# taz.de -- Truppenabzug aus Afghanistan: „Hier wird das Chaos ausbrechen“ | |
> Für manche ist der angekündigte Abzug der USA und Nato ein Déjà-vu. In | |
> Kabul blicken die Menschen einer ungewissen Zukunft entgegen. | |
Bild: Noch regelt die Regierung hier den Verkehr: Polizist in Kabul am 19. April | |
Kabul taz | Es ist ein sonniger Morgen in Daschte Barchi, einem Stadtteil | |
im Westen Kabuls. Mehrere Dutzend Menschen haben sich versammelt, um eine | |
Sportveranstaltung für Menschen mit Behinderung zu verfolgen. Die meisten | |
Zuschauer und Teilnehmer sind Angehörige der schiitischen | |
Hasara-Minderheit. Dies ist nicht verwunderlich, denn in Daschte Barchi | |
leben hauptsächlich Hasara. | |
Schon in der Vergangenheit wurden sie hier auch zum Ziel von Anschlägen. | |
Vor rund einem Jahr griffen IS-Terroristen eine Geburtsklinik an und | |
töteten mindestens 24 Menschen. 2016 wurden bei einem Angriff auf eine | |
Bildungseinrichtung über dreißig Menschen getötet. | |
Diese und weitere Massaker haben sich hier im Gedächtnis der Menschen | |
eingebrannt. Dennoch wurden für das heutige Sportevent kaum | |
Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Nur jeweils ein Polizei- und Armeejeep | |
sind präsent. Die dazugehörigen Soldaten wirken gelangweilt und | |
desinteressiert. „Sei mal froh, dass wir überhaupt da sind“, sagt Tamim, | |
während er mit seinem Gewehr spielt. Seinen Nachnamen will er nicht nennen. | |
Er behauptet, er und seine Kollegen seien gar nicht für Daschte Barchi und | |
die Veranstaltung zuständig. Man sei eben da, aber echte Sicherheit könne | |
man nicht garantieren. „Tja, das ist der Zustand unserer Armee“, sagt | |
Tamin. | |
Diese Armee wird bald vollständig auf sich allein gestellt sein. Vor | |
wenigen Tagen verkündete US-Präsident Joe Biden, seine laut New York Times | |
3.500 verbliebenen Soldaten, das Pentagon spricht offiziell nur von 2.500, | |
[1][bis zum 11. September abziehen zu wollen]. Auch die anderen | |
Nato-Staaten bereiten ihren Rückzug vor. Berichten zufolge soll die | |
[2][Bundeswehr bereits im August Afghanistan verlassen]. Zwei Jahrzehnte | |
nach Beginn des „War on Terror“ wollen die Amerikaner ihren „längsten | |
Krieg“ beenden. | |
## Exodus der letzten Sikhs | |
So unterschiedlich die afghanischen Reaktionen auf dem Einmarsch Ende 2001 | |
waren, so verschieden sind sie auch heute. „Wir können uns nicht ewig auf | |
die US-Soldaten verlassen“, meint der Soldat Tamim. Doch dann wird er | |
ernster. Sobald sein Sold wegfällt, würde er sich irgendeiner Miliz | |
anschließen. „Ich bin für den Krieg gewappnet“, sagt er. | |
Andere planen wegen der schlechten Sicherheitslage, die schon seit Längerem | |
besteht, ihre Flucht. „Wir werden wohl bald gehen“, sagt Hakim Singh, ein | |
Sikh, der sein Geschäft im Stadtteil Karte Parwan führt. Der Exodus der | |
letzten Sikhs Afghanistans hängt nicht direkt mit dem Truppenabzug | |
zusammen, sondern mit den zunehmenden Angriffen auf ihre Gemeinschaft. | |
Im März 2020 wurde ein Sikh-Tempel in Kabul von der afghanischen IS-Zelle | |
angegriffen. 25 Menschen wurden dabei getötet. Auch in diesem Fall hatte | |
niemand für den Schutz der Opfer garantieren können. Die darauffolgenden | |
PR-Stunts der Kabuler Regierung waren mehr Schein als Sein. Singh und seine | |
Familie wollen nach Kanada oder nach Indien. Dort warten schon Verwandte | |
auf sie. | |
Der Abzug der US-Truppen erscheint vielen Afghanen wie ein Déjà-vu. 1989 | |
verließen die letzten sowjetischen Truppen nach ihrer zehnjährigen | |
Besatzung Afghanistan. Das letzte kommunistische Regime, angeführt von | |
Mohammed Nadschibullah Ahmadzai, konnte sich drei weitere Jahre dank | |
finanzieller und logistischer Unterstützung aus Moskau halten. Nachdem der | |
Geldhahn abgedreht wurde, nahmen die Mudschaheddin-Rebellen Kabul ein und | |
ein neuer Spuk ging los. | |
## Angst der Frauen vor Taliban-Regime | |
Der blutige Bürgerkrieg kostete Tausende von Afghanen das Leben. Dann kamen | |
die Taliban an die Macht. „Es wird wie damals. Hier wird das Chaos | |
ausbrechen – und am Ende kommen sie wieder mit ihren schwarzen Turbanen und | |
bringen Ordnung rein“, glaubt Mohammed Saleh, ein Taxifahrer. Er sei kein | |
Talibansympathisant, doch wisse er, dass viele Kabuler nach „brutaler | |
Sicherheit“ lechzen würden. „Hier wird man für ein Handy und etwas | |
Kleingeld getötet. Die Regierung hat die Kontrolle verloren, da muss das | |
eben jemand anderes übernehmen“, sagt er zynisch. | |
„In all den Jahren konnten die US-Truppen in Afghanistan nichts ausrichten. | |
Ich denke nicht, dass ihr Abzug eine große Veränderung bringen wird“, meint | |
Arzo Rahimi, eine Studentin aus Kabul. Sie wünscht sich keine Rückkehr der | |
Taliban in Kabul und hält derartige Szenarien für übertrieben. Man müsse | |
sich auch auf wirtschaftliche Hilfe und regionale Zusammenarbeit | |
konzentrieren. „Die Amerikaner haben hier ein Chaos hinterlassen und nun | |
wollen sie schnell weg“, resümiert sie. | |
Viele Eindrücke aus der afghanischen Hauptstadt unterscheiden sich | |
allerdings gravierend vom Alltag in anderen Landesteilen. Vor allem in den | |
ländlichen Regionen haben [3][die Taliban schon seit Langem wieder das | |
Sagen]. Auch in manchen Kabuler Vororten sind sie bereits präsent. | |
Umso besorgter zeigen sich viele Frauen, die ein urbanes Leben führen, | |
studieren oder berufstätig sind. „Der Abzug der ausländischen Truppen ist | |
ein Bärendienst für die Taliban. Sie haben nur darauf gewartet. Ich fürchte | |
mich vor ihrer Rückkehr. Sie betrachten Frauen nicht als Menschen“, sagt | |
Marwa Haschemi, eine Ärztin aus Kabul. | |
20 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Emran Feroz | |
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