| # taz.de -- Ausstellung „Fat to Ashes“: Die heilige Agatha und das Schwein | |
| > Um Körper und deren Darstellung geht es der Künstlerin Pauline Curnier | |
| > Jardin. Ihre Schau im Hamburger Bahnhof in Berlin ist aufregend. | |
| Bild: Die Künstlerin Pauline Curnier Jardin steht vor ihrer Installation im Ha… | |
| Dass Kunstkritik durchaus ihre Wirkungen haben kann, lässt sich momentan | |
| [1][im Hamburger Bahnhof] in Berlin besichtigen. Dort ist schon seit Ende | |
| März die Ausstellung von Pauline Curnier Jardin „Fat to Ashes“ aufgebaut, | |
| seit dem 14. April ist sie nun endlich fürs Publikum geöffnet. Die | |
| Einzelausstellung in der historischen Halle ist Teil von Curnier Jardins | |
| [2][Auszeichnung mit dem Preis der Nationalgalerie 2019], und das Video der | |
| raumgreifenden Installation, die so heißt wie die Ausstellung, lässt sich – | |
| nicht nur, aber auch – als ein Kommentar auf eine Besprechung ihrer Kunst | |
| verstehen. | |
| Als „Weiberfastnacht“ verspottete der Rezensent der FAZ Curnier Jardins | |
| Beitrag zur Nominiertenausstellung für den Preis damals, im Sommer 2019. | |
| Die Künstlerin ärgerte sich darüber so sehr, dass sie genau die gefilmt | |
| hat: die Weiberfastnacht. Genauer gesagt jene inzwischen historische, die | |
| letzte Prä-Corona-Weiberfastnacht in Köln. | |
| Aber nicht nur: Die Aufnahmen, auf denen erstaunlich viele Männer in | |
| falschen Uniformen zu sehen sind, bringt Curnier Jardin im Video mit | |
| solchen von den traditionellen Feierlichkeiten zu Ehren der Heiligen Agatha | |
| in Catania und der Schlachtung eines Schweines an einem nicht näher | |
| bestimmten ländlichen Ort zusammen. Gezeigt wird der Film in einer Arena, | |
| die von innen wie ein Zirkuszelt aussieht, von außen wie das Kolosseum, | |
| nachgebastelt aus Marzipanmasse. | |
| ## Mythen und Exzess, Fleisch und Fleischlichkeit | |
| Es geht um Riten, Mythen und Exzess, um Körper und wie diese zur Schau | |
| gestellt werden, um Lust und Gewalt, um Fleisch und Fleischlichkeit. | |
| Menschen sind zu sehen, viele Menschen auf engem Raum, Menschen, die sich | |
| in den Armen liegen, die tanzen, marschieren und torkeln, die singen und | |
| schreien, die sich küssen und aufeinander losgehen. | |
| Curnier Jardin zeigt derbe Bilder menschlicher Ausschweifung, wie sie einem | |
| seit Ausbruch von Corona merkwürdig fremd, fast gruselig vorkommen – und | |
| dazwischen das sterbende Schwein. Gute 20 Minuten voll Blut und Fett, | |
| Konfetti und Luftballons, Gedärme, Rauch, Kerzenwachs, Alkohol, Rauch und | |
| Asche, Getrommel und Gebrüll sind das. | |
| Nach ursprünglichem Plan wäre die Eröffnung der Ausstellung bereits im | |
| vergangenen Herbst gewesen, erst vor gut zwei Wochen hing diese dann wieder | |
| in der Schwebe, am Tag der Pressevorbesichtigung im März, bei der auch die | |
| Künstlerin zugegen war, wurde die erneute Verzögerung bekannt gegeben. | |
| Curnier Jardin, die 1980 in Marseille geboren ist und mittlerweile in | |
| Berlin und Rom lebt und arbeitet, geht es damit wie so vielen | |
| Künstler*innen, deren Ausstellungen wieder und wieder verschoben werden | |
| müssen. Was umso bitterer ist, wenn es sich wie bei ihr um eine immens | |
| wichtige Ausstellung in einer Künstlerinnenkarriere handelt. | |
| ## In Rom während des Lockdowns | |
| Curnier Jardin scheint nach über einem Jahr Pandemie jedoch daran gewöhnt | |
| zu sein, dass Pläne über den Haufen geworfen werden müssen, auch | |
| kurzfristig. Geprägt davon ist auch die zweite Arbeit, die in der Schau zu | |
| sehen ist. „Feel Good“ entstand in Rom, wo sich Curnier Jardin als | |
| Stipendiatin der Académie de France in der Villa Medici aufhielt. | |
| „Traumatisch“ nennt sie die Erfahrung des ersten in Italien bekanntlich | |
| sehr harten Lockdowns, die sie dort machte. | |
| Weitergearbeitet hat sie dennoch – auf spezielle Weise. „Ich wollte erst | |
| gar nichts zeigen“, erzählt sie, doch da sei dieses Produktionsbudget für | |
| eine Gruppenausstellung gewesen. Sie nutzte es, indem sie eine Gruppe | |
| Sexarbeiterinnen engagierte, Sexarbeiterinnen, weil diese durch die | |
| Pandemie und deren Folgen in Italien noch stärker marginalisiert und noch | |
| größeren Gefahren als ohnehin schon ausgesetzt wurden. | |
| Die Frauen zeichneten für die Künstlerin Situationen aus ihrem | |
| Arbeitsalltag. Curnier Jardin, so erklärt sie es, bezahlte sie nach deren | |
| üblichem Tarif für das jeweils Abgebildete. Die Zeichnungen hängen nun an | |
| den Säulen der Halle, umgeben von rituellen Kerzen, wie sie zur Feier der | |
| heiligen Agatha angezündet werden. | |
| ## Schutzheilige von Vergewaltigungsopfern | |
| Zum Gespräch mit der Presse trug Curnier Jardin ein weißes T-Shirt mit | |
| blutroten Kreisen auf den Brüsten – auch das ist eine Anspielung auf Agatha | |
| von Catania, jene Heilige, die gefoltert und der die Brüste abgeschnitten | |
| wurden, weil sie sich – so lautet die Legende – dem römischen Präfekt | |
| Quintianus verweigerte und die entsprechend als Schutzheilige von | |
| Vergewaltigungsopfern, aber auch Brustkrebspatientinnen, Milchammen und | |
| Glockengießern gilt. | |
| Dass Curnier Jardin gerade sie ausgewählt hat, passt zu ihr. Körper und | |
| deren sexuelle Objektivierung sind Themen, die sie umtreiben, St. Agatha | |
| und St. Sebastian seien die beiden Heiligen, die am stärksten sexualisiert | |
| würden. Zu beiden hat Curnier Jardin gearbeitet. Gewonnen hat sie im | |
| September 2019 mit der Videoinstallation „Qu’un sang impur“. Frei angeleh… | |
| an Jean Genets „Un chant d’amour“ erzählt diese von Lust, sexueller | |
| Obsession und erotischer Zerstörungskraft alternder Frauen jenseits der | |
| Menopause. | |
| Curnier Jardins Kunst ist eine, die physisch, nicht nur digital erlebt | |
| werden muss, nicht nur deswegen sollte man sich mit dem Besuch beeilen. | |
| Zwei weitere Ausstellungen junger Künstlerinnen laufen gerade noch im | |
| Hamburger Bahnhof: [3][Bunny Rogers’ „Self Portrait as clone of Jeanne | |
| D’Arc“] und [4][Xinyi Chengs „The Horse with Eye Blinders“]. Die drei | |
| ergänzen sich erstaunlich gut, allesamt stellen sie Körper in den Fokus, | |
| zeigen sie durch den spezifischen Filter der jeweiligen Künstlerin. | |
| Corona hat den Kalender manipuliert, in diesem Falle geht das hervorragend | |
| auf: Rogers setzt sich mit problematischer Darstellung Heranwachsender in | |
| den Medien auseinander, Cheng malt bevorzugt Männer, oft nackt, zärtlich, | |
| intim, aber nicht sexualisiert. | |
| Viel Zeit bleibt nicht, denn „Self Portrait as clone of Jeanne D’Arc“ lä… | |
| nur noch bis 18. April, Zeitfenstertickets sind online erhältlich. | |
| 16 Apr 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Reform-der-Staatlichen-Museen-in-Berlin/!5758941 | |
| [2] /Archiv-Suche/!5577564&s=Preis+der+Nationalgalerie&SuchRahmen=Print/ | |
| [3] https://www.smb.museum/museen-einrichtungen/hamburger-bahnhof/ausstellungen… | |
| [4] https://www.smb.museum/museen-einrichtungen/hamburger-bahnhof/ausstellungen… | |
| ## AUTOREN | |
| Beate Scheder | |
| ## TAGS | |
| Bildende Kunst | |
| zeitgenössische Kunst | |
| Künstlerin | |
| Neue Nationalgalerie | |
| Hamburger Bahnhof | |
| Körper in der Kunst | |
| Körper | |
| Ausstellung | |
| Literatur | |
| Kunst Berlin | |
| Bildende Kunst | |
| Bildende Kunst | |
| Konzeptkunst | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Preis der Nationalgalerie Sandra Mujinga: Invasion der Architektur | |
| Sandra Mujinga, Trägerin des Preises der Nationalgalerie, eröffnete ihre | |
| Installation „IBMSWR“ in Berlin. Ihre Kunst befragt die Architektur der | |
| Gesellschaft. | |
| Roman über Berlin in den 2000ern: Die Dinge geraten außer Kontrolle | |
| „Other People’s Clothes“ ist das dunkel funkelnde Romandebüt von Calla | |
| Henkel. Die Autorin ist auch Künstlerin und betreibt eine Bar in Berlin. | |
| Kunst an Berliner U-Bahnhof: Was in den Sternen steht | |
| Für eine Plakataktion haben sich Künstler*innen mit brasilianischen | |
| Kolleg*innen zusammengetan – und verschönerten, was sonst meist trist | |
| ist. | |
| Mixed-Media-Projekt von Adéola Ọlágúnjú: Was macht dich zum Area Boy? | |
| Adéola Ọlágúnjú, Künstlerin aus Nigera, porträtiert marginalisierte | |
| Männergruppen in der Metropole Lagos. Damit nimmt sie am Mentoring-Programm | |
| Forecast teil. | |
| Porträt des Künstlers Sajan Mani: Ein Akt des Widerstandes | |
| Der aus Indien kommende Künstler Sajan Mani beschäftigt sich mit | |
| historischen und heutigen Ungerechtigkeiten. Nun erhält er den Kunstpreis | |
| Berlin. | |
| Zum Tod der Künstlerin Teresa Burga: Vom Pop zum Konzept | |
| Die peruanische Künstlerin Teresa Burga ist gestorben. In ihrem Werk nahm | |
| sie die Dekolonisierung der Kunst vorweg. |