| # taz.de -- Untersuchungsausschuss zu Anis Amri: Dokumente des Versagens | |
| > Gut drei Jahre lang arbeitete ein Ausschuss im Bundestag das | |
| > islamistische Attentat von Anis Amri in Berlin auf. Was bleibt, sind | |
| > zentrale offene Fragen. | |
| Bild: Gemeinsames Pressestatement der Obleute im Untersuchungsausschuss Breitsc… | |
| Am Freitagvormittag sitzen Martina Renner, Irene Mihalic und Benjamin | |
| Strasser mal nicht im Bundestag, sondern in der Bundespressekonferenz | |
| gleich gegenüber. Gut drei Jahre lang hatten sie zuvor immer wieder im Saal | |
| 2.600 des Parlaments über den Fall Anis Amri getagt, zu dessen | |
| Terroranschlag 2016 in Berlin. Auf 129 Sitzungen brachte es der | |
| Untersuchungsausschuss. Nun ziehen die drei OppositionspolitikerInnen der | |
| Linken, Grünen und FDP Bilanz. Eine bittere Bilanz. | |
| Linken-Obfrau Renner konstatiert, wie die Sicherheitsbehörden Hinweise zu | |
| dem Islamisten nicht verfolgten oder nicht weitergaben. Die Behörden hätten | |
| „überhaupt keine Idee gehabt, wie dschihadistische Netzwerke agieren“. Für | |
| die Grüne Mihalic ist völlig unverständlich, dass auch im Nachgang nicht | |
| konsequent ermittelt wurde. Bis heute blieben zu dem Anschlag daher „viele | |
| Fragen offen“. Dem schließt sich FDP-Obmann Strasser an: „Wir glauben | |
| nicht, dass diese Bundesregierung alle Steine umgedreht hat, die es | |
| umzudrehen galt. Das Aufklärungsversprechen wurde nicht eingelöst.“ | |
| Es ist ein ernüchterndes Fazit der dreijährigen Aufklärungsarbeit zu dem | |
| bisher schwersten islamistischen Anschlag in Deutschland. Am 19. Dezember | |
| 2016 war Anis Amri mit einem Lkw in den Weihnachtsmarkt am Berliner | |
| [1][Breitscheidplatz] gefahren, hatte dabei elf Menschen getötet und | |
| dutzende schwer verletzt. Zuvor hatte der Tunesier den Lkw-Fahrer | |
| erschossen. Nach der Tat flüchtete Amri und wurde vier Tage später in | |
| Italien, in einem Vorort von Mailand, von Polizisten nach einem | |
| Schusswechsel getötet. | |
| Seit März 2018 hatte sich der Untersuchungsausschuss im Bundestag dem | |
| Anschlag gewidmet. Rund 150 Zeugen wurden vernommen, 320 Beweisanträge | |
| gestellt. Am Donnerstag traf sich der Ausschuss zu seiner vorerst letzten | |
| Sitzung, vernahm noch einmal stundenlang einen Verfassungsschützer. Und bis | |
| zuletzt arbeiteten die Fraktionen an ihrem mehr als 1.000 Seiten starken | |
| Abschlussbericht. | |
| ## Behörden hätten Amri stoppen können | |
| Der Bericht ist noch nicht öffentlich und wird erst nächste Woche offiziell | |
| verabschiedet. Er liegt der taz aber in wesentlichen Teilen vor. Und er | |
| zeigt: Die Sicherheitsbehörden hätten Anis Amri stoppen können. Wie groß | |
| ihre Fehler aber waren, darüber gibt es auch nach drei Jahren | |
| Ausschussarbeit keine Einigkeit. Während die Koalitionsfraktionen die | |
| damalige Belastung der Behörden in der Hochphase der Geflüchteteneinreisen | |
| und internationalen IS-Terrorwelle herausstellen, beklagt die Opposition | |
| bei den Stellen Untätigkeit und Fehleinschätzungen. | |
| Klar ist, dass Anis Amri kein isolierter Einzeltäter war. Im Juli 2015 war | |
| der Tunesier über Italien nach Deutschland gekommen, bewegte sich hier in | |
| islamistischen Netzwerken. Etwa dem des Hildesheimer Predigers Abu Walaa, | |
| der als IS-Statthalter in Deutschland galt und bei dem Amri eine | |
| Privataudienz erhielt. Auch in Nordrhein-Westfalen hielt der 24-Jährige | |
| engen Kontakt zu Abu-Walaa-Vertrauten, hatte zu deren Islamschule zeitweise | |
| einen Schlüssel. In Berlin brachte es Amri bis zum Vorbeter in der | |
| radikalen [2][Fussilet]-Moschee. Und ganz am Ende stand er, via Telegram, | |
| in Kontakt mit einem libyschen IS-Mentor mit Alias „Moumou1“. | |
| Und klar ist auch, dass die Sicherheitsbehörden zumindest die deutschen | |
| Netzwerke eng überwachten. Auf die Abu-Walaa-Gruppe hatte das | |
| Landeskriminalamt NRW einen Informanten angesetzt, der intern als VP01 | |
| firmierte. In der Fussilet-Moschee gab es einen V-Mann des Bundesamts für | |
| Verfassungsschutz. Und auch Amri selbst war früh auf dem Schirm der | |
| Behörden. Schon im November 2015 warnte die VP01, dass Amri Kalaschnikows | |
| besorgen und in Deutschland etwas „machen“ wolle. Auch danach redete Amri | |
| weiter von Waffen, plante zunächst sogar einen Anschlag aufs Berliner | |
| Gesundbrunnen-Center. | |
| ## Das Berliner LKA stellte die Überwachung ein | |
| Insgesamt 13 Mal wurde der Fall des Tunesiers darauf im Gemeinsamen | |
| Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) aller Sicherheitsbehörden in Berlin | |
| besprochen – so oft wie wohl kein anderer Islamist damals. Und dennoch | |
| verloren die Behörden Amri am Ende aus den Augen. Das Berliner LKA stellte | |
| im September 2016 seine Überwachungsmaßnahmen ein, hielt ihn nur noch für | |
| einen Kriminellen, weil er Drogen verkaufte. Bis Anis Amri am 19. Dezember | |
| 2016 seinen Anschlag beging. | |
| Die Union will erst später Bilanz zur Ausschussarbeit ziehen, die SPD aber | |
| nimmt die Sicherheitsbehörden etwas in Schutz. Zwar habe es „erhebliche | |
| Defizite bei der Fallbearbeitung“ gegeben, sagt SPD-Obmann Fritz | |
| Felgentreu. Es wäre durchaus möglich gewesen, Amri an der einen oder | |
| anderen Stelle im Vorfeld zu stoppen. „Wir haben aber weder Anzeichen für | |
| schwerwiegende Versäumnisse in den Ermittlungen gefunden, die das Geschehen | |
| nochmal in ganz anderem Licht erscheinen lassen, noch für die gezielte | |
| Vertuschung von Vorgängen.“ | |
| Grüne, FDP und Linke sehen das anders. Im Abschlussbericht schrieb die | |
| Opposition deshalb einen eigenen Bewertungsteil, nochmal rund 130 Seiten | |
| lang. Die Sicherheitsbehörden hätten Hinweise auf Amris Gefährlichkeit | |
| „teils ignoriert, teils falsch bewertet“, heißt es dort. Wichtige | |
| Ermittlungsstränge seien „konsequent vernachlässigt“, der Tunesier stets | |
| als Einzeltäter behandelt und sein Netzwerk nicht ausreichend ausgeleuchtet | |
| worden. Damit bestehe auch heute „die Gefahr eines weiteren, verheerenden | |
| Anschlags“. | |
| Die Opposition nimmt einzig das LKA Nordrhein-Westfalen in Schutz, das Amri | |
| als erstes beobachtete und als Gefährder einstufte. Dort hatte man bis zum | |
| Schluss vor seiner Gefährlichkeit gewarnt und das BKA um eine Übernahme des | |
| Falls gebeten – ohne Erfolg. Das BKA kritisiert die Opposition dafür | |
| scharf. Dass sich die Bundesbehörde gerade im Fall des bundesweit | |
| vernetzten Top-Gefährders Amri der Verantwortung entzog und Formalien | |
| vorschob, sei „weder überzeugend noch akzeptabel“. Das BKA hätte schon von | |
| sich aus den Fall an sich ziehen müssen. | |
| ## Auch den BND kritisiert die Opposition | |
| Auch SPD-Mann Felgentreu hätte das Amt dafür für „prädestiniert“ gehalt… | |
| Er verweist aber auch auf BKA-ZeugInnen, die im Ausschuss schilderten, wie | |
| überlastet sie damals waren. Die Opposition lässt das nicht gelten: Dann | |
| hätte eben eine Priorisierung der Aufgaben stattfinden müssen. | |
| Den Vorwurf macht die Opposition auch den anderen Bundesbehörden. Dass etwa | |
| der damalige Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen behauptete, der Fall | |
| Amri sei „ein reiner Polizeifall“ gewesen, mache „fassungslos“ und sei | |
| „klar widerlegt“. So sei das Amt bereits im Januar 2016 mit einem | |
| Behördenzeugnis mit Amri beschäftigt gewesen. Auch bleibe die Rolle ihres | |
| V-Manns in der Fussilet-Moschee nebulös – die Bundesregierung verweigerte | |
| bis zum Schluss eine Aussage von ihm oder seinem V-Mann-Führer im | |
| Ausschuss. Zudem kritisiert der Ausschuss, warum der Verfassungsschutz | |
| nicht von sich aus mehr Interesse am Fall Amri zeigte – spätestens als das | |
| Berliner LKA im Herbst 2016 keine Handhabe mehr gegen den Tunesier sah. | |
| Auch dies sei ein „massiver Fehler“ gewesen. | |
| Auch den BND kritisiert die Opposition als zu passiv. Dieser sei ebenfalls | |
| seit Februar 2016 in den Fall eingeweiht gewesen, aber selbst als dort | |
| Hinweise aus Marokko zu Amri eintrafen, sei der BND „auffällig teilnahmslos | |
| und untätig“ geblieben. Auch im GTAZ hätten sich die Sicherheitsbehörden | |
| „absolut unzureichend“ ausgetauscht: Verantwortungen seien abgeschoben, | |
| Absprachen zu Amri missachtet worden. Auch SPD-Mann Felgentreu spricht hier | |
| von einer „mangelhaften Kooperation“. Für die Opposition hat das GTAZ die | |
| Verhinderung des Anschlags damit wohl „sogar noch erschwert“. | |
| Schon in den Ausschusssitzungen hatten Grüne, Linke und FDP zudem beklagt, | |
| dass ihre Aufklärungsarbeit von der Regierung blockiert werde. Etliche | |
| Akten seien dem Ausschuss nur geschwärzt oder gar nicht übermittelt worden, | |
| Zeugen durften nicht vernommen werden oder blieben wortkarg. „Das Dogma der | |
| Geheimhaltung war allumfassend“, vermerkt die Opposition bitter. Passend | |
| dazu will der Verfassungsschutz erst im Mai bemerkt haben, dass er dem | |
| Ausschuss rund 2.800 Seiten Akten noch nicht übermittelt hatte – just nach | |
| Schluss der Beweisaufnahme. Der Ausschuss stritt zuletzt deshalb, ob es | |
| noch eine weitere Sitzung mit Zeugenbefragungen geben müsse. | |
| All dies sind Missstände, die teils seit Längerem bekannt sind. Im | |
| Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses zeigen sie aber noch einmal | |
| wie unterm Brennglas die Probleme der Sicherheitsbehörden in jüngster Zeit | |
| auf – allen voran in der föderalen Zusammenarbeit. | |
| ## „Bitter und traurig“ | |
| Union und SPD sehen die Probleme aber inzwischen behoben: Das BKA habe mit | |
| dem Radar-iTE-System ein neues Instrument, um Gefährder zu bewerten. Die | |
| „Koordinierungsfunktion“ der Bundesbehörden wurde gestärkt. Neue Gesetze | |
| brauche es daher nicht. Der Opposition ist das allerdings zu wenig: Sie | |
| fordert, das GTAZ grundlegend zu reformieren, Gefährder intensiver zu | |
| beobachten, die Geheimdienste und ihre V-Leute enger zu kontrollieren. | |
| Und für sie ist mit Abschluss des Ausschusses auch klar, dass die Rolle | |
| Amris „neu bewertet“ werden muss: Er dürfe nicht mehr als Einzeltäter | |
| gesehen werden, sondern als Teil eines islamistischen Netzwerks. Dort sei | |
| er geschult und logistisch unterstützt worden. Einiges spreche dafür, dass | |
| der Prediger Abu Walaa seinen Anschlag absegnete, dass Amri womöglich sogar | |
| auf dem Breitscheidplatz noch Helfer hatte. Im Lkw fanden sich unbekannte | |
| DNA-Spuren, zudem wurde am Tatort ein Mann gesehen, der Amris Freund Bilel | |
| Ben Ammar ähnelte. Auch sei ungeklärt, von wem Amri seine Pistole bekam, | |
| mit der er den LKW-Fahrer Lukasz U. erschoss. Und wie genau er auf seiner | |
| Flucht nach Italien gelangte – auch hier vermutet die Opposition Helfer. | |
| Es sind zentrale Fragen, die auch nach drei Jahren Ausschussarbeit offen | |
| bleiben. „Das ist bitter und traurig“, räumt FDP-Mann Strasser ein. Dies | |
| ist es aber vor allem für die Hinterbliebenen der Anschlagsopfer. Einige | |
| hatten die Ausschusssitzungen immer wieder von der Empore verfolgt, etwa | |
| Astrid Passin, die auf dem Breitscheidplatz ihren Vater verlor. Der | |
| Ausschuss habe „grundsätzlich eine außergewöhnliche Arbeit geleistet“, s… | |
| die Berlinerin. „Die Anstrengungen, gerade der Opposition, waren immer | |
| spürbar. Ich denke, alle haben verstanden, wie wichtig diese Aufarbeitung | |
| für uns Betroffene ist.“ | |
| Allerdings sei es bedrückend, dass etwa angesichts der ungeklärten | |
| DNA-Spuren am LKW nicht mal sicher sei, ob Amri der alleinige Attentäter | |
| war, sagt Passin. Auch die Versäumnisse der Behörden seien schwer | |
| erträglich, genauso die nachträglichen Kämpfe mit den Bundesbehörden um | |
| Aufklärung. „Das macht es leider fast unmöglich, mit der Tat | |
| abzuschließen.“ | |
| 11 Jun 2021 | |
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| Konrad Litschko | |
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