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# taz.de -- Die Grünen im Wahlkampf: Merkels gelehrige Schüler:innen
> Die Grünen setzen ganz auf Mitte und Konsens. Leider ist ihnen so im
> Wahlkampf die Fähigkeit zur Verteidigung abhanden gekommen.
Die Grünen erleben derzeit ein Déjà-vu. Die Bundestagswahl rückt näher –
und das erwartet gute Ergebnis ferner. So wie 2013. Damals wollten im Juli
noch 15 Prozent grün wählen, im September tat dies nur etwas mehr als die
Hälfte. So eine gefühlte Niederlage rollt auch jetzt auf Baerbock und
Habeck zu.
Damals gab es drei Gründe für das bescheidene Ergebnis. Konservative Medien
entfachten eine Kampagne gegen den Veggie-Day und entwarfen das Zerrbild
einer Verbotspartei, die den Deutschen die Wurst auf dem Teller nicht
gönnt. Zudem hatte die Partei ein Steuerkonzept vorgelegt, das Teile der
eigenen, besser verdienenden Klientel ein paar Tausend Euro im Jahr
gekostet hätte. Das enthüllte die Bigotterie des grünen Wählermilieus, das
soziale Gerechtigkeit hoch schätzt, solange man nicht selbst mehr zahlen
muss.
Hinzu kam eine mit hysterischen Obertönen geführte Debatte um grüne
Toleranz für Pädophile in den 1980er Jahren, die das grüne Image
demontierte, moralisch immer auf der richtigen Seite zu stehen. Ein paar
Tage vor der Wahl wurde auch noch der Spitzenkandidat Jürgen Trittin mit
Kindesmissbrauch assoziiert. Dass es dafür keinen Grund gab, zählte nicht.
Es demolierte die Glaubwürdigkeit in ähnlicher Weise wie es nun die Affäre
um das Copy-Paste-Buch und den aufgemöbelten Lebenslauf von Annalena
Baerbock tun.
Die Ähnlichkeiten zwischen 2013 und heute fallen ins Auge. Auch vor acht
Jahren war der Zeitgeist eigentlich grün: Feminismus, Postnationalismus und
Gleichberechtigungspolitik, allesamt mit den Grünen verknüpfte Ideen, waren
keine Minderheiten- und Nischenprogramme mehr. Öko war Bestandteil des
Lebensstils der kulturell herrschenden Klasse, die in den angesagten
Vierteln der Großstädte wohnt und definiert, was gesellschaftlich als
gutes, moralisch intaktes Leben gilt (und was nicht). Die Grünen sind die
authentische Vertretung dieses Milieus.
Doch im Säurebad des Wahlkampfs wirkte und wirkt die Partei überfordert und
unsouverän. 2013 brauchte sie viel zu lang, um zu begreifen, dass sie
selbst die Pädo-Vorwürfe entschlossen aufklären muss. Heute versucht die
Grünen-Spitze die Vorwürfe gegen [1][Baerbock] mit rhetorischem
Kanonendonner („Rufmord“) und folgendem Schweigen zu verdrängen. Die Grün…
scheinen wie Bill Murray in der Komödie „Und täglich grüßt das Murmeltier…
in einer Zeitschleife gefangen zu sein. Sie gewinnen glanzvoll Umfragen,
aber nicht die Wahl. Warum? Haben sie nichts gelernt? Oder das Falsche?
Zuviel vom Richtigen?
## Neu justierte Taktik
Die Niederlage 2013 war ein Wendepunkt für die Partei. Der Parteilinke
Trittin wurde abgesägt, die Taktik neu justiert. Die Umverteilungsideen
wurden danach verwässert, Verbotsforderungen sorgsam vermieden. Habeck und
Baerbock haben die verwitterten Grenzmarkierungen der Ex-Alternativen
gegenüber der Mehrheitsgesellschaft niedergerissen oder, vielmehr, beiseite
geschoben. Sie haben den Patriotismus für die Grünen reklamiert, halten die
CDU für den Fixstern deutscher Politik und wollen unbedingt mit der Union
regieren.
Manche Grüne haben dieses Bündnis diskursiv solide ummauert. Es sei
geradezu gefährlich, eine Mitte-Links-Regierung zu bilden, weil sich Union
oder die FDP an der Seite der AfD in der Opposition womöglich
radikalisieren könnten. Dann drohe Gefahr: Trump, Brexit, Le Pen. Dieses
Argument klingt ehrenwerter, als es ist. Im Klartext heißt es, dass bei
Wahlen nur die Frage entschieden wird, mit wem die Union regiert. Das ist
ein fast schon nordkoreanisches Verständnis von Demokratie.
Die Grünen haben aus der Niederlage 2013 drei Schlussfolgerungen gezogen:
Links und rechts gibt es nicht mehr. Nie mehr Dagegen-Partei sein. Und, am
wichtigsten: Wir besetzen die Mitte und verbünden uns mit der Wirtschaft.
Annalena Baerbock verkündet einen „Pakt mit der Wirtschaft“ und stellt
milliardenschwere Staatshilfen für den klimaneutralen Umbau der Industrie
in Aussicht. „Die Klimakrise ist entscheidend für unsere
Wettbewerbsfähigkeit in den Zukunftsmärkten“ – das hat nicht Christian
Lindner, sondern Baerbock gesagt.
Diese Strategie knüpft durchaus an eine grüne Basiserzählung an, die Rudi
Dutschke schon 1979 skizzierte. Ökologisch gedacht stehe das
Gattungsinteresse im Zentrum und die Klassenfrage in der zweiten Reihe.
Beim Kampf sozialer Gruppen um Einfluss, Anerkennung und Geld geht es in
erster Linie um den Konflikt. Ökologie – und besonders der drängende
klimaneutrale Umbau der Ökonomie – ist ein konservatives Ziel, in dem
Konflikte nur unvermeidliche Hindernisse auf dem Weg zum gesellschaftlichen
Konsens sind. „Die Dekarbonisierung unseres Wirtschaftens bedarf breiter
Bündnisse – von Bewegungen über Gewerkschaften und Unternehmen bis hin zu
Verabredungen mit den demokratischen Gegnern“, sagt Jürgen Trittin.
## Zwischen Biedermeier und Sperrmüll-Ästhetik
So haben die Grünen eine alles überwölbende Harmonieerzählung entwickelt,
die das eigene Machtstreben nach 16 langen Oppositionsjahren mit höheren
Zielen verzahnt. Die neue grüne Botschaft lautet: Wir sind die Mitte,
unaggressiv und freundlich. Wir sind individualistisch, aber nicht zu sehr,
anders, aber nur ein bisschen. Das zwischen Biedermeier und
Sperrmüll-Ästhetik oszillierende Wohnzimmer mit oranger Couch, das den
digitalen Parteitag möblierte, bebilderte dieses Konzept.
Die zweite Botschaft lautet: Wir tun das Nötige, aber es wird nicht wehtun.
Man kann die Welt retten, darf aber trotzdem Dosenbier trinken und SUV
fahren, bei Tempo 130 natürlich. Volkspädagogik und Elitenkritik sind
vorbei. Beides würde die Befriedung der Mitte, den Weg zur Macht und den
konfliktreduzierten Umbau der Wirtschaft stören. Mit dem Versprechen „Wir
tun niemandem was“ soll der Goldschatz für die Bundestagswahlen gehoben
werden: die Merkel-WählerInnen.
Vor lauter Konsens-Denken ist den Grünen die Anpassung an das, was ist, zur
zweiten Natur geworden. Sogar die grüne Jugend denkt lieber zwei Mal nach,
wie scharf sie Kretschmann kritisieren darf, wenn der in der Coronakrise
Verbrennerautos subventionieren will. Vom Rebellischen der Frühzeit ist
nichts geblieben, außer der Frisur von Toni Hofreiter. In Hessen haben die
Grünen aus Loyalität zur CDU das Ja zum NSU-Untersuchungsausschuss
verweigert – ein zu wenig wahr genommener Skandal.
## Kein Kampf – kein Widerstand
Vielleicht ist bei der Dauerbeschallung mit Beruhigungsbotschaften die
Dialektik von Bewahren und Verändern verloren gegangen. Bemerkenswert ist
jedenfalls, dass [2][Grünen-Anhänger:innen] überaus zufrieden mit der
Bundesregierung sind – fast so sehr wie die UnionswählerInnen und mehr als
die AnhängerInnen der SPD, die immerhin regiert. Diese Genügsamkeit ist für
die Sympathisant:innen einer Oppositionspartei, die große Ziele hat,
verblüffend. Die grüne Klientel ist so, wie die grüne Spitze sie sich
wünscht. Sie mag das behagliche Gefühl, zur Mitte zu gehören und den
Konsens viel mehr als Streit.
Die Habeck-Grünen sind Schüler der leidenschaftslosen Merkel-Ära. Und sie
haben deren Lektion vielleicht zu gut gelernt: Umarmt eure Konkurrenz, wo
ihr sie trefft. Im Taktik-Sprech der Merkel-Berater hieß das „asymmetrische
Demobilisierung“ und meinte, dass es günstig ist, die Gegner mit sanften
Tönen und der Übernahme von Programmteilen einzuschläfern (auch wenn ein
Teil der eigenen Klientel dabei einnickt). Merkel hat das effektiv
praktiziert, mit dem prosaischen Ziel, die Macht zu erhalten. Bei den
Grünen, so viel Unterschied muss sein, soll diese Taktik der Rettung der
Menschheit dienen. Ein Schlüsselsatz von Habeck lautet: „Wenn wir im
Kampfmodus argumentieren, erzeugt das Widerstand.“ Also: Kein Kampf – kein
Widerstand. Wenig Konflikt – viel Konsens.
In diesem in gefälligen Pastelltönen gehaltenen Gemälde fehlt etwas. Was,
wenn die anderen im Kampfmodus sind? So etwas lässt sich im Wahlkampf ja
schlecht ausschließen. Schon als der CDU-Generalsekretär unverfroren eine
Rednerin auf dem Grünen-Parteitag als Antisemitin abzustempeln versuchte,
wirkten Habeck und Co. überrascht. Man war doch immer so höflich zur CDU
gewesen. Als Laschet die Grünen als unsoziale Besserverdiener attackierte,
die herzlos den Benzinpreis in die Höhe jagen wollen, fiel der Ökopartei
nur das zutreffende, aber defensive Argument ein, dass die Regierung selbst
diese Erhöhung beschlossen hatte.
## Unfähig zur Verteidigung
Baerbocks Fehltritte, die längst nicht so schlimm sind, wie Bild glauben
machen will, werfen ein ungutes Licht auf die Kandidatin. Ein hastig
montiertes Buch und ein aufgebrezelter Lebenslauf wirken wenig sympathisch.
Aber sind das unverzeihliche Sünden im Vergleich zur gezielten
Vergesslichkeit von Olaf Scholz in Sachen Cum-Ex-Banker oder Armin Laschets
Unfähigkeit, einen klaren Satz zu [3][Maaßen] zu sagen? Kaum. Schwerer als
Baerbocks Ungereimtheiten wiegt die Unfähigkeit der Grünen, eine brauchbare
Verteidigung aufzubauen. Sie schwanken zwischen Empörung und Ratlosigkeit,
Aufregung und Leugnung. Verstockt zu behaupten, man verstehe gar nicht, was
der „copy & paste“-Vorwurf bedeuten solle, hilft auch nicht weiter.
Die Grünen wirken überrumpelt. Dabei beneideten sogar CDU-Rechte noch bis
vor ein paar Monaten ihre kühle Professionalität, die Reibungslosigkeit
ihrer Kandidatenkür, die bis ins Detail abgestimmte Geschlossenheit. Doch
dieses hübsche Gebäude war eine Attrappe. Es glänzte nur bei Sonnenschein,
beim ersten Starkregen fiel es zusammen. Der Tipp, Baerbock auszuwechseln,
ähnelt dem Ratschlag, von der Brücke zu springen, wenn das Bein mal weh
tut. Ein Rückzug wäre die Bestätigung, dass die netten Grünen unfähig sind,
Stress oder miese Presse zu ertragen. Wie soll eine Partei, die schon bei
einem Windstoß umfällt, Deals mit Konzernchefs und Putin machen?
Die Baerbock-Affäre hat die Schwäche der Grünen entblößt. Sie haben vor
lauter Konsens vergessen, wie Konflikt geht, und sind zum Opfer ihrer
eigenen Harmonieerzählung geworden. Jetzt wirken sie wie der eifrige
Angestellte, der immer alles richtig macht – bis auf den Moment, in dem es
darauf ankommt.
In „Täglich grüßt das Murmeltier“ wird Bill Murray am Ende geläutert, d…
die Liebe erlöst und aus der Zeitschleife befreit. Für die Grünen wird die
Wahl nicht wie ein Hollywood-Film enden.
11 Jul 2021
## LINKS
[1] /Plagiatsvorwuerfe-gegen-Baerbock/!5780337
[2] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/74755/umfrage/zufriedenheit-…
[3] /Maassen-will-Journalistinnen-pruefen/!5784428
## AUTOREN
Stefan Reinecke
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