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# taz.de -- Dienstleistungen per App bestellen: Die Rückkehr der Diener
> Boten auf Fahrrädern liefern zu jeder Tages- und Nachtzeit, was per App
> bestellt wurde.Angenehm ist das nur für die Auftraggeber.
Bild: Na, noch Lust auf eine Bio-Gurke abends um elf? Eine ausgebeutete Arbeits…
Hamburg taz | Eine frische Tomate um 22.34 Uhr per Lieferservice zu sich
nach Hause zu bestellen – kann man machen. Dann muss man sie aber auch
angemessen bezahlen. Und sollte sich über die gesellschaftlichen Folgen
Gedanken machen.
Doch wer sollte überhaupt auf die Idee kommen, spät abends oder früh
morgens eine einzelne Tomate oder Biogurke per Lieferdienst zu bestellen?
Von allein wahrscheinlich niemand. Aber der Lieferdienst „Gorillas“ wirbt
explizit damit. Man muss nicht Adorno gelesen haben, um zu wissen, dass
Bedürfnisse auch durch das Angebot erzeugt werden. Das Angebot bestimmt
zumindest dann die Nachfrage, wenn es um Dinge geht, die wir nun wirklich
nicht brauchen. Und dieser Sektor [1][explodiert förmlich seit der
Coronapandemie].
„Dinnerly“ oder „Hellofresh“ liefern Kochboxen mit der abgewogenen Menge
Zutaten für ein bestimmtes Rezept zum Selbstkochen, inklusive des passenden
Weins. Restaurants beauftragen „Lieferando“, um Haute Cuisine zum Aufwärmen
in der Mikrowelle zur Kundin zu bringen. „Crabbel.de“ vermittelt
Entertainer*innen für Kindergeburtstage, „Careship“ verspricht,
innerhalb von 24 Stunden liebevolle Pflegekräfte für die Angehörigen
bereitzustellen. „Pawshake“ bietet das Gleiche für Haustiere. Auf
Craigslist oder bei Ebay Kleinanzeigen kann man jemanden buchen, der
während der eigenen Abwesenheit dem Stromableser die Tür aufmacht oder
zwischen 7 und 16 Uhr für einen auf den Telekom-Mann wartet.
## Coronapandemie als Katalysator
Viele der digital nutzbaren Dienstleistungen gab es schon vor der
Coronapandemie. Aber Hochkonjunktur erreichten sie mit den Lockdowns, als
sich große [2][Teile des gesellschaftlichen Lebens ins Digitale] und in die
eigenen vier Wände verschoben.
In anderen Gesellschaften, etwa in US-amerikanischen Großstädten, ist es
schon lange normal, alle möglichen Dienstleistungen per Onlineservice bei
prekär Beschäftigten, oft migrantischen Arbeitnehmer*innen zu
bestellen. Aber auch in norddeutschen Großstädten prägen die Kurierfahrer
verschiedener Lieferdienste inzwischen das Straßenbild. Dabei könnte man um
die Umstände wissen, unter denen die Arbeit verrichtet wird: Sie ist
schlecht bezahlt, befristet, gefährlich, unglaublich stressig und meistens
von einem Algorithmus koordiniert.
Am anderen Ende der Dienstleistung steht hingegen die Empfängerin, für die
es unglaublich bequem ist. Es ist billig, Corona-safe und angenehm, denn
sie wird bedient. Gerade [3][das Gefühl, bedient zu werden dürfte
ausschlaggebend sein] bei der Frage, ob man die Tomate online bestellt oder
doch lieber zum Gemüsehändler geht.
## Bestellung anonym und ohne Scham
Aber der Klick auf den „Jetzt bestellen“-Button fördert nicht nur
ausbeuterische Arbeitsmodelle, sondern vergrößert auch die
gesellschaftliche Kluft zwischen Diener*innen und Bedienten. Es
entmenschlicht, wenn man sich überflüssige Waren zu unmöglichen Uhrzeiten
bestellt, weil man es anonym machen kann und sich nicht schämen muss – weil
man den Diener fast gar nicht sieht, bevor er zum nächsten Termin hetzt.
Bezahlt hat man ja eh schon per Paypal. Wir entmündigen uns selbst, indem
wir uns weniger selbst kümmern und bedienen lassen.
Der CEO von Gorillas sagt über sein Geschäftsmodell: „Gorillas existiert,
um dir sofortigen Zugang zu deinen Bedürfnissen zu ermöglichen.“
Triebaufschub scheint unmöglich, warten frustrierend, selbst zum Supermarkt
zu gehen eine Zumutung. Das ist Suchtverhalten, und Gorillas spielt damit,
wenn es auf Werbetafeln schreibt: „Ich will weniger bei Gorillas bestellen,
ich will weniger bei Gorillas bestellen, ich will weniger bei Gorillas
bestellen, ich will…“
Aber wenn Menschen ihr Leben in dem Glauben – und früher oder später auch
mit dem Anspruch – organisieren, jedem ihrer Bedürfnisse werde sofort
entsprochen, wird es für die anderen um sie herum ziemlich unangenehm.
Und es ist auch nicht „ganz normaler“ Kapitalismus, sondern der Boom der
Lieferungen aller Art markiert [4][die nächste Stufe im
Turbo-digital-Endzeit-Entmenschlichungs-Kapitalismus.] Ein paar
Programmierer verdienen sich dumm und dümmer damit, dass eine Schar
Superprekärer unter extrem schlechten Bedingungen für sie arbeitet, um
Konsument*innen Sachen zu bringen, die sie nicht brauchen. Oder die sie
dringend brauchen, aber aufgrund ihrer eigenen Zwänge nicht selbst
organisieren können, weil ihnen die Zeit und die Energie fehlen. Keine
Ahnung, was schlimmer ist, wahrscheinlich geht es oft Hand in Hand.
Nun könnte man fragen: Was regst du dich auf, es wird doch niemand
gezwungen, die Dienstleistung in Anspruch zu nehmen. Lieferboten,
Pflegekräfte und Haustierstreichler*innen bieten ihre Arbeitskraft
schließlich freiwillig an. Es wird auch niemand gezwungen, beim Städtetrip
eine AirBnB-Wohnung anzumieten. Aber die Versuchung ist da: Das Hotel ist
viel teurer, der eigene Job lässt es nicht zu, dass man stundenlang auf den
Techniker wartet, und wer hat schon Bock, nach Feierabend aufwendig zu
kochen, geschweige denn die Zutaten einkaufen zu gehen?
## Entkoppelung der Lebenswelten
Es ist trotzdem verwerflich, weil es die Entkopplung der Lebenswelten
vorantreibt. Was wissen die, die sich bedienen lassen, von denen, die sie
bedienen? Wahrscheinlich am liebsten so wenig wie möglich, sonst würde es
schwer fallen, sie um halb elf abends durch die Stadt zu treiben für eine
einzelne Tomate.
Also, wenn nächstes mal die Sucht kickt, vielleicht einfach mal bildlich
vorstellen, wie Fernanda, Amal, Carlos, Mike oder Santiago für 10,50 Euro
pro Stunde durch den Regen fahren. Und dann einfach nicht bestellen,
sondern schön in Ruhe einkaufen gehen.
20 Aug 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Katharina Schipkowski
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