# taz.de -- Queer im Internat: Jugend unterm Brennglas | |
> Homo-, Bi- und Transfeindlichkeit gibt es in Internaten nicht mehr als | |
> woanders. Doch hier wird alles, was eine queere Jugend ausmacht, | |
> zugespitzt. | |
Bild: Treppenhaus im Internat Schloss Salem, Baden-Württemberg | |
Wenn wir sagen, dass wir Internate besucht haben, woran denken Sie dann? | |
Vielleicht an Hogwarts, oder an den „Fänger im Roggen“. Die Serie „Queen… | |
Gambit“ auf Netflix oder „Schloss Einstein“ aus dem Kika? | |
Diese Abbilder vom Internatsleben stellen immer Aufregung, Intrige und | |
Verrat heraus. Wir, die Autor:innen dieses Textes, haben in unserer | |
Schulzeit Internate besucht und wissen: Die Wirklichkeit ist viel eher | |
unerträglich alltäglich: Aufstehen, Frühstück, Schule, AGs und | |
Herumlungern, Hausaufgabenstunde, Abendessen, wieder Herumlungern. | |
Internatsleben ist letztlich einfach Schulleben. Für wen Aufwachsen im | |
Internat allerdings schon einen großen Unterschied macht, das sind queere | |
Jugendliche. Homo-, Bi- und Transfeindlichkeit gibt es überall, im Internat | |
erst mal nicht mehr als woanders auch. Doch im Internat wird alles, was | |
eine queere Jugend ausmacht, drastisch zugespitzt. So eben auch das | |
Negative: Einschränkungen und Verwundbarkeit. Internatsjugend heißt Jugend | |
unterm Brennglas. Eine halbgeschlossene soziale Welt, kaum Anonymität. | |
„Es ist ein ganz eigener Mikrokosmos“, erzählt Ben. Ben ist ehemalige:r | |
Schüler:in des Landesgymnasiums für Hochbegabte in Schwäbisch Gmünd. Weil | |
Wohnen, Schule und Freizeit eng verstrickt sind, fehlen oft | |
Rückzugsmöglichkeiten. Mal andere Leute sehen, wenn es mit den | |
Mitschüler:innen nicht so läuft? Ausgleich durch Zuflucht in der | |
Familie oder anderen Menschen in der Freizeit? Geht nicht. | |
Internat ist nicht gleich Internat. Es gibt religiöse, bildungselitäre, | |
spitzensportliche oder reformpädagogische. Laut einer Schätzung des | |
Handbuchs „Internate-Führer“ von 2018 besuchen in Deutschland 14.000 | |
Schüler:innen ein Internat. Genauere Zahlen fehlen, vor allem über | |
Herkunft, Geschlecht oder sozialen Hintergrund von Internatsschüler:innen. | |
Queerness wird sowieso nicht statistisch erhoben. Internatserfahrungen über | |
einen Kamm zu scheren ist also schwierig. Ausgehend von unseren eigenen | |
Erfahrungen als Internatsschüler:innen und aufbauend auf Gesprächen | |
mit Angestellten drei verschiedener Internate sowie zehn gegenwärtigen und | |
ehemaligen Schüler:innen stellen wir fest: Es gibt Gemeinsamkeiten, was | |
die Erfahrung queerer Jugendlicher angeht. | |
## Die Frage der Nähe | |
Nähe spielt eine wichtige Rolle bei queerem Großwerden. Das Spannungsfeld | |
zwischen Heteronorm und homo- oder bisexuellem Begehren mag im Internat | |
dasselbe sein wie anderswo, aber man kann sich ihm schlechter entziehen. | |
Wenn Julia Anfang der Mittelstufe merkt, dass sie immerzu daran denkt, Mina | |
zu küssen, dann ist das Objekt der Begierde nicht nur in der Umkleide nah, | |
sondern auch nachmittags auf der Wiese, abends beim Fernsehschauen auf der | |
Couch. Vielleicht auch nachts, wenn das Licht im Zimmer ausgeht. | |
Erstaunlich viele Internatskinder, auch die, mit denen wir schon vor | |
unserer Recherche gesprochen haben, haben queere Erfahrungen im weitesten | |
Sinne gemacht. Was wir hören und erlebt haben, beginnt beim schüchternen, | |
neugierigen Kuss, viele berichteten aber auch von Experimenten mit | |
gegenseitiger Masturbation, Scissoring oder Analsex. Sind Internate | |
vielleicht sogar offener queerem Begehren und queerer Identität gegenüber | |
als die Außenwelt? | |
Willow Wedemeyer ist Lehrerin der Schule Birklehof, eines im Schwarzwald | |
gelegenen Internats, das sie selbst als Schülerin besucht hat. Als | |
transgeschlechtliche Frau geoutet hat sich Wedemeyer erst nach ihrer | |
Schulzeit. Über den Birklehof, wie sie ihn heute als Lehrerin und | |
Geländebewohnerin erlebt, sagt sie: „Es gibt hier und da Schüler:innen, die | |
offen schwul, lesbisch oder bi sind. Aber trans Schüler:innen kenne ich | |
keine.“ Bis auf eine Ausnahme haben sich alle transgeschlechtlichen | |
Personen, mit denen wir privat oder für diesen Artikel gesprochen haben, | |
[1][erst nach ihrer Schulzeit geoutet.] Wedemeyer glaubt, dass sich | |
schwule, lesbische und bisexuelle Identitäten ein wenig normalisieren, | |
während Transgeschlechtlichkeit weiter unsichtbar bleibt. | |
Das Leben an einer Internatsschule ist um einen Campus herum organisiert, | |
das sind nicht immer malerische Altbauten in verträumter Landschaft, | |
sondern auch mal funktionale Neubauten am Rande der Großstadt. Die | |
Jugendlichen leben in Einzel- bis Fünferzimmern. Orte der Zusammenkunft | |
sind normalerweise ein Essenraum – drei Mahlzeiten und Brote in der Pause | |
–, Versammlungsräume, Sport- und Musikanlagen und Freizeiträume. Dazu kommt | |
eine verborgene Geografie der geheimen Orte – „Fuchsbau“ heißt zum Beisp… | |
ein kleines Stückchen von Büschen verborgener Hang nahe dem Birklehof: Hier | |
treffen sich die Minderjährigen zum Rauchen, Weintrinken, Knutschen oder | |
was sonst gegen die Langeweile hilft, durch eine kleine Hecke vom | |
Joggingweg der Erzieher:innen getrennt. | |
## Geschlechterbinäre Trennung | |
Neben der Nähe spielt die Ersatzfamilie eine große Rolle. Anstelle der | |
Eltern wird das Füreinanderdasein im Internat von den anderen | |
Bewohner:innen übernommen. Gemeinsame Erlebnisse und gegenseitiges | |
Vertrauen bestimmen den Alltag. Gleichzeitig gilt in den meisten Internaten | |
ein striktes Regelwerk in Bezug auf viele Aspekte der pubertären | |
Entwicklung, etwa Sexualität, individuelle Tagesgestaltung, Essen, Alkohol, | |
Videospiele. Für junge Queers bedeutet das immer eine gewisse | |
Öffentlichkeit. Während außerhalb ein Outing erst einmal im Kreis möglich | |
ist, um Rückhalt zu schaffen, ist das im Internat kaum denkbar. Sexuelle | |
Identität, einmal preisgegeben, ist dort relativ öffentlich. | |
Ben erzählt aus dem Leben im Jungshaus des Landesgymnasiums für Hochbegabte | |
in Schwäbisch Gmünd. Ben benutzt für sich heute das Personalpronomen „em�… | |
Em trug gern feminine Kleidung, erzählt em, aber hielt es lange geheim. Aus | |
Angst, sagt Ben: „Im Internat verbreiten sich Nachrichten rasend schnell, | |
jede:r weiß alles. Deshalb habe ich mich nicht getraut, mich zu outen.“ | |
Geschlechterbinäre Trennung bestimmt den Alltag der meisten Internate. Es | |
wird anhand der Zweigeschlechterlinie aufgeteilt, mal auf eigene Gebäude, | |
mal auf verschiedene Flügel desselben. Schüler:innen erleben eine feste | |
soziale Umwelt, in der es nur diese beiden Kategorien zu geben scheint. Die | |
Tischaufteilung im Speisesaal, Hausaufgabenstunden und die meisten Ausflüge | |
folgen dieser Zuteilung und schaffen so gleichgeschlechtliche | |
Bezugsgruppen, die sich nur in der Freizeit kurz vermischen. Für trans und | |
nichtbinäre Jugendliche gibt es im wortwörtlichen Sinn keinen Raum. | |
Bernd Westermeyer, Gesamtleiter des Schloss Salem, eines der bekanntesten | |
deutschen Internate, sieht das so: „Solange kein Mitglied unserer | |
Gemeinschaft auf mich zukommt und sagt: ‚Mit den Toiletten hab ich im | |
Alltag ein Problem‘, sehe ich da keinen Änderungsbedarf.“ | |
## Es ginge auch anders | |
Westermeyer verweist darauf, dass es kompliziert sei, an den Gebäuden etwas | |
zu verändern, um diversen Geschlechtern Rechnung zu tragen. „Das sind ja | |
dann auch keine kleinen Geschichten, sondern – dank Denkmalschutz – sehr | |
aufwändige Maßnahmen. Das mache ich nicht ohne Anlass.“ Westermeyer sagt | |
jedoch, transgeschlechtliche Schüler:innen würde er gemäß ihrem selbst | |
identifizierten Geschlecht unterbringen, vorausgesetzt, dass sie eine | |
geschlechtsangleichende Operation durchführen ließen. Ein entsprechendes | |
Outing habe er aber noch nicht erlebt. | |
Moth, ehemalige Schülerin des Landesgymnasiums für Hochbegabte, sagt: „Wenn | |
das Thema totgeschwiegen wird, macht das die Jugendlichen nicht weniger | |
trans. Es unterdrückt sie nur.“ Moth findet: „Transsein ist okay, aber das | |
muss man den Kids auch sagen.“ Auch für nichtbinäre Personen könnten sich | |
theoretisch Optionen finden lassen. Lehrerin Wedemeyer erzählt von einigen | |
Zimmern im Musikhaus und dem Westflügel des Birklehofs, die nicht regulär | |
belegt sind. Dort, so sagt sie, könne man eine nichtbinäre Person | |
unterbringen. | |
Auch Lars Humrich, ehemaliger Lehrer am Landesgymnasium für Hochbegabte, | |
berichtet, dass es aus seiner Sicht durchaus möglich gewesen wäre, Räume | |
zur Unterbringung und Vernetzung genderqueerer Bewohnender zur Verfügung zu | |
stellen. Aber damit ginge eine Isolation vom Rest der Internatsgemeinschaft | |
einher – Akzeptanz mit bitterem Beigeschmack. | |
Es geht aber auch nicht nur ums Wohnen. Alle ehemaligen | |
Internatsschüler:innen, mit denen wir gesprochen haben, bemängeln dasselbe: | |
Es fehle fast überall an Anlaufstellen, Beratung, Aufklärung. Wo es diese | |
gibt, werden sie, wie Wedemeyer es für den Birklehof beschreibt, zur | |
Vermittlung „zeitgemäßer Rollenbilder“ an junge Männer verstanden. Dabei | |
könnten Internate durch Fortbildung [2][des Personals und in Zusammenarbeit | |
mit queeren Schüler:innen] zu einem wichtigen Ort werden, um | |
Geschlechtergerechtigkeit und -vielfalt voranzubringen und Jugendliche auf | |
dem Weg zur Identitätsfindung zu begleiten. | |
Babsi Clute-Simon und Lean Völkering haben sieben beziehungsweise sechs | |
Jahre ihrer Gymnasialzeit auf Internaten verbracht. Beide sind | |
Redaktionsmitglieder des sich gründenden queeren journalistischen Projekts | |
BEBI | |
28 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Babsi Clute-Simon | |
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