# taz.de -- Bildhauerinnen aus der Türkei: Das Material ist die Botschaft | |
> Kulturwechsel zwischen Berlin und Istanbul: Wie damit drei Generationen | |
> von Bildhauerinnen aus der Türkei umgehen, zeigt eine Schau in Berlin. | |
Bild: Arbeit am Boden. Still aus Evrim Kavcars Video „Revival“, Mediainstal… | |
30 spitze Hüte, seltsam dunkelbraun gefärbt, eine Mischung aus Zuckerhut | |
und Zylinder. Die Künstlerin Yıldız Tüzün schuf diese Skulptur 1995. Auf | |
den ersten Blick kaum zu deuten, oszilliert die seltsame Bodeninstallation | |
zwischen Minimalskulptur und einem Totem-Hain. Was könnte sie mit dem | |
„Wechsel der Geografie“ zu tun haben, auf die die Ausstellung „Shifting | |
Patterns“ in der Galerie Nord/Kunstverein Tiergarten hinauswill, der | |
Galerie des Berliner Bezirks Mitte? | |
Zunächst einmal belegt die Schau die Qualitätsarbeit des oft unterschätzten | |
Instituts Kommunale Galerie. Die 12 Berliner Bezirke unterhalten immerhin | |
34 davon. Jedes Jahr zeigen sie rund 200 Ausstellungen. „Shifting Patterns“ | |
ist ein weiteres Beispiel dafür, wie sie in den letzten Jahren ihr lange | |
unauffälliges Profil durch ambitionierte Projekte schärfen konnten, die | |
weder auf Trends noch auf Sammler schielen müssen. | |
Die Schau versteht sich vor dem Hintergrund [1][der 60. Wiederkehr des | |
Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei] im nächsten Jahr. Im | |
migrantisch geprägten Umfeld der Turmstraße in Moabit genau richtig | |
platziert, vermeidet sie es aber zum Glück, abgenutzte Motive zu | |
wiederholen, die unter dem Motto: „Wir riefen Arbeitskräfte, es kamen | |
Menschen“ seit Jahr und Tag die psychischen und sozialen Folgen dieses | |
Wechsels der Geografie anprangern. | |
Ayşe Güngör und Veronika Witte, die beiden Kuratorinnen, wollen vielmehr | |
zeigen, wie sich der Orts- und damit auch Kulturwechsel in den Materialien | |
von Künstlerinnen von drei Generationen niederschlägt. Die 1932 in der | |
Türkei geborene Tüzün ist sozusagen die Pionierin für diese „Verschiebung | |
von Mustern“. | |
## Vorliebe für Alltägliches | |
Ihr Istanbuler Kunststudium beendete sie 1975 in Stuttgart. Seither lebt | |
sie in Deutschland. Ihre braunen Zylinder sind aus in Bienenwachs | |
konservierten Kaffeefiltern gefertigt. Man mag in der Wahl des Materials | |
einen Beleg für die auffällige Vorliebe von Künstlerinnen für alltägliche | |
Materialien sehen. Sie spiegelt aber genauso etwas von der Verunsicherung | |
in einem neuen Kontext wie die Arbeit der 14 Jahre jüngeren [2][Gülsün | |
Karamustafa.] | |
Die 1946 in Ankara geborene Künstlerin ist eine der Pionierinnen der | |
türkischen Konzeptkunst. Seit einigen Jahren bewegt sie sich zwischen | |
Berlin und Istanbul. In ihrer „Vulnerable“-Serie hat sie zarte Objekte wie | |
Federn, Papierblüten oder eine Haarschleife auf die Spitzen kleiner Scheren | |
gespießt. | |
Karamustafa erzählt keine Migrationsgeschichte, sondern findet ein Symbol | |
für das allgemeine Gefühl von Verletzlichkeit. Es ist dieses Gespür für das | |
Hybride, Verwundbare und Zerbrechliche, der Verzicht auf alles auftrumpfend | |
Deklaratorische, welches die zwanzig, höchst unterschiedlichen Positionen | |
und Künstlerinnen dieser klug komponierten Schau verbindet: Das Material | |
ist die Message. | |
## Dialektik von Geborgenheit und Zerstörung | |
Wie der Ortswechsel bis heute die Materialwahl beeinflusst, zeigt Ekin Su | |
Koç. In Istanbul studierte sie Malerei. Lange lebte sie in Dänemark. Nach | |
Berlin gekommen, collagierte sie Textil und Skulptur. Sie hat Gipsabdrücken | |
der Reliefs von Berliner Altbauten mit traditionellen Textilien collagiert. | |
1986 in Istanbul geboren, ist sie die jüngste Teilnehmerin der | |
Gruppenschau. | |
Dass der Mensch so etwas wie Heimat braucht, thematisiert [3][Azade Köker | |
mit filigranen Papiergebäuden.] „Relikte der Stadt“ hat die 1948 geborene | |
Künstlerin die von innen erleuchteten Hochhausstrukturen genannt. Sie | |
erinnern an Rückzugsräume, Ruinen oder eine nach einer Katastrophe | |
verlassene Siedlung – ein bezwingendes Bild der Dialektik zwischen dem | |
Wunsch nach Geborgenheit und der Fähigkeit zur Zerstörung. | |
Auch Köker ist eine Wandrerin zwischen den Welten. Lange hat die gebürtige | |
Istanbulerin als Professorin in Halle und Braunschweig gelehrt. Wie sehr | |
die vermeintliche Heimat heute überall auf der Welt zu einem Ort ständiger | |
Kontrolle geworden ist, bearbeitet Burçak Bingöl mit ihren | |
Überwachungskameras. Indem die 1976 geborene Bildhauerin sie aus | |
blumenverziertem Porzellan modelliert, camoufliert sie ihre Form als | |
politische Waffe, erodiert sie aber auch durch die Erinnerung an das | |
traditionelle Handwerk. | |
Dass die Arbeit in dem Zwischenraum von Heimat und Fremde nicht in | |
irgendeine Blut-und-Boden-Mythologie ausarten muss, wird bei der Istanbuler | |
Künstlerin Evrim Kavcar deutlich. In ihrer Installation „Boden“ hat die | |
1976 geborene Bildhauerin während eines Berliner Stipendienaufenthalts in | |
der Stadt gesammelte Erde mit solcher aus verschiedenen Orten der Türkei zu | |
kleinen Kugeln fusioniert. | |
Für die als Glas- und Keramikkünstlerin ausgebildete Yasemin Özcan ist die | |
Arbeit mit Erde eine Metapher für das Experiment der Formfindung und den | |
Prozess der Schöpfung schlechthin. In einem Video sieht man eine Hand aus | |
einem Klumpen Lehm auf einer Töpferscheibe eine Kugel formen. Man kann es | |
aber auch politisch deuten, dass sie ihre Arbeit „Earth. The Mother of us | |
all“ genannt hat. | |
17 Nov 2020 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
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