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# taz.de -- Warten in der Schlange: Du bist nicht allein
> Die Warteschlange war schon immer ein Seismograf gesellschaftlicher und
> privater Verfasstheit. Eine Drängelei durch Geschichte und Wissenschaft.
Bild: Für geordnetes Anstehen ist Disziplin vonnöten (hier vor einer Bäckere…
Es scheint, dass die Warteschlangen zurückkommen nach Deutschland. Bislang
waren sie etwas, woran sich nur die sehr Alten erinnern konnten; die in
[1][Westdeutschland] Aufgewachsenen kannten höchstens Schwarzweißfotos von
Warteschlangen vor Lebensmittelgeschäften nach Ende des Zweiten Weltkriegs.
Wenn es Schlangen gab, dann waren es Luxusschlangen vor besonders
angesagten Restaurants oder Clubs – und das Stehen darin war die
Bestätigung, die richtige Wahl getroffen zu haben.
Die Schlangen, in denen es um etwas geht, um Essen, um die Frage, wo man
lebt, das waren die der Anderen: in der Ausländerbehörde oder bei der
Lebensmittelausgabe der Tafeln. Die meisten hat man ins Internet
umgeleitet, um Personal zu sparen: Arzttermine, Bahnfahrkarten sind nichts
mehr, wofür man sich anstellen müsste. Eigentlich. Zu [2][Coronazeiten]
sind plötzlich sportplatzlange Schlangen vor den Impfzentren aufgetaucht,
die zwei Jahre später spurlos verschwanden.
Andere scheinen zu bleiben: Vor der Hautarztpraxis um die Ecke windet sich
morgens eine Schlange von Menschen, die in die offene Sprechstunde kommen,
weil die festen Termine so rar sind. Die Schlangen vor den Tafeln sind
inzwischen so lang, dass sie selbst denen auffallen, die sich dort nicht
anstellen müssen.
Noch sind Warteschlangen für uns das Unerhörte, eine Störung unserer
störungsfreien Abläufe, und jedes Unternehmen, das seine Kund:innen bei
Laune halten will, versucht sie zu vermeiden. In den Ländern des Ostblocks
hat Warten jahrzehntelang den Alltag bestimmt, vor allem, aber nicht nur
den der Frauen, die sich für Lebensmittel einreihten. Diese Schlangen waren
ein gefundenes Fressen für US-Soziolog:innen, die dort Anschauungsmaterial
fanden für ihre Studien zu Gerechtigkeitsempfinden und den Umgang mit
sozialen Normen, das es in den rundum versorgten USA nicht gab.
Was fanden sie heraus? Ein paar Zahlen: Laut einer Umfrage in Polen
verbrachten die Frauen dort durchschnittlich 3 Stunden und 37 Minuten pro
Tag für ihre Einkäufe. 1982 stellte man fest, dass in der
durchschnittlichen Warteschlange 53 Personen standen, 32 Frauen und 21
Männer. Und etwas über Machtstrukturen: Selbst in den Schlangen, in denen
nahezu ausschließlich Frauen drängten, machten sich die wenigen Männern zu
selbst ernannten Ordnern.
[3][Soziolog:innen lesen die Warteschlange], die in der Regel ohne
körperliche Gewalt auskommt, als Beispiel dafür, dass Menschen einen
gemeinsamen Gerechtigkeitssinn entwickeln. Es gibt sogar Stimmen, die in
der Selbstdisziplin, die für geordnetes Anstehen erforderlich ist, eine
Voraussetzung für soziales Leben sehen. Warteschlangen mögen als Reihe
gewordene Mangelverwaltung langfristig für soziale Unruhe sorgen – sie
selbst sind konservativ und versuchen sich als Struktur zu erhalten. Selbst
diejenigen, die sie mit Gewaltandrohung vor Vordrängler:innen
verteidigen, schrecken letztlich vor der Eskalation zurück, um sie nicht zu
gefährden.
## Kostspieliges Warten
Laut New York Times hat das Warten in den Ländern des Ostblocks nicht
unwesentlich zum Bankrott des Systems beigetragen: 30 Billionen Dollar
sollen in der Sowjetunion jährlich verloren gegangen sein, weil die Bürger
nicht am Arbeitsplatz waren, sondern [4][vor Läden anstanden]. Das
monatliche Warten, um Miete und Elektrizität zu bezahlen, soll allein in
Moskau 20 Millionen Arbeitsstunden gekostet haben. Warteschlangen waren ein
so selbstverständlicher Anblick in Ländern wie der Sowjetunion, aber auch
Polen und der DDR, dass man dort gleich einen Begriff dafür geprägt hat:
sozialistische Wartegemeinschaft.
Das ist nichts im Vergleich zu den Schlangen in der Sowjetunion zwischen
1939 und 1941, als immer mehr Landbewohner in die Städte kamen. Nach einem
Bericht des Volkskommissariats für Binnenhandel versammelten sich 33.000
Menschen in der Nacht vom 13. auf den 14. April 1939 in Moskau vor den
Geschäften, in der Nacht auf den 17. April waren es 438.000. Sie kamen mit
Geschäftsschluss und harrten bis zum nächsten Morgen aus. Waren
Lebensmittel oder Kleider nach drei bis vier Stunden ausverkauft, blieben
die Leute bis zur nächsten Lieferung.
Die Menschen schrieben zahllose Briefe an die Obrigkeit, um ihre Notlage zu
schildern. Im Februar 1940 wandte sich ein Mann aus Nischni Tagil direkt an
Stalin und schrieb: „Josif Wissarionowitsch, es geschieht etwas
Schreckliches. Sogar für das Brot muss man sich von zwei Uhr morgens an in
einer Schlange anstellen und dort bleiben, um zwei Kilo Roggenbrot zu
bekommen. Man beginnt schlechte Gedanken zu haben. Es ist hart, sein Kind
hungernd zu sehen.“
Und ein anderer schreibt: „Wenn etwas in einem Geschäft auftaucht, bildet
sich sofort eine lange Schlange in der Kälte die ganze Nacht lang: die
Mütter mit den Kindern im Arm im Wind, Männer, Alte, bis zu sechs- oder
siebentausend Personen. Kurz gesagt, die Menschen sind wie verrückt. Wisst
Ihr, Genossen, es ist schrecklich, die tollen und sinnentleerten Gesichter
in den allgemeinen Schlägereien zu sehen, um sich mit ich weiß nicht
welchem Produkt in den Geschäften zu versorgen. Es ist nicht selten, dass
Menschen in der Eile erstickt oder zu Tode geprügelt werden.“
## Höhere Preise sollten Schlangen kürzen
Die Obrigkeit hat die Briefe archiviert. Sie hat versucht, den Schlangen
ein Ende zu machen und damit den Produktionseinbußen. Nicht dadurch, dass
sich die Versorgungslage besserte, sondern indem man die Preise erhöhte und
die Zuteilungsraten drittelte, um die Nachfrage zu senken. Als das nichts
half, wurde in zahlreichen Städten das Schlangestehen verboten. Vor den
großen Geschäften standen Polizisten und kontrollierten die Papiere der
Einkaufenden. Die Menschen vom Land wurden umgehend zurückgeschickt.
Angehörige der Miliz gewöhnten sich an, Schlangen umzudrehen und die vorne
Wartenden ans Ende zu verbannen.
Aber es half nichts: Das Volk erfand Camouflagestrategien, um die
Warteschlangen aufrechtzuerhalten. Die Teilnehmer:innen zerstreuten
sich, sobald die Polizei auftauchte, und formierten sich neu, wenn sie
verschwand. Sie taten so, als gingen sie spazieren oder warteten auf die
Straßenbahn. Die Warteschlangen waren widerständig in ihrer Not und sie
verschwanden erst mit dem Einmarsch der Deutschen.
Jahrzehnte später wurde das Nichtwartenmüssen in der Bundesrepublik zum
Ausweis der Überlegenheit: Als Staat, der es nicht schafft, seine
Bürger:innen unverzüglich mit Autos zu versorgen, muss die DDR zum
Scheitern verurteilt sein. Die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung ist zum
gefühlten Grundrecht aufgestiegen – kein Wunder, dass die Stimmung in den
Warteschlangen mies ist.
Vielleicht auch, weil in der Geschichte immer die Machtlosen warten
mussten, früher in den Vorzimmern der Mächtigen, heute [5][an den
Economy-Schaltern der Fluglinien], während die Business-Kundschaft längst
im Flieger sitzt. Unsichtbar, aber allen bewusst klafft neben der Schlange
derer, die auf die offene Sprechstunde beim Arzt warten, die Lücke der
Privatpatient:innen, die längst einen Termin haben.
So sind die Schlangen viel mehr als das ästhetische Ärgernis
aneinandergereihter Gesäße, als die sie ein amerikanischer Soziologe
beschrieben hat: Sie sind Seismograf individueller wie auch sozialer
Gereiztheit. Oder Entspanntheit, wenn man es positiv deutet.
Die Autorin hat 2014 das Buch „Warten. Erkundungen eines ungeliebten
Zustands“ im Ch. Links Verlag veröffentlicht.
8 Aug 2023
## LINKS
[1] /Westdeutschland/!t5031048
[2] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746
[3] https://www.deutschlandfunk.de/soziales-alltagsphaenomen-die-erforschung-de…
[4] https://www.nytimes.com/1982/10/24/magazine/life-among-the-russians.html
[5] /Flugangst-positiv-genutzt/!5946321
## AUTOREN
Friederike Gräff
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