auf dem Balkan entwickeln, herunterspielt.
Ein Zeichen dafür sind [2][die kürzlichen Besuche von Angela Merkel] und
Ursula von der Leyen in der Region. Beide ließen erkennen, dass sie den
serbischen Staatspräsidenten Alexandar Vućić als einen verlässlichen
Partner ansehen.
Politiker der demokratischen Opposition sehen diese Appeasementpolitik mit
Sorge. Denn sie ähnelt dem Verhalten der internationalen Gemeinschaft vor
dem Krieg der 90er-Jahre, als die internationale Diplomatie den serbischen
Präsidenten Slobodan Milošević hofierte. Auch die wenigen Oppositionellen,
die sich in dem diktatorischen System, das Vućić aufgebaut hat, in Serbien
noch zu Wort melden können, sind darüber entsetzt.
## Protest in Banja Luka
Immerhin formieren sich langsam in allen Teilen des Balkans wieder
bürgerrechtliche und demokratische Bewegungen, die diese nationalistischen
und korrupten Kleptokratien nicht mehr dulden wollen. Widerstand regt sich
auch bei den Bürgermeistern. Am Wochenende demonstrierten Tausende unter
dem Bürgermeister Draško Stanivuković in Banja Luka gegen die Korruption
von Dodik und dessen Partei.
In den vornehmlich von Bosniaken bewohnten Gebieten und in den großen
Städten Bosniens ist die muslimische Nationalpartei SDA auf dem Rückzug,
Sozialdemokraten und neue, nicht nationalistische Parteien geben den Ton an
– auch in Sarajevo. In der kroatischen Hauptstadt Zagreb gewann ein
linksgrüner Aktivist, Tomislav Tomašević, im Mai die Bürgermeisterwahlen
mit 68 Prozent der Stimmen.
Für Adnan und Mehmed sind das Zeichen der Hoffnung. Sein grüner Tee
schmeckt bei diesem Gedanken allen noch etwas besser.
6 Oct 2021
## LINKS
[1] /Von-der-Leyen-auf-Rundreise-im-Balkan/!5805004
[2] /Kanzlerin-Merkels-Balkanreise/!5797362
## AUTOREN
Erich Rathfelder
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