| # taz.de -- Lob der Schlange: Anstehen macht uns menschlich | |
| > Corona machte das Schlangenstehen wieder normal. Jetzt wird das | |
| > kollektive Warten weniger, auch dank Lieferdiensten wie Gorillas. Wie | |
| > schade! | |
| Bild: Das Warten in der Schlange macht geduldiger | |
| Das wohl schönste literarische Denkmal hat der Schlange Wladimir Sorokin | |
| gesetzt. „Genosse, wer ist der Letzte“, so beginnt sein Roman, der 1990 auf | |
| Deutsch erschien und nur aus O-Tönen bestand. Sorokin gilt heute als | |
| wichtigster Gegenwartsautor Russlands, „Die Schlange“ war wie ein Blick | |
| durchs Schlüsselloch auf den Realsozialismus, der im Alltag mehr von | |
| Mangelwirtschaft als von Politkommissar:innen bestimmt war. | |
| Laut Statistik stand die Sowjetbürger:in ein Drittel ihres Lebens an, | |
| bei Sorokin verbrachte sie damit einen 8-Stunden-Tag, das Wochenende | |
| ausgenommen. Man wartete, ohne zu wissen, was es am Ende zu kaufen gab. Und | |
| versüßte es sich, indem man plauderte und dabei kein Blatt vor den Mund | |
| nahm. Hier war jede:r Dissident:in, die Schlange brachte Menschen | |
| zusammen, schuf Lieb-, Freund- und Feindschaften. | |
| Sorokins Roman ist ein grandioses Buch. Ich habe es vor ein paar Tagen | |
| wieder hervorgeholt. Ich will endlich mal wieder in der Schlange stehen, | |
| vielleicht sogar ohne Sinn und Zweck, dafür voller Lust. Denn: In der | |
| Schlange stehen ist das Menschlichste, was wir tun können. | |
| Es ist aber auch ein Anachronismus. Ich wohne in Mitte, einst das Zentrum | |
| des deutschen Realsozialismus, heute Labor für den digitalen Kapitalismus | |
| oder das, was man Plattformökonomie nennt. Hier bilden sich keine Schlangen | |
| mehr, dafür steht sich eine bestimmte Arbeitnehmerschaft die Beine in den | |
| Bauch: die mit den E-Bikes und würfelförmigen Rucksäcken. | |
| ## Anstehen als Massenevent | |
| Es gibt so viele davon, mit traurigen Augen sitzen sie am frühen Abend vor | |
| den Spätis, man ist versucht, gleich noch ein paar mehr dieser | |
| Shopping-Apps auf sein Smartphone zu laden. Neben denen von Bringmeister | |
| und Picnic, von Lieferando und Wolt auch noch die von Gorillas, Flink und | |
| Getir. | |
| Sehne nur ich mich nach der Schlange? | |
| Nach dem Fall der Mauer wird das Anstehen auch im Westen kultiviert. Nicht | |
| im Alltag, als Massenevent. Legendär sind 2004 die Schlangen an der Neuen | |
| Nationalgalerie, als das New Yorker MoMA dort gastiert. Man packt | |
| Klappstuhl und Thermoskanne ein, um die Stunden zu überbrücken, wenn man an | |
| Museumskarten kommen will, an Tickets für die Berlinale oder auf die | |
| Reichstagskuppel. Auch weltweit werden Megaschlangen zum Phänomen der | |
| Metropolen. | |
| Über sie wird das kollektive Warten zum Gegenstand für die | |
| Kulturanthropologie, doch es zeichnet sich schnell ab: Geduld hat als | |
| Tugend ausgedient. Die neuen Technologien machen es möglich, immer bessere | |
| Algorithmen, die Cloud und das Smartphone. Online kann man rund um die Uhr | |
| bestellen, die Schlangen vor den Museumsschaltern werden von | |
| Zeitfenstertickets abgelöst, und für Berlinalekarten wartet man nun am | |
| Tablet auf den Verkaufsstart. | |
| In den folgenden Jahren wird der Faktor Zeit in vielen Lebensbereichen | |
| entschärft. Alles ist jederzeit zu haben, im Internet sind die Läden 24 | |
| Stunden offen, Twitter bedient Echtzeitnachrichten, Google Maps errechnet, | |
| wie lange man von A nach B braucht, um superpünktlich an jedem Zielort | |
| einzutreffen. Ist es zu lästig, acht Minuten auf die nächste Tram zu | |
| warten, hat man eine App für das nächstverfügbare alternative Fahrzeug, ob | |
| Taxi, Uber, Auto oder Scooter. | |
| Und auch massenhafte Menschenansammlungen werden nun eher vom | |
| Spontanitätsprinzip geleitet: Flashmobs entstehen. Mit Ausnahme von | |
| Mustafas Gemüse-Kebap schafft es nur noch Apple, die lange fröhliche | |
| Warterei zu inszenieren, zuletzt 2019. Als das neue iPhone 11 erscheint, | |
| bilden sich schon am Tag zuvor lange Schlangen vor den Apple Stores. | |
| Und dann kommt Corona. [1][Schlangestehen wird wieder zum Normalzustand.] | |
| Die ganze Entschleunigung tut gut. Man hat mehr Zeit, das Anstehen vor der | |
| Bäckerei oder vor der Post bekommt etwas Spektakuläres, mindestens im | |
| ersten Lockdown. Auch in der Not gilt: Reiht euch ein. Wer zuerst kommt, | |
| ist zuerst dran, nicht der Unverschämtere oder der Lautere wie parallel in | |
| den sozialen Medien. Die Schlangen zeigen, dass wir uns im [2][analogen | |
| Alltag] einen Rest Zivilität bewahrt haben. | |
| Doch die Schlangen werden weniger, die Klebestreifen auf dem Asphalt | |
| verlieren in der zweiten und dritten Welle oft ihre Funktion. Es sind nun | |
| Onlineeinkäufe, die Schlangen produzieren. So wie den Pulk von | |
| Fahrradbot:innen am Klingelschild, auf den ich eines Tages stoße, als | |
| ich die Haustür öffne. Laut Deutschem Einzelhandelsverband nehmen die | |
| Bestellungen von Lebensmitteln im Netz in der Pandemie um 60 Prozent zu. | |
| Ich kann mich noch an eine Zeit erinnern, vor der Pandemie, da konnte ich | |
| am Ende des Sommers nicht mehr die Marken all der Start-ups aufsagen, die | |
| mein Viertel mit Leihfahrrädern, E-Scootern, Mopeds und Autos fluteten und | |
| die Bürgersteige verstopften. Nun sind es Menschen mit Würfelrucksäcken in | |
| allen Farben. | |
| Gerade ist der Bringdienst Gorillas in den Nachrichten. Die Rider, also die | |
| Fahrer:innen, streiken wegen der Arbeitsbedingungen. Weil sie ihre | |
| Pausen auf Straßen und Gehwegen machen und das Unternehmen auch noch die | |
| Warenlager dorthin ausweitet, sind Anwohner:innen zunehmend genervt. | |
| Mir reicht schon, dass Gorillas damit wirbt, dass jede Bestellung in zehn | |
| Minuten geliefert wird. | |
| Klingt nice, aber mal ehrlich: Wer braucht das? Zehn Minuten – das reicht | |
| kaum, um den Ofen vorzuheizen, bis die Tiefkühlpizza geliefert ist. Oder | |
| Wasser aufzusetzen und die Pasta àl dente zu kochen, bis der Rider das Glas | |
| Nudelsoße aus dem Rucksack zieht. | |
| Und was ist das für ein Luxus, wenn der Kühlschrank durch diesen Service | |
| aus den eigenen vier Wänden outgesourct wird? Wie soll man das nennen? | |
| „Fast Food“ ist besetzt! „Fast Butlering“ trifft es besser, vor allem | |
| [3][weil Gorillas den Dienst] beinahe kostenlos anbietet. Die Liefergebühr | |
| ist minimal, viele Lebensmittel gibt es aber zu Discountpreisen. Den | |
| Haben-wollen-Impuls bedient Gorillas damit nicht nur auf Kund:innenseite, | |
| sondern auch bei Investor:innen. In kürzester Zeit hat das Unternehmen eine | |
| Viertelmilliarde Euro Startkapital gesammelt. Überhaupt sind die | |
| Sofortlieferdienste derzeit weltweit die It-Start-ups der Stunde. | |
| ## Dem Warten den Kampf angesagt | |
| Längst läuft auch schon ein Schnelligkeitswettbewerb. In Deutschland | |
| garantiert nur noch Bring.de, mit den Einkäufen in einer halben Stunde vor | |
| der Tür zu stehen, die Konkurrenz aus Getir, Gorillas und flink.de ist | |
| inzwischen beim Zehn-Minuten-Versprechen. Fixer lassen sich Wünsche | |
| wahrscheinlich nur noch befriedigen, wenn in die Haushalte 3-D-Drucker | |
| einziehen, die nach Bedarf Lebensmittel ausspucken. | |
| Selbst im Supermarkt um die Ecke wird dem Warten inzwischen der Kampf | |
| angesagt. Die Kund:in darf wählen, wie schnell es gehen soll. Man kann den | |
| Scanner selbst in die Hand nehmen, an die Expresskasse gehen oder die | |
| altmodische Tour einschlagen. Bald wird die Bezahlphase physisch ganz | |
| verschwinden. Die Technik ist längst so weit. | |
| Dann hat man den Scanner beim Gang durch die Regalreihen selbst dabei oder | |
| Kameras verfolgen, womit man das Geschäft verlässt. Wenn man sich einfach | |
| nur noch die Wunschprodukte aus dem Regal nimmt und die Bezahlung nicht | |
| mehr mitbekommt, spätestens dann wird der Lebensmitteleinkauf in | |
| schlaraffische Sphären eintreten. | |
| Wenn wir verlernen, uns in Geduld zu üben, wie kann es dann funktionieren, | |
| in anderen Dingen Maß zu halten? Denn eigentlich ist Zeit, etwa durch die | |
| Möglichkeiten des Homeoffice, doch eine viel weniger knappe Ressource als | |
| früher. | |
| Ich will mal wieder richtig anstehen. Aber ich brauche andere dafür. | |
| Deshalb: Bilden wir Schlangen, ohne Sinn, aber mit Lust. Könnte doch Spaß | |
| machen. | |
| 4 Jul 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jörn Kabisch | |
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