# taz.de -- Prozess gegen Linksradikale in Dresden: Applaus für Lina E. | |
> Der Prozess gegen Lina E. und drei Mitangeklagte beginnt, sie sollen | |
> Nazis überfallen haben. Die Anwälte liefern sich Wortgefechte mit dem | |
> Richter. | |
Bild: Lina E. zum Prozessauftakt am Oberlandesgericht Dresden | |
DRESDEN taz | Da steht sie nun. Umringt von Polizisten wird Lina E. am | |
Mittwochmorgen in den Saal des Oberlandesgerichts Dresden geführt, ihr | |
Gesicht verbirgt sie hinter einem blauen Hefter. Im Publikum brandet | |
Applaus auf, einige drängen sich hinter der Sicherheitsscheibe zum | |
Verhandlungssaal, auch ihre Mutter. Ein Heldinnenempfang. Als die | |
Fotograf:innen abziehen, lächelt Lina E., winkt, Nervosität ist ihr | |
nicht anzumerken. Ihre Mutter nickt zurück, den Tränen nah. | |
Es ist der erste öffentliche Auftritt von Lina E. seit ihrer Verhaftung im | |
November 2020. Und die 26-Jährige hätte allen Grund zur Nervosität. Mit | |
einem Hubschrauber wurde sie damals zum Haftrichter nach Karlsruhe | |
geflogen. Seitdem ist die 26-Jährige [1][eine Symbolfigur.] Die | |
Bundesanwaltschaft sieht in ihr das Gesicht einer radikalisierten, linken | |
Gewalt. Boulevardmedien titulierten sie als „Chaotin im Minirock“ und „ro… | |
Rächerin“. Die linke Szene hält sie dagegen für eine unschuldig Verfolgte | |
und organisiert seit Monaten eine Solidaritätskampagne. | |
Ab diesem Mittwoch nun wird das Oberlandesgericht klären, was davon stimmt. | |
Der formelle Vorwurf: Lina E. habe eine kriminelle, linksextreme | |
Vereinigung angeführt, die sechs schwere Angriffe auf Rechtsextreme | |
verübte. Es ist [2][die heftigste Anklage der Bundesanwaltschaft] gegen | |
eine autonome Gruppe seit Jahren. | |
Dass dies kein normaler Prozess ist, zeigt sich auch zum Prozessauftakt. | |
Weiträumig hat die Polizei das Gericht umstellt, ein Hubschrauber kreist am | |
Himmel. Abgefilmt werden rund 100 Linke, die sich zu einer Kundgebung vor | |
dem Gericht sammeln und „Free Lina“-Banner aufspannen. Eine Rednerin | |
verliest eine Grußbotschaft der Mutter von Lina E. „Ich bin zornig und | |
erschüttert über die Kriminalisierung meiner Tochter und wie sie zur | |
Terroristin stilisiert wird“, wird sie zitiert. Die Unschuldsvermutung | |
gelte für Lina nicht, es solle ein Exempel statuiert werden: „Wer sich in | |
Deutschland gegen Nazis organisiert, wird mit aller Härte verfolgt und | |
bestraft.“ | |
## Ein Hubschrauber kreist am Himmel | |
Im Saal will sich die Mutter nicht weiter äußern, angespannt verfolgt sie | |
die Verhandlung. Mit Lina E. betreten drei Männer den Saal, die ebenfalls | |
Applaus erhalten: Lennart A., Jannis R. und Philipp M., zwei Leipziger und | |
ein Berliner, 26 bis 36 Jahre alt, teils vorbestraft, aktuell auf freiem | |
Fuß. Auch sie sollen Teil der Überfallkommandos gewesen sein, die Behörden | |
rechnen sie der militanten linken Szene zu. Sie verbergen ihre Gesichter | |
teils hinter linken Szenezeitschriften. Zuhörer:innen kommen in Pausen | |
zum Plaudern zum Sicherheitsglas. „Wenn du mich fragst, bist du | |
unschuldig“, ruft einer Philipp M. zu. | |
Ihnen gegenüber sitzen zwei einschlägige Anwälte, die vier der | |
angegriffenen Neonazis vertreten, die als Nebenkläger am Prozess | |
teilnehmen: Frank Hannig, der zuletzt den Lübcke-Mörder Stephan Ernst | |
vertrat, und Martin Kohlmann, der 2018 die rechten Unruhen in Chemnitz mit | |
anheizte. Er wolle „den Hauch eines Gleichgewichts herstellen“, verkündet | |
Kohlmann. Seien doch einige der Verletzten „nur mit Glück mit dem Leben | |
davongekommen“. | |
Das freilich bleibt im Prozess zu klären. Noch vor der Anklageverlesung | |
aber kommt es zu Scharmützeln. Die Verteidiger wollen „unaufschiebbare“ | |
Anträge stellen, weil sie die Akten für unvollständig halten oder ihre | |
Arbeit behindert werde. Richter Hans Schlüter-Staats will das | |
zurückstellen, es kommt zu Wortgefechten und einem Befangenheitsantrag. | |
Ulrich von Klinggräff, Anwalt von Lina E., beklagt eine „Gängelung, die ich | |
so noch nicht erlebt habe“. Das Gericht wolle „auf Teufel komm raus | |
voranpreschen“. | |
Dann taucht auf Twitter auch noch ein Foto aus dem Gerichtssaal auf, | |
verbreitet von dem Berliner Neonazi Sebastian Schmidtke. Die Anwälte von | |
Lina E. beschuldigen Nebenklageanwalt Kohlmann, sprechen von einem Skandal | |
und einer erneuten Verletzung der Persönlichkeitsrechte ihrer Mandantin. | |
Richter Schlüter-Staats erwidert, er habe den Betroffenen schon ermahnt. | |
Kohlmann darf weiter mitverhandeln. | |
## Vermummt und mit Schlagstöcken? | |
Und dann kann die Bundesanwaltschaft doch noch ihre Anklage vortragen, gut | |
eine Stunde dauert es. Lina E. liest auf einem Ausdruck konzentriert mit. | |
Ab August 2018 habe sie sich demnach mit anderen zu einer Gruppe | |
zusammengetan, um Rechtsextreme in Leipzig, Wurzen und Eisenach zu | |
überfallen. Vermummt und mit Schlagstöcken sollen diese den früheren | |
NPD-Mann Enrico B., den Kampfsportler Cedric S., einen Kanalarbeiter, der | |
eine rechtsextreme Mütze trug, und eine Gruppe Neonazis, die gerade von | |
einem Aufmarsch in Dresden kamen, verprügelt haben. | |
In Eisenach hätten sie die Szenekneipe „Bull's Eye“ samt Gästen | |
angegriffen, später noch einmal den Betreiber Leon R. und drei Bekannte. | |
Lina E. habe hierbei eine „herausgehobene Stellung“ innegehabt, teils das | |
Kommando geführt und einige Opfer zuvor ausgespäht, so die | |
Bundesanwaltschaft. Die Angegriffen seien teils lebensbedrohlich verletzt | |
worden. | |
Es war der zweite Angriff in Eisenach, im Dezember 2019, der die Ermittler | |
auf die Spur von Lina E. brachte. Damals stoppte die Polizei sie in einem | |
VW Golf, der vom Tatort flüchtete. In einem zweiten Wagen fasste sie | |
weitere Autonome. In der Folge observierten Ermittler die Gruppe, | |
verwanzten ein Auto – und erhoben die Anklage. | |
Auch Richter Schlüter-Staats spricht von „gravierenden“ Vorwürfen, die | |
nicht so harmlos seien, wie es teils im Vorfeld dargestellt wurde. Die | |
Verteidiger ziehen diese dagegen unisono in Zweifel. Die Ermittlungen seien | |
„politisch geleitet“, gerade von der in Sachsen eigens gegründeten Soko | |
Linx. Die Bundesanwaltschaft sei für den Fall überhaupt nicht zuständig, da | |
die Taten nicht so schwer seien, dass sie den gesamten Staat bedrohten. | |
## „Beispiellose Vorverurteilung“ | |
Für die Tatbeteiligungen der Angeklagten gebe es statt Beweisen teils nur | |
Mutmaßungen, warum die Angeklagten die vermummten Angreifer gewesen seien. | |
Belege für eine feste Gruppe fehlten gar gänzlich – es gebe keinen Namen, | |
keine Kommunikation, keinen Treffort, niemand kenne die Gruppe. | |
Von Klinggräff kritisiert zudem eine „beispiellose Vorverurteilung“, gerade | |
von Lina E., die kein faires Verfahren erwarten lasse. Undine Weyers, | |
Anwältin von Philipp M., fasst zusammen: „Dieses Verfahren ist ein | |
Experiment: Wie weit kann man gehen?“ | |
Richter Schlüter-Staats spricht von „interessante Rechtsfragen“. Das LKA | |
und die Soko Linx nimmt er in Schutz, kritisiert „unbewiesene Vorwürfe“. | |
Die Verteidiger ermahnt er, keine „Nebenkriegsschauplätze“ zu eröffnen. D… | |
Angeklagten sagt Schlüter-Staats dafür ein faires Verfahren zu. „Das kann | |
ich Ihnen versichern.“ | |
Lina E. lauscht all dem aufmerksam. Was ihre Rolle bei den Vorwürfen war, | |
wird die zentrale Frage des Prozesses. War sie tatsächlich an allen | |
Angriffen beteiligt? Gar eine Gruppenanführerin? | |
## Freundlich, aber schweigsam | |
Tatsächlich ist Lina E. bisher nicht vorbestraft. Für das Studium der | |
Erziehungswissenschaften zog sie nach Leipzig, schrieb ihre Bachelorarbeit | |
über den Umgang mit Rechtsextremen in der Jugendarbeit, am Beispiel des | |
NSU-Trios. Freunde schildern sie nicht als radikal, auch im Gericht wirkt | |
sie nicht so, antwortet freundlich auf die Fragen des Richters nach ihren | |
Personalien. Zu den Vorwürfen aber schweigt sie – ebenso wie die anderen | |
Angeklagten. | |
Die Ermittler aber sehen ein zweites, konspiratives Leben, verweisen auf | |
einen gefälschten Ausweis, eine Vielzahl Handys und Perücken, die bei ihr | |
gefunden wurden, auf einen Diebstahl von zwei Hämmern aus einem Baumarkt. | |
Und auf ihren Verlobten Johann G., vorbestraft wegen linker Straftaten und | |
derzeit untergetaucht, der sie womöglich radikalisiert habe. | |
Für die VerteidigerInnen sind all das „bloße Mutmaßungen“, über die | |
Tatbeteiligungen sage dies noch nichts. Der Prozess muss nun Tat für Tat | |
die Beweislage klären. Schon jetzt hat das Gericht Termine bis März 2022 | |
anberaumt. | |
8 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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