# taz.de -- Mobilitätsforscher über BVG-Pläne: „Der ÖPNV braucht einen Re… | |
> Die BVG plant den Test eines digitalisierten Abrechnungsmodells. Der | |
> Mobilitätsforscher Andreas Knie meint: Es war höchste Zeit dafür. | |
Bild: Ganz alte Schule: Fahrkartenentwerter der BVG | |
taz: Herr Knie, die BVG-Chefin Eva Kreienkamp hat angekündigt, ab September | |
ein neues Abrechnungsmodell zu testen: Die Fahrgäste sollen digital ein- | |
und auschecken, dann werde automatisch der beste Tarif ermittelt und in | |
Rechnung gestellt. Das geht aber doch wieder weit weg von der Idee eines | |
[1][billigen Pauschaltarifs] wie dem 365-Euro-Ticket oder gar eines | |
[2][ticketlosen Nahverkehrs]? | |
Andreas Knie: Modelle wie die Finanzierung etwa über eine Nahverkehrsabgabe | |
wurden ja viel diskutiert, aber davon ist man jetzt weg. Nein, die Menschen | |
sollen für Transportleistungen bezahlen – und die Menschen sind auch | |
bereit, dafür zu bezahlen. Die Attraktivität des Öffentlichen Verkehrs | |
bestimmt nicht der Preis, sondern die Flexibilität. Und da müssen wir weg | |
von Tarifen, Waben, all diesem Unfug aus dem 20. Jahrhundert, den wir noch | |
mitschleppen. Genau genommen brauchen wir ein „Check-in/Be-out“-System, das | |
heißt: Man checkt ein, geht am Ende einfach raus, und solange es die | |
Tarifstrukturen noch gibt, wird der Bestpreis ermittelt. | |
Wie sieht das aus? | |
Wenn man mehr als vier Mal an einem Tag gefahren ist, wird ein Tagesticket | |
abgerechnet, wenn man im Monat über eine bestimmte Menge kommt, wird der | |
Abopreis abgerechnet. Der zweite und richtige Schritt ist aber „Pay as you | |
go“, sprich: Je mehr Sie fahren, desto günstiger wird es. Mit dem | |
„Touch&Travel“-System hatten wir das übrigens alles schon mal vor Jahren | |
bei der DB, ich habe das selber dort eingeführt. Die BVG muss also quasi | |
zurück in die Zukunft. | |
Die Bahn hat „Touch&Travel“ vor sechs Jahren wieder eingestellt. War die | |
Gesellschaft damals noch nicht digital genug? | |
Nein, das war überhaupt nicht zu früh, es hat technisch funktioniert, die | |
Leute waren zufrieden. Die Abschaffung geschah völlig willkürlich, weil die | |
Bahn selbst das System nicht verstanden hat. Natürlich ist der | |
Digitalisierungsgrad heute noch höher, das macht die Einführung eines | |
solchen Prinzips nur noch zwingender. Aber der ÖPNV hat die Moderne eben | |
noch nicht für sich angenommen. | |
Glauben Sie nicht, dass Preismodelle auf der Basis digitaler Datenerhebung | |
auf bestimmte Kundengruppen, gerade ältere, eher abschreckend wirken? | |
Nein! Pay to go ist doch nichts Besonderes mehr – wir wissen alle mit | |
Handys umzugehen, wir haben alle Smartphones. Das ist viel einfacher als | |
alles andere, man checkt einfach ein und muss nichts mehr im Kopf haben, | |
das ist wie eine permanente BahnCard 100. Und wir wollen ja schließlich | |
mehr Leute im ÖPNV haben, wir wollen den Anteil des ÖPNV verdoppeln. | |
Könnte so ein Prinzip nicht ein Einfallstor sein, um später die | |
Preisschraube anzuziehen? Wenn erst einmal aufgezeichnet wird, wer wie | |
viele Kilometer fährt, ist das ja nicht mehr schwer. | |
Wenn Sie sich die Preise der BVG in den letzten 15 Jahren ansehen – da | |
wurde die Schraube kontinuierlich nach oben gedreht. Dass die Preise erhöht | |
werden, ist von den technischen Medien und der Digitalisierung völlig | |
unabhängig. Wir werden mit höheren Preisen leben müssen, das gilt für den | |
motorisierten Individualverkehr wie für den ÖPNV. Aber wir müssen diese | |
Festlegung wegbekommen, die es heute noch gibt, wir brauchen ein flexibles, | |
schnelles, einfaches System. Da ist der Schritt der BVG jetzt ein guter | |
Einstieg. | |
Wie sieht es [3][mit dem Datenschutz] aus? | |
Jeder, der ein Smartphone hat, weiß doch, dass er getrackt und getracet | |
wird, dass seine Daten verwertet werden. Nein, wer ein Smartphone hat, kann | |
mit Datenschutz nicht mehr argumentieren. Natürlich müssen wir Sorgfalt | |
walten lassen, aber auch bei Touch&Travel hatten wir das im Griff: Die | |
Bewegungsdaten und die Rechnungsdaten werden auf verschiedenen Servern | |
gelagert und nur zur Rechnungsstellung zusammengezogen. Da hat man schon | |
eine ganze Menge Erfahrung, das ist datenschutzrechtlich unproblematisch. | |
Die Auslastung der BVG liegt derzeit offenbar nur bei 65 Prozent des | |
Vor-Corona-Niveaus, das ist erschreckend wenig. Hat die Pandemie den Trend | |
zu mehr Öffentlichem Nahverkehr beendet? | |
Durch die Pandemie ist klar geworden: Wenn die Leute alle | |
Mobilitätsvarianten genau prüfen, fallen BVG und S-Bahn leider durch. In | |
Berlin nehmen viele Leute jetzt die Füße und das Fahrrad, und, was [4][im | |
Sinn der Verkehrswende] ganz schlimm ist: Die Kombinierer, die | |
Fortbewegungsmittel wie Bahn und Bus, Carsharing und Fahrrad genutzt haben, | |
machen das weiterhin, lassen aber den ÖPNV weg. | |
Warum? | |
Das liegt natürlich auch an Ansteckungsängsten und der unangenehmen | |
Maskenpflicht, aber das wichtigere Argument ist die Flexibilisierung. Die | |
Menschen wollen sich in dieser unsicheren Zeit nicht festlegen. Wenn ich | |
Homearbeit mache und vielleicht nur noch zwei Tage in der Woche ins Büro | |
fahre, will ich kein Abo mehr haben. Das neue Normale ist die Unsicherheit, | |
und es gibt beispielsweise auch viele Freelancer in Berlin, die eigentlich | |
S-Bahn oder BVG nutzen, aber gerade nicht mehr wissen, wie sich ihre | |
Einnahmesituation entwickelt. | |
BVG und S-Bahn wollen die Beförderungszahlen massiv steigern, stecken aber | |
tief im Loch. Wie kommt man da raus? | |
Dazu gehört ein mächtiger Ruck, da müssen sich Senat, BVG, S-Bahn und auch | |
der VBB zusammensetzen und ganz schnell handeln. Vor allem sollte sich | |
Berlin nicht weiter von Brandenburg malträtieren lassen und notwendige | |
Tarifreformen durchsetzen. Wir brauchen ganz dringend einen Reset im ÖPNV. | |
15 Jul 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Kostenloser-oeffentlicher-Nahverkehr/!5614798 | |
[2] /Ticketloser-Nahverkehr-fuer-alle/!5779055 | |
[3] /Verbraucherschuetzerin-ueber-vernetzte-Pkw/!5755748 | |
[4] /Verkehrswende-in-Berliner-Kiezen/!5782417 | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
## TAGS | |
Verkehrswende | |
BVG | |
Digitalisierung | |
ÖPNV | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
ÖPNV | |
Regine Günther | |
ÖPNV | |
grüne Mobilität | |
BVG | |
Verkehrswende | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Debatte über Maskenpflicht im ÖPNV: Die Politik hat keine Wahl mehr | |
Natürlich wären Masken in vollen Berliner U-Bahnen sinnvoll, auch jenseits | |
von Corona. Aber die Zeit der Pflicht ist vorbei, zumindest derzeit. | |
Luxusklasse für den ÖPNV: Oberschicht ins Oberdeck? | |
Eine Untersuchung schlägt ein „Premium-Segment“ für den öffentlichen | |
Berliner Nahverkehr vor, um Menschen mit höheren Einkommen in den ÖPNV zu | |
locken. | |
Rot-rot-grüne Verkehrspolitik in Berlin: Es rollt allen viel zu langsam | |
Selbst der Verkehrssenatorin Günther geht die Mobilitätswende zu langsam. | |
Kritik kommt aus Opposition, Mobilitätsverbänden – und den eigenen Reihen. | |
Anschluss an öffentlichen Nahverkehr: Weiter Weg zu Bus und Bahn | |
In Bayern und Mecklenburg-Vorpommern haben die meisten Bürger keine | |
Haltestelle in der Nähe. Im Vergleich zu 2018 hat sich die Lage aber | |
verbessert. | |
Beitrag der IT-Wirtschaft: Klimaretter Digitalisierung | |
In der Digitalwirtschaft bezweifelt kaum jemand mehr, dass beim Klimaschutz | |
schnell gehandelt werden muss. Deshalb hat sie sich zusammengetan. | |
BVG testet das „smarte“ Abrechnen: Zeitgemäß und hoffentlich fair | |
Die Berliner Verkehrsbetriebe starten einen „Check-in/Check-out“-Testlauf. | |
Ist das der Abschied vom klassischen Beförderungstarif? Über Für und Wider. | |
150 Jahre Berliner Ringbahn: S 42, zurückblicken, bitte! | |
Die Berliner Ringbahn feiert am 17. Juli Geburtstag: Heutzutage eine | |
Selbstverständlichkeit, war sie damals ein visionäres Verkehrsprojekt. | |
Nahverkehr leidet unter Coronakrise: ÖPNV kämpft um Kunden | |
In der Pandemie sind die Fahrgastzahlen eingebrochen. Mit Treuebonus, neuen | |
Abo-Tickets und einer App will der Nahverkehr Kunden zurückholen. |