| # taz.de -- Buch „Machtverfall“ über Merkel: Das Finale, ein Ränkespiel | |
| > Das Buch „Machtverfall“ des „Welt“-Journalisten Robin Alexander zeigt | |
| > süffig Kämpfe der Spätphase der Merkel-Ära – und ist mit Vorsicht zu | |
| > genießen. | |
| Bild: Ende einer Ära | |
| Der typische bundesdeutsche Politiker ist nüchtern und sachlich. Das | |
| Leidenschaftslose gilt hierzulande als Ausweis von Kompetenz. In der | |
| Merkel-Ära wurde das Farblose geradezu zum Ideal. Unsere politische Klasse | |
| ist affektiv heruntergedimmt und scheint als dramentaugliches Personal | |
| ungeeignet. Aber so ist es nicht. „Machtverfall“, eine szenische Chronik | |
| der späten Merkel-Ära, führt das einleuchtend vor Augen. | |
| Seit gut drei Jahren ist die Union in einer Art Drama-queen-Phase. | |
| Bündnisse wurden geschmiedet und verfielen. Zur Thronnachfolge Erkorene | |
| scheiterten. In diesen Ränkespielen gab es Durchtriebenheit und Egomanie, | |
| Zufall, Verrat und einen ordentlichen Showdown. Und am Ende hat | |
| ausgerechnet der gewonnen, der doch am wenigsten durchsetzungsfähig schien. | |
| Robin Alexander, Welt-Journalist und sehr guter Kenner der Union, zeichnet | |
| auf gut 350 Seiten die Ereignisse nach. Es geht auch um die Pandemie – aber | |
| im Zentrum stehen die Konkurrenzen in der Union, die lange stillgelegt | |
| waren und explodieren, als klar wird, dass Merkel gehen wird. Da ist | |
| [1][Söder, der sich vom Merkel-Gegner geschmeidig zum Merkel-Fan wandelt]. | |
| Merz, der wie ein unerlöstes Gespenst wieder auftaucht und tragikomisch an | |
| der eigenen Hybris scheitert. Und das Bündnis von Merkel und | |
| Kramp-Karrenbauer, das im Fiasko endet. | |
| Das ist manchmal süffig zu lesen, wie eine sehr lange | |
| Spiegel-Titelgeschichte. Wir erfahren von geheimen Treffen von Söder und | |
| Laschet, die sich, von keinem Journalisten bemerkt, in einem Hotel in | |
| Frankfurt duellieren. „Die Stimmung ist eisig, Laschet fühlt sich in die | |
| Enge getrieben und schlägt um sich“, heißt es. Wir müssen vertrauen, dass | |
| das schon stimmen wird. | |
| Alexander ist ein allwissender Erzähler, der uns an den Geheimnissen der | |
| Mächtigen teilhaben lässt. Der Historiker Andreas Rödder hat dafür die | |
| hübsche Formulierung gefunden, dass der Autor die „Mechanismen des | |
| politischen Betriebs“ besser versteht als die Protagonisten selbst. | |
| Zu erkennen ist, dass sich die Bedingungen politischer Entscheidungen | |
| radikal verändern. Bei den Corona-Krisensitzungen und dem Machtkampf in den | |
| CDU-Gremien twittern Journalisten in Echtzeit, wer was sagt. Reiner | |
| Haseloff, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, bemerkt in einer der | |
| endlosen Corona-Krisenrunden: „An die mithörenden Journalisten: Bitte | |
| stimmen Sie wörtliche Zitate mit meinem Regierungssprecher ab.“ | |
| Dass die früher solide abgedichteten politischen Entscheidungsräume | |
| durchsichtig geworden sind, hat mit dem basisdemokratischen Traum von | |
| Transparenz nichts zu tun. Es ermöglicht eher Tricksereien und nutzt | |
| leichtsinnigen Figuren wie Söder. Der hat bei einer Corona-Krisenrunde mal | |
| eine Forderung erhoben – nicht um sie umzusetzen, sondern um Minuten später | |
| im Bild-Liveticker als harter Coronabekämpfer gefeiert zu werden. Die | |
| mediale Allgegenwart verändert Entscheidungen und begünstigt Politiker, die | |
| auf Effekte setzen. | |
| Auch das erzählt „Machtverfall“. Im Fokus aber steht die Union. Die Rolle | |
| der Bösen ist recht klar besetzt – Angela Merkel. Die bootet mögliche | |
| Konkurrenten „brutal“ aus und lässt Abweichler sofort spüren, dass sie in | |
| Ungnade fallen. Sie hat auch Merz, den „intellektuell versiertesten | |
| Christdemokraten seiner Generation“, durch „einen Hinterzimmerdeal aus | |
| der Politik gedrängt“. | |
| So war es nicht. Merkel hatte 2002 auf die Kanzlerkandidatur verzichtet und | |
| sich [2][dafür mit dem Job der Fraktionschefin begnügt.] Das wäre bei dem | |
| Sieg von Stoiber über Rot-Grün, an den damals alle glaubten, eher die | |
| zweite Reihe gewesen, Merz wäre Superminister geworden. | |
| Doch es kam anders. Rot-Grün gewann. Fraktionschefin war nun der zentrale | |
| Posten. Hätte Merkel den Merz schenken sollen? Dass Merz ein Opfer von | |
| Merkels rücksichtlosem Machtwillen wurde, ist eine Legende der | |
| CDU-Konservativen. Alexander teilt deren phobische Abneigung gegen Merkel. | |
| Auch in einer Schlüsselszene dieses Buches erscheint die Kanzlerin als kalt | |
| kalkulierende Machtpolitikerin, die das Spiel mit Schein und Sein gerissen | |
| beherrscht. Erst zeigt sie sich mit ihrer Thronfolgerin Kramp-Karrenbauer | |
| in trauter Eintracht in der Öffentlichkeit, um AKK danach bei einem | |
| geheimen Treffen klar zu machen, wo der Hammer hängt. Sie bleibe Kanzlerin, | |
| AKK könne „ja versuchen, sie zu stürzen“. Hier Merkel, die sich an die | |
| Macht krallt, dort AKK, die Kronprinzessin, die im langen Schatten der | |
| Kanzlerin keinen Fuß auf den Boden bekommt. | |
| War es so? [3][Diese Szene hat ein Stern-Journalist kolportiert,] Alexander | |
| hält sie für erwiesen. Das mag man glauben oder nicht. Ein nicht ganz | |
| unwichtiges Detail fehlt aber in diesem Bild. | |
| Die SPD hätte Kramp-Karrenbauer zur Kanzlerin wählen müssen. Die SPD mag | |
| ungeschickt sein, aber so töricht, der Union den roten Teppich für den | |
| nächsten Wahlkampf auszurollen, wäre sie nicht gewesen. Das wird hier, um | |
| den dramatischen Effekt nicht zu mindern, weggelassen. Man merkt die | |
| Absicht und ist verstimmt. | |
| So erscheint Kramp-Karrenbauer, trotz selbstverschuldeter Fehler von Rezo | |
| bis Thüringen, als weitere politische Leiche, die Merkel auf dem Gewissen | |
| haben soll. Realistischer ist eine andere Sicht. Merkels Versuch, die | |
| eigene Nachfolge zu regeln, musste scheitern. Am Ende von langen Machtären | |
| stehen immer chaotische Kämpfe, schwache Nachfolger, Übergangskandidaten. | |
| So war es auch bei Adenauer und Kohl. Demokratien sind eben keine Erbhöfe. | |
| „Sollte man über Geschichte schon schreiben, wenn sie noch qualmt?“, hat | |
| Barbara Tuchman gefragt, eine US-Autorin, die auf dem Grat zwischen | |
| Geschichtsschreibung und Journalismus wandelte. „Machtverfall“ erzählt eine | |
| Geschichte, die noch gar nicht qualmt. Sie brennt noch. Das macht die | |
| Attraktion aus, markiert aber auch hart die Grenze. | |
| „Machtverfall“ ist eine Art Dokutainment und keine kühle, neutrale Chronik. | |
| Es spiegelt immer mal wieder eingefräste Muster der CDU-Rechten wider. Was | |
| Fakt, was unvollständige Hintergrundinfo, was Deutung ist, ist mitunter | |
| schwer zu erkennen. Wenn HistorikerInnen in zehn Jahren über das Ende der | |
| Merkel-Ära forschen, werden sie dieses Buch in die Hand nehmen. Benutzen | |
| werden sie es nicht. | |
| 10 Jul 2021 | |
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| [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfratshauser_Fr%C3%BChst%C3%BCck | |
| [3] https://www.merkur.de/politik/plante-akk-einen-putsch-gegen-merkel-du-kanns… | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
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