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# taz.de -- Internationaler Literaturpreis Berlin: Das Wilde lesen
> Ende Juni wird der Internationale Literaturpreis Berlin verliehen. Die
> Bücher auf der Shortlist sind bis dahin gute Leseempfehlungen.
Bild: Die Begegnung mit einer Bärin ließ die Naturforscherin Nastassja Martin…
Im besten Fall können Nominierungslisten für Literaturpreise eine Art
Seismograf sein für das, was sich auf der Welt verschiebt, was uns alle
beschäftigt, bewegt, bekümmert. Die diesjährige Shortlist des
Internationalen Literaturpreises, der seit 2009 jährlich vom Berliner Haus
der Kulturen der Welt (HKW) vergeben wird, hätte das Potenzial dazu, wenn
man sich die in den Büchern behandelten Stoffe so anschaut.
Es geht um den Klimakiller Mensch und um Preppertum (Jenny Offill,
„Wetter“), die Verheerungen der Bodenreform unter Mao in China (Fang Fang,
„Weiches Begräbnis“), schwules Begehren in einer durchkapitalisierten Welt
([1][Jonas Eika, „Nach der Sonne“]), lesbisches Begehren als Muslimin
(Fatima Daas, „Die jüngste Tochter“), die Todesstrafe für eine junge Frau
im iranischen Mullahregime (Ava Farmehri, „Im düstern Wald werden unsere
Leiber hängen“) und nicht zuletzt um die Geschichte einer
Naturwissenschaftlerin, die bei einem Bärenangriff fast gestorben wäre und
entstellt wird (Nastassja Martin, „An das Wilde glauben“).
Die autobiografische Erzählung von Nastassja Martin ist dabei die wohl
überraschendste Geschichte. Die französische Anthropologin ist im August
2015 bei einer Feldforschung in den Wäldern von Kamtschatka unterwegs, als
ein Bär ihr das Gesicht zerfetzt und sie am Kiefer, Jochbein und Bein
verletzt. Schon im ersten Krankenhaus in Russland, einer „gulagähnlichen
Anstalt“, in der sie ans Bett geschnallt wird und sensationsgeile Leute sie
fotografieren, schwört sie sich: „Ich werde darüber schreiben, sobald ich
kann.“
Dies gelingt ihr nun auf beeindruckende Weise, indem sie über den
Gesichtsverlust im Wortsinne und im metaphorischen Sinne nachdenkt, vom
absurden Verdacht erzählt, sie sei Geheimagentin, und davon berichtet, wie
sie zum Objekt eines „medizinischen kalten Krieges“ wurde. Denn als sie in
ein französisches Krankenhaus gebracht wird, erklärt man ihr, an der
Behandlung in Russland sei alles falsch gewesen. Man liest das alles wie
gebannt, der Ton der Erzählung ist pointiert, trocken, manchmal gar
lakonisch.
## Die Stoffe der Erzählungen gäben auch Romane her
Der dänische Schriftsteller Jonas Eika ist für seinen Erzählungsband „Nach
der Sonne/Efter solen“ 2019 schon mit dem Literaturpreis des Nordischen
Rats ausgezeichnet worden. In seinen Storys, die auch, aber bei Weitem
nicht nur von schwulen Liebschaften und Sex handeln, spielt Eika oft auf
große, globalpolitische Themen an – in „Alvin“ etwa geht es um
Derivatehandel und das Jetset-Leben, in „Bad Mexican Dog“ um Tourismus und
Ausbeutung. Inhaltlich wirkt das zum Teil überladen, die Stoffe gäben für
sich genommen Romane her, sprachlich ist „Nach der Sonne“ dicht,
ergreifend, poetisch; und die Beschreibung der Sexualität ist angenehm
klischeefrei.
Wie Eika ist auch die chinesische Autorin Fang Fang alles andere als eine
Unbekannte, sie hat in [2][„Wuhan Diary“ über den Ausbruch des Coronavirus
und den ersten Lockdown berichtet]. „Weiches Begräbnis“ handelt von den
Folgen der chinesischen Bodenreformkampagne, bei der zwischen 1950 und 1952
mehrere Millionen Menschen getötet wurden. Fang Fang erzählt aus der Sicht
einer Frau, die während dieser Zeit von einem Arzt vorm Ertrinken gerettet
wird.
Die Erzählerin hat eine Amnesie, das Vergessen schützt sie zunächst, doch
ihr Sohn rollt die Geschichte wieder auf. So politisch dieser Stoff ist
(nachdem es zunächst gefeiert wurde, wurde das Buch in China vom Markt
genommen), so politisch ist jede Nominierung dieser Autorin für einen Preis
im Ausland. In China hat sie inzwischen Publikationsverbot.
## Muslima und queer
Der Debütroman der algerisch-französischen Autorin Fatima Daas hinterlässt
dagegen einen gemischten Eindruck: Eine junge, queere Frau – ihr eigenes
Alias – setzt sich darin mit den Widersprüchen zwischen dem patriarchalen
muslimischen Glauben und ihrer eigenen Sexualität auseinander. Fatima Daas
findet einen tollen Duktus, allerdings würde man ihrer Erzählerin gern mal
ein paar Klassiker der Religionskritik reichen oder ihr empfehlen, die
unterdrückerischen Strukturen im Islam stärker zu thematisieren.
Anders in Ava Farmehris Roman „Im düstern Wald werden unsere Leiber
hängen“, der Ende der Neunziger in Iran spielt und von einer zum Tod
verurteilten zwanzigjährigen Frau handelt, die während der Islamischen
Revolution „in Gefangenschaft geboren“ wird und doch einfach nur in
Freiheit leben will. Hier dringt eingangs die Wut der jungen Frau gegenüber
dem Regime durch jede Zeile hindurch. Ihr Leben, so liest man, wurde
Erzählerin Sheyda schon genommen, bevor sie zum Tode verurteilt wurde. Die
Autorin ist im Nahen Osten aufgewachsen (wo genau, lässt sie offen), sie
lebt heute in Kanada und schreibt unter Pseudonym.
Komplettiert wird die Shortlist von Jenny Offills allseits gefeiertem Roman
„Wetter“, bei dem die Ich-Erzählerin sich den Auswirkungen des Klimawandels
mehr und mehr gewahr wird – um gegen Ende zur Prepperin zu werden. Ein Buch
über die Sehnsucht nach einer klima- und gesellschaftspolitischen Zäsur,
nach Orientierung, Neuorientierung.
Es ist alles in allem eine starke Vorauswahl, die die siebenköpfige Jury
getroffen hat, gänzlich unverständliche Entscheidungen sind nicht dabei.
Erzählerisch und sprachlich sind alle Titel auf hohem Niveau, inklusive der
Übersetzungen – den Preis werden sich Autor:in (20.000 Euro) und
Übersetzer:in (15.000 Euro) teilen. Verliehen wird er am 30. Juni, dann
hoffentlich auch mit Publikum (das HKW öffnet am 27. Mai wieder).
Bis dahin taugt diese Shortlist gut als Leseliste.
21 May 2021
## LINKS
[1] /Erzaehlungen-von-Jonas-Eika/!5721517
[2] /China-verschaerft-Kontrolle-der-Presse/!5745253
## AUTOREN
Jens Uthoff
## TAGS
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