| # taz.de -- Künstlerin über deutsche Sprache: „Keine guten Wörter für Sex… | |
| > Stine Marie Jacobsen ist Künstlerin. Sie beschäftigt sich mit deutschem | |
| > Wortschatz, Grammatik und Strukturen, die Liebe kompliziert machen. | |
| Bild: „Wortschatzi“ klingt gleich viel süßiger als „Wortschatz“ | |
| Ein wenig mehr Liebe macht oft alles einfacher. Womöglich sogar das | |
| Deutschlernen für Menschen, die aus dem Ausland nach Berlin ziehen. Das | |
| zumindest glaubt die im dänischen Sonderburg geborene und inzwischen in | |
| Berlin lebende Konzeptkünstlerin Stine Marie Jacobsen. Jacobsen, die an der | |
| Royal Danish Academy of Fine Arts und am California Institute of the Arts | |
| studiert hat, beschäftigt sich in ihrer Kunst bevorzugt mit Sprache, | |
| Stereotypen, Gesetzestexten und Gewalt. In ihrem neuen Buch, „German for | |
| Lovers“, erforscht sie die Tücken und Abgründe der deutschen Sprache und | |
| versucht Wege aufzuzeigen, trotz allem die Liebe zu ihr zu entdecken. | |
| „German for Lovers“ ist [1][nach „German for Artists“] und „German for | |
| Newcomers“ bereits ihr drittes Künstlerinnenbuch zur deutschen Grammatik. | |
| taz: Stine Marie Jacobsen, Sie haben gerade ein Grammatikbuch mit dem Titel | |
| „German for Lovers“ veröffentlicht. Was hat Grammatik mit Liebe zu tun? | |
| Stine Marie Jacobsen: In meinem Kopf sehr viel. Ich behaupte, dass die | |
| Grammatik der deutschen Sprache Distanz zwischen Personen kreieren kann. | |
| Wie meinen Sie das? | |
| Das hat mit den vier Fällen im Deutschen zu tun. Es gibt die handelnde | |
| Person, also das Subjekt, und dieses Subjekt macht die andere Person zum | |
| Objekt. Indem man der Nominativ ist, macht man den oder die andere*n zu | |
| einem Akkusativ. Zu einem oder einer dem Wortsinne nach Angeklagten. Ich | |
| behaupte, dass es Distanz statt Nähe kreieren kann, wenn man immer dieser | |
| Komposition folgt, die man Syntax nennt. Das Subjekt dominiert über das | |
| Objekt. Genitiv und indirektes Objekt werden sogar auf den dritten und | |
| vierten Platz gestellt. | |
| Puh. Können Sie das an einem Beispiel erklären? | |
| Nehmen wir den Satz: „Ich gebe dir einen Kuss“. Du bist darin das indirekte | |
| Objekt und weiter von mir entfernt als der Kuss. Ich habe dich quasi mit | |
| dem Kuss von mir entfernt. Daraus ergeben sich für mich viele Fragen: Sorgt | |
| diese Struktur dafür, dass ich mehr an den Kuss denke als an dich? | |
| Beeinflusst sie, wie ich fühle und handle? | |
| Wollen Sie damit sagen, dass die deutsche Sprache die Liebe komplizierter | |
| macht? | |
| Es ist nicht die Sprache selbst, aber deren Gebrauch, ihre strenge | |
| Struktur, an die sich alle unbedingt halten müssen. Und dann ist da noch | |
| diese deutsche Fehlerkultur! Viele haben Angst, Deutsch zu sprechen, weil | |
| sie wissen, dass sie korrigiert werden können. | |
| Ist es denn etwas typisch Deutsches, Menschen zu korrigieren, wenn sie | |
| grammatikalische Fehler machen? | |
| Ich habe mit vielen meiner deutschen Freund*innen darüber gesprochen und | |
| sie gefragt: Was passiert in dem Moment, wenn ich einen Fehler mache. Einer | |
| meinte, es tue ihm weh, weil er wüsste, wie schön die Sprache ist. Das ist | |
| nachvollziehbar, Deutsch ist so präzise. Unter Linguistiker*innen gibt es | |
| großen Streit darüber, ob man als Nichtdeutsche die deutsche Sprache | |
| überhaupt verändern darf. Wie im Kiezdeutsch etwa, für das Menschen mit | |
| Migrationshintergrund ihre eigenen Regeln entwickelt haben. Ob man | |
| beispielsweise, wie dort üblich, der, die, das zum de machen darf. Ich habe | |
| das im Buch einfach gemacht. | |
| Heißt das, Sie wollen die verschiedenen Artikel abschaffen? | |
| Natürlich will ich nicht das Hochdeutsche verändern, sondern nur den Zugang | |
| dazu. | |
| Wie kann das gelingen? | |
| Ich plädiere für einen spielerischen Umgang. Zum Beispiel sage ich | |
| Wortschatzi. Wortschatz ist schön, aber Wortschatzi ist noch schöner. | |
| Was ist denn bitte ein Wortschatzi? | |
| Auf Englisch würde ich Darling Vocabulary sagen. Ich animiere das Wort. Ein | |
| Wortschatzi ist ein Wortschatz, den ich lieb habe. Warum wird Deutsch oft | |
| als kalt und mathematisch empfunden, obwohl es so tolle Wörter gibt? Warum | |
| gilt Französisch hingegen als die Sprache der Liebe? Ich glaube, das liegt | |
| am jeweiligen Umgang mit der Sprache. Meine Hoffnung ist, dass man ein | |
| bisschen netter mit der Sprache umgeht und locker bleibt, wenn jemand nicht | |
| ganz korrekt spricht. | |
| Wie kann so ein netterer Umgang mit Sprache aussehen? | |
| Indem man weniger streng ist, wenn der falsche Artikel benutzt wird. Oder | |
| indem man Mischsprachen erlaubt. Viele Englischsprachige in Berlin machen | |
| tolle Wörter, die halb englisch, halb deutsch sind. Die kann man natürlich | |
| in keinem offiziellen Brief benutzen, aber im Alltag sehr wohl. Das ist | |
| ähnlich wie beim Essen, wo man auch nach Lust und Laune Rezepte mischt. | |
| Hinterher wird es gegessen und schmeckt sogar gut. Wenn man mit Sprache | |
| spielen kann, fühlt man sich darin gleich viel willkommener. | |
| In weiterer Konsequenz schlagen Sie in Ihrem Buch ein vereinfachtes | |
| Deutsch, eine Pidginsprache vor. Wie kann man sich so ein Pidgin-Deutsch | |
| vorstellen? | |
| Pidgin bedeutet, dass man noch mehr mischt und dass es mehr um Tonalität | |
| und Aussprache geht als um eine korrekte Orthografie oder Grammatik. Im | |
| Pidgin gibt es keine Fälle und auch keine Zeitformen. Man muss die Zeiten | |
| anders hineinbringen, sie direkt benennen: gestern, heute, morgen. Pidgin | |
| ist auch, wenn man, um einen Superlativ auszudrücken, etwas doppelt sagt: | |
| Ich lieb lieb dich. Das ergibt ja auch Sinn, weil es auf diese Weise | |
| emotional stärker deutlich wird. | |
| An wen richtet sich Ihr Buch? | |
| „German for Lovers“ ist ein Buch für Liebende, die andere Muttersprachen | |
| haben und sich im Deutschen treffen. Oder für Menschen, die ein*en | |
| nichtdeutsche*n Partner*in haben. Es geht aber eigentlich über die Idee von | |
| Paarbeziehung hinaus. Worüber ich im Buch vor allem spreche, ist Fürsorge, | |
| Queerness, Empathie. Im Film, den ich zu dem Buch gedreht habe, | |
| demonstrieren die Schauspieler*innen Shahd Katba und Martin Hansen die | |
| Regeln meiner Pidginsprache in kleinen Filmszenen. Shaed und Martin sind | |
| beide queer. Das habe ich sehr bewusst so ausgewählt. Ich stecke die beiden | |
| in eine Art von Heteronormativität hinein, breche diese Norm aber wieder, | |
| weil sie offensichtlich nicht aufeinander stehen. | |
| Wie über Gefühle gesprochen werden kann, liegt ja auch an den Wörtern, die | |
| eine Sprache dafür kennt. | |
| Sprachen haben ein sehr unterschiedliches empathisches Vokabular. Ich liebe | |
| zum Beispiel das Wort cafuné, ein brasilianisches Verb dafür, mit den | |
| Händen durch das Haar der geliebten Person zu streichen. Das gibt es in | |
| keiner anderen Sprache. Ich habe sehr viele Leute interviewt, und die | |
| meisten denken, dass es im Deutschen keine guten Wörter für Flirten gibt | |
| und für Sex. Viele Wörter sind uncharmant. Dem würde ich zustimmen. | |
| Tatsächlich flirte ich selbst auch nie auf Deutsch. Andererseits bietet das | |
| Deutsche, weil es eine sehr philosophische, komplexe Sprache ist, die | |
| Möglichkeit, eine tiefe Verbindung zu beschreiben. Aber dafür muss man sie | |
| sehr gut beherrschen. | |
| Wie haben Sie selbst eigentlich Deutsch gelernt? | |
| Vom Fernsehen. Von ARD, ZDF und NDR3. Ich bin in Süddänemark aufgewachsen. | |
| Damals hatten wir nur einen dänischen Fernsehsender, aber drei deutsche. | |
| Als ich in der Schule Deutschunterricht bekommen habe, konnte ich es schon. | |
| In Süddänemark habe ich das Buch und den Film Ende Oktober präsentiert. Aus | |
| meiner Kindheit weiß ich, wie kompliziert dort das Verhältnis zu | |
| Deutschland ist. Es gibt eine dänische Minderheit auf der deutschen Seite | |
| und eine deutsche Minderheit auf der dänischen Seite. | |
| Welche Rolle kann die Sprache bei derlei komplizierten Verhältnissen | |
| spielen? | |
| Sprache ist eine Tür zu anderen Sachen. Wenn man den Umgang mit Sprache | |
| sensibilisieren kann, wird es auch leichter, andere Sensibilisierungen | |
| einzuleiten. | |
| Aus einem offeneren Umgang mit Sprache folgt ein offenerer Umgang mit | |
| Menschen? | |
| Ja. Und du kriegst mehr Sex. Die Frage ist: Warum gibt es manche Sprachen, | |
| wo man einfach drauflosplappert? Ich glaube, das ist kulturell. Was ich mit | |
| „German for Lovers“ sagen möchte, ist, dass man die deutsche Sprache mehr | |
| lieben wird, wenn man mischt, Neues erfindet und damit spielt. Es entsteht | |
| eine Liebe zur Sprache, und so kann sie auch zu einer Sprache für die Liebe | |
| werden. | |
| 15 Nov 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://stinemariejacobsen.com/german-for-artists/ | |
| ## AUTOREN | |
| Beate Scheder | |
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