# taz.de -- Amri-Untersuchungsausschuss in Berlin: Viel zu viele tödliche Fehl… | |
> Der Ausschuss legt nach vier Jahren seinen Abschlussbericht vor. Er | |
> listet detailliert die Pannen der Ermittlungsbehörden auf. | |
Bild: Ort des Terrors: Am Breitscheidplatz erinnert ein Mahnmal an den 19. Deze… | |
BERLIN taz | Sie haben sich 64 Mal getroffen in den vergangenen vier | |
Jahren; 97 Zeugen vernommen, einige mehrfach; bisweilen über zwölf Stunden | |
am Stück getagt und mehrere Terrabyte digitale Akten gesichtet, zusätzlich | |
zu den Hunderten analogen Ordnern. Es war eine Mammutaufgabe, die der | |
[1][Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses zum Terroranschlag] auf | |
den Breitscheidplatz absolviert hat – was der Bedeutung des Verbrechens | |
auch angemessen war. Am Montag stellten Ausschussmitglieder den [2][1.200 | |
Seiten starken Abschlussbericht] vor. | |
Einig sind sich die Vertreter der Fraktionen (in diesem Fall ausschließlich | |
Männer) vor allem in zwei Punkten: Es gab nicht den einen großen Fehler, | |
der letztlich zum Attentat mit zwölf Toten führte, sondern eine ganze Reihe | |
von Pannen, fehlenden Absprachen, Fehleinschätzungen und Kompetenzgerangel | |
zwischen den Sicherheitsbehörden. „Wir haben zahlreiche Fehler | |
festgestellt“, sagt der Ausschussvorsitzende Stephan Lenz (CDU). „Die Summe | |
dieser Fehler und Versäumnisse hat den Anschlag zumindest begünstigt.“ | |
Auch hätten sich danach besonders im stark kritisierten Landeskriminalamt | |
(LKA) [3][viele Strukturen verändert], dies würde einen solchen Anschlag | |
inzwischen deutlich weniger wahrscheinlich machen. Man habe rund 600 | |
zusätzliche Stellen geschaffen – die meisten im Staatsschutz zur | |
Terrorabwehr. Dennoch sagt Lenz: „Eine absolute Sicherheit, dass es so | |
einen Anschlag nie wieder geben wird, werden wir nicht erreichen können.“ | |
Anis Amri war am 19. Dezember 2016 mit einem Lastwagen absichtlich in den | |
Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gefahren. Dabei starben elf Menschen, | |
rund 70 wurden zum Teil schwer verletzt; den Fahrer des Lkw hatte Amri | |
zuvor getötet. Er selbst wurde wenige Tage später auf der Flucht in Italien | |
erschossen. | |
Der Anschlag in Berlin kam für Experten nach den Attentaten in anderen | |
europäischen Großstädten wenig überraschend. Kurz danach stellte sich | |
jedoch heraus, dass Amri den deutschen Ermittlungsbehörden kein Unbekannter | |
war. Er galt als islamistischer Gefährder, also potenzieller Gewalttäter, | |
und war von mehreren Polizeibehörden überwacht worden – bis das Berliner | |
LKA im Juni 2016 die Observation abbrach. Warum das genau geschah, war eine | |
von 95 Leitfragen des Ausschusses. | |
## Islamisten schauen keine Pornos? | |
Im Kern war die Berliner Polizei damals zu dem Schluss gekommen, dass Amri, | |
weil er Drogen nahm, damit handelte und auch Pornos anschaute, kein | |
Islamist mehr sein könne. „Diese Fehleinschätzung erklärt vieles“, betont | |
Lenz. Darüber hinaus sei die Behörde aufgrund der akuten Terrorgefahr | |
überlastet und personell mangelhaft ausgestattet gewesen. Es fehlte der | |
Austausch an Informationen mit Sicherheitsbehörden des Bundes und | |
Nordrhein-Westfalens, wo Amri sich ebenfalls lange aufhielt, und auch der | |
Blick in die islamistische Szene sei getrübt gewesen. „Das LKA hatte keinen | |
Überblick, welche Gefährder sich in Berlin aufhielten.“ | |
In der Folge sei auch das [4][Verbot der Fussilet-Moschee] in Moabit, lang | |
bekannter Treffpunkt von Extremisten, von der Innenverwaltung nicht schnell | |
genug vorangetrieben worden, sagte Lenz. Verantwortlich dafür war der | |
damalige CDU-Innensenator Frank Henkel. | |
Henkel war im Nachhinein vorgeworfen worden, er habe – politisch motiviert | |
– eine größere Priorität auf die Überwachung der linken Szene gelegt und | |
entsprechend Kräfte für die Beobachtung von Hausprojekten in der Rigaer | |
Straße und konkret der Kneipe „Kadterschmiede“ abgezogen, die er räumen | |
lassen wollte – vergeblich. Der Untersuchungsausschuss kam hier nicht zu | |
einer zu gemeinsamen Einschätzung. | |
Laut Frank Zimmermann (SPD) lässt sich der Vorwurf durch die Arbeit des | |
Ausschusses nicht belegen. Amri habe damals beim LKA nicht als der | |
gefährlichste Gefährder gegolten; er wäre wohl selbst mit mehr verfügbarem | |
Personal kaum überwacht worden. Benedikt Lux (Grüne) widerspricht: Der | |
Vorwurf liege nicht fern, schließlich handle es sich um eine „erstaunliche | |
Koinzidenz“. | |
Dissens herrscht auch in einem weiteren zentralen Punkt: War Amri ein | |
Einzeltäter oder bestand ein Netzwerk? Eher Ersteres, sagt Zimmermann. | |
„Natürlich hatte Amri Mentoren und traf andere Salafisten, aber es war | |
keine gemeinsame Tat.“ Der linke Innenexperte Niklas Schrader stellt das | |
in Frage: „Es fehlt die Bereitschaft, Amris Netzwerk zu untersuchen.“ | |
Überhaupt ist Schrader nicht zufrieden mit den Ergebnissen. Zahlreiche | |
Fragen seien weiter offen, viele teilweise per Telefonüberwachung | |
gesammelte Daten nicht oder mangelhaft ausgewertet, manche Akten nicht | |
zugänglich. „Auch wir konnten nicht abschließend klären, warum die | |
Observation von Amri eingestellt wurde.“ | |
Kritik äußert auch Astrid Passin, deren Vater bei dem Anschlag starb, und | |
die als Vertreterin der Opfer und Hinterbliebenen den Ausschuss begleitete. | |
Zwar lobt sie dessen Aufklärungswillen, sagt aber auch: „Wir haben | |
Vertrauen verloren.“ Die Untersuchung des Anschlags müsse weitergehen. | |
Eine eventuelle erneute Einsetzung des Untersuchungsausschusses in der | |
nächsten Legislaturperiode halten aber sowohl Lenz wie Zimmermann für | |
unnötig. „Unsere Arbeit wurde nicht behindert, wir haben alle Akten | |
bekommen“, sagt der SPD-Politiker. „Wir müssen vielmehr kontrollieren, ob | |
unsere Erkenntnisse zur Verbesserung auch umgesetzt werden.“ | |
9 Aug 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Amri-Untersuchungsausschuss-Berlin/!5497182 | |
[2] https://www.parlament-berlin.de/C1257B55002AD428/vwContentbyKey/W2AP2GBD045… | |
[3] /Berliner-Konzept-gegen-Islamismus/!5735803 | |
[4] /Islamisten-Treffpunkt-in-Berlin/!5386714 | |
## AUTOREN | |
Bert Schulz | |
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