# taz.de -- Außerparlamentarischer Protest: Wahlkampf von der Straße | |
> Die Wochen bis zum 26. September wollen außerparlamentarische Akteure | |
> für ihre politischen Anliegen nutzen. Doch wie viel Einfluss können sie | |
> nehmen? | |
Bild: Aktivist:innen blockieren am 5.6.2021 eine Baustelle zur Verlängerung de… | |
Berlin taz | Über welche zukunftsweisenden Themen wird in diesem Wahlkampf | |
eigentlich gestritten? Auf Bundesebene hat bislang nichts so viel | |
Aufmerksamkeit erregt wie geklaute Textstellen in Büchern von | |
Politiker:innen. Auf Berliner Landesebene hat der Berufswunsch | |
[1][„Indianerhäuptling“] die Gemüter erhitzt, ebenso ein ergaunerter | |
Doktortitel. Die Frage nach einem sozialökologischen Umbau der Stadt | |
verkürzt sich auf das Schlagwort „Bullerbü“. Auf Zehntausenden Plakaten | |
grinsen gestylte Politiker:innen. Und eigentlich will man, dass dieses | |
Schauspiel bald zu Ende geht. | |
Doch es gibt auch Anlass zur Zuversicht. Denn die Wahlkampfzeit gehört | |
nicht allein den Parteien, sie ist auch ein Möglichkeitsfenster für | |
außerparlamentarische Akteure und ihre politischen Anliegen. Der Kampagne | |
Deutsche Wohnen & Co enteignen, die ihrem Volksentscheid entgegen fiebert, | |
ist dabei die Aufmerksamkeit gewiss. All die anderen Gruppen und | |
Organisationen jedoch müssen in diesen Zeiten der boulevardesken | |
Verhandlung politischer Sachverhalte darum ringen, mit ihren Inhalten | |
durchzudringen. Viele werden es versuchen. Und so wird Berlin bis zu den | |
Wahlen am 26. September ein Feuerwerk an Protesten und Großdemonstrationen | |
erleben, wie selten zuvor. | |
Den Auftakt macht eine Klimaaktionswoche von Extinction Rebellion; es | |
folgen die Umverteilungsaktivist:innen von Wer hat der gibt. In den | |
Wochen darauf ziehen Unteilbar, das Mietenwahnsinn-Bündnis, und Fridays for | |
Future durch die Stadt. Sie alle eint die Hoffnung, in diesen Wahlkampf | |
noch intervenieren zu können, Wähler:innen für ihre Belange zu | |
sensibilisieren, Politiker:innen zu Antworten zu drängen. | |
Und obwohl sie um knappe Aufmerksamkeitsressourcen konkurrieren, stehen sie | |
nicht gegeneinander, sondern folgen geradezu einer gemeinsamen | |
Choreografie, samt gegenseitiger Unterstützung. | |
## So viele Demos wie nie zuvor | |
5.857 Demonstrationen und Kundgebungen wurden 2020 in Berlin gezählt, so | |
viele wie nie zuvor; dieses Jahr hat die Schlagzahl nicht nachgelassen. | |
Doch Großveranstaltungen, die Zehntausende anlocken – und es bis in die | |
„Tagesschau“ schaffen, bleiben die Ausnahme. Aufmerksamkeit generierte | |
zuletzt auch eher „Querdenken“ als progressive Bewegungen. In den kommenden | |
Wochen dürfte das anders werden. Klima, Mieten, soziale Gerechtigkeit sind | |
die Themen, die auf die politische Bildfläche drängen – mit unterschiedlich | |
guten Ausgangsbedingungen. | |
Nach Simon Teune, [2][Protestforscher vom Institut für transformative | |
Nachhaltigkeitsforschung], können außerparlamentarische Akteure vor allem | |
Akzente in Debatten setzen und ihre Deutungen einbringen, wenn Themen | |
bereits im öffentlichen Raum verhandelt werden. „Selbst Themen zu setzen | |
ist schwer.“ | |
Angesichts des unausweichlichen Problematik des Klimawandels, gerade in | |
diesem Sommer der Extremwetterphänomene, dürften Extinction Rebellion und | |
Fridays for Future am ehesten eine breite Wahrnehmung erlangen. Für die | |
Mietenaktivst:innen, die etwa einen bundesweiten Mietendeckel fordern oder | |
jene Akteure, die systemrelevante Beschäftigte stärken und Reiche zur Kasse | |
bitten wollen, wird das ungleich schwieriger, solange die großen Parteien | |
diesen Debatten aus dem Weg gehen. | |
Für Grüne, Linke und SPD sind die anstehenden Proteste, auch wenn sie ihnen | |
inhaltlich näherstehen, als konservative und rechte Parteien, kein | |
Heimspiel. „Es gibt bei vielen die Erkenntnis, dass linke Koalitionen nicht | |
unbedingt linke Politik machen“, sagt Teune, selbst wenn sie programmatisch | |
gar nicht so schlecht aufgestellt seien. | |
Andererseits gibt es aus der Bewegung durchaus Kritik: Weder reichen die | |
Vorschläge der Grünen dafür aus, das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, noch haben | |
die linken Stadtentwicklungssenator:innen die prekäre Lage von | |
Mieter:innen entscheidend verbessert. Und dass die SPD die Schere | |
zwischen reich und arm zusammenführen könnte, glaubt schon gar keiner. | |
Ergo, so sagt es Teune: „Als Wahlkampfhilfe für die Parteien verstehen die | |
Aktivist:innen ihre Aktionen nicht.“ | |
## Zeit erhöhter politischer Aufmerksamkeit | |
Stattdessen schielten sie auf die Wähler:innen, für die der Wahlkampf auch | |
eine Zeit der erhöhten politischen Aufmerksamkeit ist und die man für | |
einzelne Themen sensibilisieren könne. Dennoch sind es die Parteien des | |
Mitte-links-Spektrums, von denen man erhofft, dass sie mit politischen | |
Angeboten reagieren und dass über sie progressive Positionen in | |
Koalitionsverhandlungen gestärkt werden können. Auf CDU oder FDP werden die | |
Proteste kurzfristig dagegen „keinen großen Eindruck machen“, so Teune. | |
Eine Reaktion zeigten diese vor allem dann, wenn es ihnen ins eigene Kalkül | |
passe. Da müssen dann etwa französische Gelbwestenproteste dafür herhalten, | |
den Leuten bei der Klimapolitik nicht zu viel abzufordern. | |
Zumindest eine Angriffsfläche wollen die Bewegungsakteur:innen | |
überwiegend nicht bieten – eine Diskussion über ihre Aktionsformen. Bis auf | |
Extinction Rebellion, deren Markenkern der zivile Ungehorsam vor allem in | |
Form von Blockaden ist, setzen alle großen Akteure der kommenden Wochen auf | |
Demonstration. | |
Teune spricht von einer „strategischen Entscheidung“, um Diskussionen | |
darüber zu vermeiden, „ob unangemessene Mittel genutzt werden“. In einem | |
Land, wo schon das wilde Plakatieren für zumindest strategisch eingesetztes | |
Entsetzen sorgen kann, können Blockaden, direkte Aktionen oder | |
Konfrontationen bei Wahlkampfveranstaltungen scharfen Gegenwind auslösen – | |
von Sabotagen oder gewalttätigen Auseinandersetzungen ganz zu schweigen. | |
Es ist keine Zeit der Rebellion. Doch auch das Erzeugen von Bildern, die | |
mehr Aufmerksamkeit als üblich finden und das Setzen von Themen, ist es | |
wert, mal wieder auf die Straße zu gehen. Politik in den Parlamenten, | |
braucht Politik von der Straße. | |
Dieser Text ist Teil eines dreiseitigen Schwerpunktes aus der | |
taz.berlin-Wochenendausgabe vom 14./15. August 2021. | |
14 Aug 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Fremdsprachen-bald-verboten/!5758780 | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Institute_for_Advanced_Sustainability_Studies | |
## AUTOREN | |
Erik Peter | |
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