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# taz.de -- Lina E. vor Gericht: Der starke Staat will es wissen
> Es wird der bedeutendste Prozess gegen Autonome seit Jahren: Ab Mittwoch
> stehen die Leipzigerin Lina E. und drei Mitangeklagte vor Gericht.
Bild: Zwei Tage nach der Verhaftung: Spezialkräfte rücken nach linker Protest…
Es ist eine Verfolgungsjagd, die sich der silberne VW Golf in der Nacht zum
14.Dezember 2019 mit der Polizei liefert. Mehrere Einsatzwagen jagen in
Eisenach dem Fahrzeug mit den gestohlenen Kennzeichen hinterher, Richtung
Autobahn. Noch im Stadtgebiet stoppen es die Beamten schließlich. Auf einem
der Sitze: Lina E. Und auf der Rückbank noch die Originalkennzeichen des
Golfs, zugelassen auf E.s Mutter.
Kurz zuvor, gegen 3.15 Uhr, sollen acht Vermummte in Eisenach dem Neonazi
Leon R. aufgelauert haben, nachdem der von seiner Szenekneipe Bull’s Eye
von drei Bekannten nach Hause gefahren wurde. Laut den Ermittlern hält Leon
R. die Angreifer mit einem Messer und Pfefferspray auf Abstand. Die
attackieren daraufhin seine Begleiter in deren Auto, zertrümmern mit
Stangen und einem Hammer die Scheiben, prügeln auf die Insassen ein. Dann
rasen sie in zwei Autos davon, einer davon ist der VW Golf. Der zweite
Wagen schafft es bis ins nahe Hessen, dann wird auch er gestoppt.
Es ist diese Nacht, in der die Polizei plötzlich eine Spur hat. Seit
Monaten kommt es in Leipzig zu Angriffen auf Rechtsextreme, Polizeireviere
oder Baustellen von Neubauprojekten. Eine eigens vom LKA Sachsen gegründete
Soko Linx ermittelt dazu – ohne Erfolg. Nun aber wird in Eisenach die
Gruppe aus Leipziger und Berliner Autonomen gefasst, unter ihnen Lina E.
Und die Ermittler stellen fest: Die Studentin wurde erst einen Tag zuvor in
einem Leipziger Baumarkt erwischt, als sie versuchte, zwei Hämmer zu
klauen.
Für die Soko Linx geht die Arbeit nun richtig los. Am Ende wird die
Bundesanwaltschaft den Fall übernehmen und Lina E. sechs schwere Angriffe
auf Rechtsextreme vorwerfen sowie die Bildung einer kriminellen
Vereinigung, der sie als „Kommandogeberin“ vorgestanden haben soll. Am 5.
November 2020 wird Lina E. [1][unter großem Medienrummel] festgenommen. Mit
einem Helikopter wird sie zum Haftrichter nach Karlsruhe geflogen, ihr Bild
landet in den Boulevardmedien.
Ab Mittwoch nun wird Lina E. vor dem Oberlandesgericht Dresden stehen,
zusammen mit drei Mitangeklagten. Getragen von einer „militanten
linksextremistischen Ideologie“ hätten sie als kriminelle Vereinigung ab
August 2018 das Ziel gehabt, Rechtsextreme „planvoll anzugreifen“, heißt es
in der Anklage. Die insgesamt 13 Opfer hätten dabei teils lebensbedrohliche
Verletzungen erlitten. Drei von ihnen werden als Nebenkläger mit im Saal
sitzen.
[2][Der Prozess] ist schon jetzt politisch aufgeladen. Es ist lange her,
dass die Bundesanwaltschaft so gegen Autonome durchgegriffen hat, zuletzt
klagte sie 2008 die „militante gruppe“ aus Berlin an. In jüngster Zeit
warnten die Sicherheitsbehörden nun erneut vor einer Radikalisierung der
linken Szene, vor einer Abkoppelung klandestiner Gruppen – die
vermeintliche Gruppe um Lina E. dient ihnen als Beleg.
Auf der anderen Seite organisiert die linke Szene eine Solidaritätskampagne
für Lina E. und die anderen, wie es sie ebenfalls lange nicht gab. „Free
Lina“ hieß es auf Demonstrationen, Graffitis oder Stoffbeuteln. Auch zu
Prozessbeginn soll es eine Kundgebung vor dem Gericht geben.
Lina E. wird dann das erste Mal nach ihrer Verhaftung in die Öffentlichkeit
treten. Inhaftiert ist sie in der JVA Chemnitz, wo auch Beate Zschäpe
einsitzt. Zu den Vorwürfen hat sich die 26-Jährige bisher nicht geäußert.
Und sie wird es laut ihren Anwälten auch im Prozess vorerst nicht tun.
[3][Doch die Vorwürfe sind massiv.] Schon Anfang August 2018 soll Lina E.
den Wurzener Neonazi Cedric S. ausgespäht haben, der sich 2016 an einem
Überfall von 250 Rechtsextremen auf den Leipziger Alternativstadtteil
Connewitz beteiligte. Aus einem Auto heraus soll die Studentin Fotos vom
Fußballplatz gemacht haben, auf dem S. trainierte. Mehrere Monate später
überfielen fünf Vermummte den Rechtsextremen, schlugen auf ihn ein, auch
mit einem Schlagstock. Er soll mehrere Risswunden am Kopf und Knochenbrüche
erlitten haben.
Dann soll Lina E. noch beteiligt gewesen sein an einem Angriff auf einen
früheren NPD-Mann und einen Kanalarbeiter, der eine Mütze mit
rechtsextremem Logo trug.
Im Oktober 2019 folgte dann der erste Angriff auf Leon R. und sein „Bull’s
Eye“ in Eisenach. Bis zu 15 Vermummte sollen nach Mitternacht das Lokal
gestürmt und auf die Anwesenden eingeprügelt haben, auch mit Schlagstöcken.
Lina E. habe wieder mit Pfefferspray gesprüht und Kommandos gegeben. Zwei
Monate später erfolgte dann der zweite Überfall auf Leon R. – bei dem die
Polizei das Auto mit Lina E. stoppte.
Dennoch soll sie sich im Februar 2020 an einem weiteren Angriff auf eine
sechsköpfige Gruppe Neonazis beteiligt haben, die sich auf dem Heimweg von
einem Szeneaufmarsch in Dresden befand. Lina E. habe sie in der
Regionalbahn beobachtet und deren Standort an ihre Mittäter
durchtelefoniert. Die seien mit E.s Auto nach Wurzen gefahren und hätten
dort den Neonazis aufgelauert und sie verprügelt.
Im Juni 2020 sollen die Autonomen dann die Wohnung des Leipziger Neonazis
Brian E. ausgespäht haben, Lina E. habe dabei eine rote Perücke getragen.
Den Angriff aber verhinderte die Polizei, die Gruppe wurde da längst
observiert. Lina E. wurde kurz darauf das erste Mal festgenommen, fünf Tage
später aber wieder entlassen – bis zur erneuten Festnahme im November.
Die Frage ist nun: Lassen sich all diese Taten wirklich Lina E.
zuschreiben?
Ihre Anwälte bestreiten das. „Die Beweise sind teils sehr, sehr dünn“, sa…
einer von ihnen, Ulrich von Klinggräff. „Vieles sind einfach Ketten von
Mutmaßungen.“ Dass die Bundesanwaltschaft den Fall übernommen habe und so
hoch hänge, sei „völlig überzogen“. „Hier findet eine beispiellose
Vorverurteilung statt.“
Tatsächlich ist das Vorstrafenregister von Lina E. bisher leer.
Aufgewachsen in Kassel, machte sie dort ihr Abitur. Sie studierte
Erziehungswissenschaft in Halle, zog 2018 nach Connewitz, schrieb ihre
Bachelorarbeit zum Umgang mit Rechtsextremen in der Jugendarbeit, am
Beispiel des Jenaer NSU-Trios. Dann begann sie ein Masterstudium, ging
regelmäßig klettern, hielt engen Kontakt zu ihrer Familie.
Beschreiben Bekannte Lina E., lässt sich das Bild kaum mit den Vorwürfen
der Bundesanwaltschaft in Einklang bringen. Lebensfroh und offen sei sie
gewesen, habe die Fantasyreihe „Herr der Ringe“ gemocht und
Sozialarbeiterin werden wollen, werden Freunde in der Leipziger
Volkszeitung oder Zeit zitiert. Und ja, sie sei auf Demos gegangen, der
NSU-Mord in Kassel habe sie wohl politisiert. Aber radikale Töne und
brutale Übergriffe? Nichts davon habe man bemerkt.
Die Ermittler zeichnen ein anderes Bild. Sie verweisen auf ihren Verlobten
Johann G., der wegen linker Straftaten vorbestraft ist, sich auch jetzt an
den Übergriffen beteiligt haben soll und seit über einem Jahr untergetaucht
ist. Sie verweisen auf einen gefälschten Ausweis von Lina E., der in ihrer
Wohnung gefunden wurde. Auf die gestohlenen Pkw-Kennzeichen. Und auf eine
Vielzahl an Handys, Perücken und Brillen, mit denen sie angeblich immer
wieder ihre Identität verschleiert habe.
Die Soko Linx betrieb einigen Aufwand gegen Lina E. und die anderen. Sie
verwanzten Autos und hörten dort Gespräche ab, observierten die Gruppe,
werteten Blitzerfotos aus. Die Beweislage bleibt dennoch durchwachsen. Bei
der Eisenacher Festnahme saß sie im Golf – aber gehörte sie auch zu den
Angreifern in der Kneipe? Und reicht es, dass in einem Fall ihre
Anwesenheit am Tatort damit begründet wird, dass ihr Verlobter vor Ort
gewesen sei?
Verteidiger Ulrich von Klinggräff hält all das für bloße Vermutungen.
„Unser Eindruck ist: Immer, wenn Zeugen eine Frau unter den Tätern
behaupteten, soll es Lina E. gewesen sein. Das darf und kann nicht für eine
Verurteilung reichen.“
In der linken Szene sieht man das genauso. Die Ermittlungen und der Prozess
seien „klar politisch motiviert“, heißt es in einer Erklärung des
Solidaritätsbündnisses Antifa Ost. Die Behörden wollten ihr
„linkenfeindliches Programm durchsetzen“, statt gegen Rechtsextreme zu
ermitteln. Die Rote Hilfe nennt den Prozess „einen neuen Höhepunkt des
wahnwitzigen staatlichen Kriminalisierungseifers“.
Auch Lina E.s Mutter trat auf einer Kundgebung in Leipzig auf, bedankte
sich für die Solidarität. „Lina ist mutig und stark“, sagte sie dort.
„Lasst euch nicht einschüchtern, bleibt aufrecht.“
Tatsächlich holt die Bundesanwaltschaft mit ihrem Vorwurf einer
linksextremen kriminellen Vereinigung nach Paragraf 129 des
Strafgesetzbuchs weit aus. Seit 2015 gab es in Sachsen vier solcher
Ermittlungsverfahren, gegen Linke und Fußball-Ultras. Gegen die Szene
ermöglichte das tiefgreifende Ermittlungen, für eine Anklage indes reichte
es nie. Diesmal reicht es.
Ob es eine feste Gruppe um Lina E. gab, wird der Prozess klären müssen. Die
Verteidiger bestreiten auch das. Mitangeklagt sind mit Lennart A., Jannis
R. und Philipp M. zwei Leipziger und ein Berliner, 26 bis 36 Jahre alt,
teils vorbestraft, aktuell auf freiem Fuß. Alle drei werden von den
Behörden der militanten linken Szene zugerechnet. Zudem wird gegen fünf
weitere Beschuldigte noch ermittelt.
Auch in Ermittlerkreisen räumt man ein, dass es eine klassische Vereinigung
mit festen Ämtern nicht gab. Wohl aber Rollenverteilungen: Wer späht aus,
wer besorgt Aktionstelefone, wer schlägt am Ende zu. Lina E. habe dies
angeblich koordiniert, mit über die Opfer entschieden, bei Angriffen teils
das Kommando geführt.
Verteidiger von Klinggräff hält auch das für reine Mutmaßungen. „Hinweise
auf eine Gründung oder Struktur dieser Gruppe finden wir in den Akten
nicht.“ Im Prozess ist damit eine langwierige Beweisaufnahme zu erwarten.
Schon jetzt hat das Gericht Termine bis März 2022 angesetzt. Die linke
Szene mobilisiert derweil bundesweit zu einer Solidaritätsdemonstration am
18. September in Leipzig. Ihr Slogan: „Wir sind alle Linx.“
7 Sep 2021
## LINKS
[1] /Medien-ueber-Linksextremismus/!5798566
[2] /Anklage-gegen-Autonome-zugelasssen/!5793371
[3] /Anklage-gegen-Lina-E/!5771521
## AUTOREN
Konrad Litschko
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