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# taz.de -- Mixed-Media-Projekt von Adéola Ọlágúnjú: Was macht dich zum A…
> Adéola Ọlágúnjú, Künstlerin aus Nigera, porträtiert marginalisierte
> Männergruppen in der Metropole Lagos. Damit nimmt sie am
> Mentoring-Programm Forecast teil.
Bild: Filmstill aus dem Projekt „Born Throw Way“
Im Grunde ist es unbedeutend, ob Lagos nun die größte Stadt Afrikas ist
oder die (nach Kairo) zweitgrößte. Man hat es bei der nigerianischen
Metropole auf jeden Fall mit einer kaum beschreibbaren urbanen Struktur zu
tun, 14 Millionen Einwohner*innen, 23 Millionen, egal, überschauen lässt
sich das ohnehin nicht mehr, zumal angesichts der immensen Landflucht alle
drei, vier Jahre eine weitere Million dazukommt.
Die Aufteilung der Stadt in einzelne Gebiete ist da eine Art
Schutzmechanismus, um den Überblick zu behalten – die Megacity Lagos setzt
sich zusammen aus Zonen oder sogeannten Areas. In ihnen agieren die „Area
Boys“, Gruppen junger Männer, die sich (nur so halbkorrekt) als Gangs
beschreiben lassen.
Die nigerianische Künstlerin Adéola Olágúnjú beschäftigt sich in ihrer
Mixed-Media-Arbeit „Born Throw Way!“ mit den Area Boys von Lagos, mit der
Ordnung des urbanen Raumes einerseits und den Zugehörigkeits- und
Abgrenzungsstrategien zwischen den unterschiedlichen Gruppen andererseits.
Und damit, wie diese Ordnungen und Strategien miteinander zu tun haben.
Fotografien, Videos, Klänge und Texte ergeben gemeinsam ein Bild der Area
Boys, das nicht in erster Linie dokumentarischen Charakter hat: „Auf der
einen Seite ist es eine Dokumentation“, meint Olágúnjú. „Auf der anderen
nicht, es ist eine Mischung. Es ist ein Blick auf die Realität, auf
Menschen, auf Lagos. An einer bestimmten Stelle ist es auch ein Blick auf
mich, auf meine Perspektive als Künstlerin, die eine Projektion ist.“
## Authentizitätsbehauptung von Dokumentationen
Indem sie aber die Inszenierung, das Gemachte des Gezeigten offenlegt,
denkt diese Kunst die angesichts diverser aktueller Diskussionen durchaus
berechtigte Skepsis gegenüber der Authentizitätsbehauptung von
Dokumentationen gleich mit. „Das ist kein Journalismus, es ist vorgeplant“,
stimmt die Künstlerin zu.
Olágúnjú, geboren 1987 im westnigerianischen Ilesha, kam nach ihrem ersten
Abschluss an der Ladoke Akintola University of Technology Ogbomoso nach
Lagos, aktuell arbeitet sie an der Folkwang Universität der Künste in
Essen. Mit „Born Throw Way!“ nimmt sie [1][an „Forecast“ teil, einem
internationalen Mentor*innenprogramm, dessen Ergebnisse während zwei
Wochenenden vom Berliner Radialsystem als Livestream] präsentiert werden,
Olágúnjús Beitrag ist am 10. April zu sehen.
Als Mentor fungierte hier [2][der deutsche Fotograf Tobias Zielony, auch
der ein künstlerischer Chronist von Subkulturen zwischen Dokumentation und
Inszenierung]: Seine erste größere Arbeit „Curfew“ (2001) porträtierte
Jugendliche in Bristol, in „Manitoba“ ging es um junge Kleinkriminelle in
Winnipeg, später kamen Serien über afrikanische Migrant*innen in
Marseille sowie über die Comorra-Aktivitäten in den Außenbezirken Neapels
hinzu, immer ganz nahe an den Protagonist*innen, denen er viel Raum zur
Selbstdarstellung lässt. Und die er ganz eindeutig in ihrem geographischen
Umfeld verortet, ebenso wie es Olágúnjú mit den Area Boys in Lagos macht.
## Rituale der Abgrenzung und der Zusammengehörigkeit
„Tobias Zielony interessiert sich sehr für die Idee der Area“, bestätigt
Olágúnjú. „Was bedeutet Area? Was macht dich zum Area Boy? Diese Fragen
führen zurück zu seiner eigenen Arbeit, darauf, wie er auf Menschen
schaut.“ Und: auf die Strukturen zwischen den Menschen. Sowohl Zielony als
auch Olágúnjú beschäftigen sich mit Gruppen, und in diese Gruppen treten
bestimmte Verwerfungen auf, Codes, Rituale der Abgrenzung und der
Zusammengehörigkeit, nicht nur untereinander, sondern auch gegenüber
Außenstehenden. Zum Beispiel Künstler*innen, die es sich in der
beobachtenden Position bequem gemacht haben.
Das spannende an „Born Throw Way!“ ist nicht zuletzt der Blick auf diese
Rituale. Und weil der Umgang untereinander hier hochgradig ästhetisiert
ist, bekommt die künstlerische Umsetzung unbewusst einen Hang zum Camp. „Im
Südwesten Nigerias gibt es ein starkes Bewusstsein für Selbstdarstellung
und für Textilien“, bestätigt Olágúnjú zumindest teilweise. „Außerdem
werden Menschen auf der symbolischen Ebene dadurch identifiziert, was sie
tragen: Ich kann recht leicht erkennen, wo jemand herkommt, wenn ich sehe,
was er trägt.“
Freilich muss man das nicht Camp nennen, man kann es auch als kollektive
Identität verstehen: „Eine Gruppe Menschen, die sich entscheidet, die
gleiche Kleidung zu tragen, sagt dadurch etwas darüber aus, wie sie sich
identifiziert.“ Über die Kleidung der Area Boys lässt sich plötzlich eine
Identitätsdebatte führen.
## Die nicht dazupassen
Und eine über Einschluss und Ausschluss. „Born Throw Way!“ ist
nigerianisches Pidgin-Englisch und bezeichnet Menschen, die nicht
dazupassen, es ist ein Begriff des Othering. „Der Begriff beschreibt
jemanden, der nicht zur idealen Gesellschaft gehört“, erklärt Olágúnjú.
„Prostituierte sind zum Beispiel Born Throw Way. Oder Area Boys.“
In Pandemiezeiten lässt sich dieser Gedanke noch fortführen, auf
Ausgeschlossene und Integrierte, auf Geimpfte und Ansteckungsherde. Eine
Gesellschaft, die auf Othering aufgebaut ist, ist auch eine Gesellschaft,
die Grenzen hochzieht, die sich abgrenzt. Die viele kleine Areas schafft,
und aus der einen Area sollte man tunlichst nicht in eine andere
übersiedeln.
Olágúnjú tritt ihren Protagonisten mit Sympathie gegenüber. Eine strikte
Abgrenzung der Welt nach Areas allerdings unterstützt sie nicht, nicht
einmal als Künstlerin der afrikanischen Diaspora will sie gelabelt werden.
„Die Vorstellung, Kunst mit Geographie zu verknüpfen, gefällt mir nicht.
Meine Kunst ist keine afrikanische, nigerianische oder europäische Kunst,
sie ist für jeden zugänglich: Sieh sie dir an und verhalte dich dazu.“
Als Ideal ist das sympathisch. Aber lässt sich so etwas noch durchhalten,
angesichts der Separierung in Areas? „Die Arbeit ist entstanden an einem
bestimmten Ort und in einem bestimmten Kontext. Aber das hat nicht zur
Folge, dass die Arbeit in diesem Kontext fixiert bleibt“, widerspricht die
Künstlerin. „Denn die Idee der Area ist nicht nur ein geographisches
Phänomen. Einer der wichtigsten Aspekte des Projekts geht auf den
psychologischen Raum zurück. Auf eine psychologische Area, in der die
Menschen nebeneinander existieren.“
Julia Kristevas Theorie der Abjektion ist wichtig für das Verständnis von
Welt, das hier formuliert wird: Area meint nicht in erster Linie ein
bestimmtes Stadtviertel in Lagos, es meint das Selbst, das in Beziehung
steht zum Anderen.
Und vielleicht ist dieser gedankliche Schritt derjenige, mit dem man „Born
Throw Way!“ am besten charakterisieren kann: Olágúnjú überträgt den
Gedanken der Area aus dem geographischen Raum in den geistigen, sie
überträgt die Stadt im Sinne einer Ansammlung von Areas auf Diskurse. Und
dann untersucht sie, wie diese Diskurse sich zueinander verhalten. Eine
Erkenntnis aus dieser Untersuchung: Man wird zum Area Boy.
10 Apr 2021
## LINKS
[1] https://www.radialsystem.de/festival/496/
[2] /Archiv-Suche/!868942&s=Tobias+Zielony&SuchRahmen=Print/
## AUTOREN
Falk Schreiber
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