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# taz.de -- Afghanistan unter der Taliban-Herrschaft: Einst isoliert, nunmehr a…
> Die Taliban stehen kurz vor ihrer Rückkehr. Wer sind ihre Anführer? Und
> was ist von ihnen zu erwarten, wenn sie die Macht übernehmen?
Bild: Auf verlorenem Posten: Ein Soldat der afghanischen Armee an einem Checkpo…
Berlin taz | Nach dem Ende einer [1][dreitägigen Feuerpause] anlässlich des
islamischen Eid-al-Fitr-Festes gehen in Afghanistan die Kämpfe zwischen
Taliban und Armee seit Sonntag weiter. Laut dem Chef des Rates der
südlichen Provinz Helmand attackierten Talibankämpfer Sicherheitsposten in
der Umgebung von Laschkar Gah und weiteren Bezirken. Ein Talibansprecher
sagte, die Angriffe seien von der afghanischen Armee ausgegangen.
Die Taliban stehen kurz vor einer triumphalen Rückkehr zur Macht. Sie
können sogar wählen, ob sie ihre militärische Stärke ausspielen und auf die
Hauptstadt Kabul marschieren oder den Verhandlungsweg gehen wollen. Der
laufende Abzug der US-Truppen und die Uneinigkeit im Lager von Präsident
Aschraf Ghani stärken ihre [2][Ausgangsposition] noch.
Eine künftige Regierung ohne Taliban wird es kaum geben – bestenfalls noch
in einer Art Koalition. Wird das zu einem Rückfall in die Zeiten vor der
US-geführten Intervention 2001 führen, als die islamistische
Aufstandsbewegung vor allem mit Verboten und Unterdrückung herrschte?
Seitdem haben sich die Taliban, ihre Führung und deren Politik erkennbar
entwickelt. Von einer international isolierten Bewegung mauserten sie sich
zum diplomatisch anerkannten Verhandlungspartner.
## Nur graduelle Veränderungen bei den Mullahs
Seit sie im Februar 2020 das Truppenabzugsabkommen mit den USA
unterzeichneten, geben sich Diplomat:innen der UNO und vieler
Regierungen im Taliban-Quasi-Außenministerium in Katar die Klinke in die
Hand.
Doch personell und politisch sind Veränderungen bei den Taliban eher
graduell. So wie Gründer Mullah Muhammad Omar, der 2013 einer Krankheit
erlag, wurden viele Führer der ersten Generation im Kampf getötet oder sind
gestorben. Trotzdem gibt es im Führungsrat mehr Kontinuität als Wandel.
Nach wie vor dominieren ältere Islam-Geistliche, Paschtunen aus der
Großregion Kandahar, woher auch Mullah Omar stammte. Doch rückten auf
mittlerer und lokaler Führungsebene mehr Nichtpaschtunen – vor allem
Usbeken und Tadschiken – auf. Das gilt auch für die
Talibanverhandlungsdelegation in Katar. Damit will die Führung die Taliban
auch in Minderheitengebieten besser verankern, wo sie stärker präsent sind
als vor 2001.
Zuweilen greift eine Art dynastisches Prinzip, wie auch in anderen
politischen Bewegungen Afghanistans: Omars ältester Sohn, der angeblich
erst 31-jährige Mullah Muhammad Yakub, ist inzwischen der für militärische
Angelegenheiten zuständige Talibanvizechef.
## Hohe Fluktuation unter den Taliban-Kämpfern
Bei den Talibanfußsoldaten gab es wegen hoher Kriegsverluste eine viel
größere Fluktuation. Viele von ihnen sind sehr jung, kennen nichts als
Krieg und sind in eine inzwischen gefestigte und nun auch kurz vor dem Sieg
stehende Struktur eingebunden. Das ideologisiert sie stärker als ihre
Vorgänger. Doch die auch religiös legitimierte Autorität der Älteren ist
ungebrochen. Die Jüngeren haben wenig zu sagen. Hier liegt ein
Hoffnungsschimmer: Die Alten können etwaige Verhandlungsabsprachen intern
leichter durchsetzen.
Politisch halten die Taliban an ihrem Hauptziel, der Errichtung einer, wie
sie es nennen, „inklusiven islamischen Ordnung“ fest. Gleichzeitig wurden
sie in den vielen Gebieten des Landes, wo sie bereits herrschen, flexibler.
Dort hat sich die Guerillabewegung zu einer [3][Parallelregierung]
gemausert. Dort muss sie Alltagsprobleme der Bevölkerung regeln und kann
dauerhaft nicht gegen sie regieren, sondern wird von ihr beeinflusst.
Die Taliban halten Schulen und Krankenhäuser am Laufen, sammeln Spenden für
kleinere Infrastrukturprojekte und registrieren Hilfsorganisationen. Viele
Afghanen ziehen Talibangerichte denen der Regierung vor, die notorisch
korrupt sind. Mädchenschulen hingegen gehen meist nur bis zur 6. Klasse,
und politische Freiheit sucht man im Talibangebiet vergeblich. Doch ob
selbst diese Wandlungen dauerhaft sind, sich unter einem Frieden
beschleunigen oder wieder rückgängig gemacht werden, kann nur die
politische Praxis zeigen.
## Hebatullah Achundsada
Der Titel des Chefs der Taliban-bewegung ist Amir ul-Momenin, Oberhaupt der
Gläubigen. Er steht über dem Führungsrat, der Quasiregierung der Taliban,
der ihn berät. Er kann dessen Rat annehmen oder nicht und ist damit
Alleinentscheider. Auch absetzbar ist der Amir nicht – seine beiden
Vorgänger, Mullah Omar und Mullah Akhtar Muhammad Mansur, amtierten bis zu
ihrem Tod.
Nach Mansurs Tod 2016 bestimmte der Führungsrat Hebatullah (in Afghanistan
ist die Anrede mit dem ersten Namen höflich) einmütig zum neuen Amir.
Mansur hatte durch seinen Stammeskonflikte provozierenden Führungsstil die
Taliban fast gespalten, aber der konservative, bis dahin wenig bekannte,
angeblich 1961 in Pandschwai bei Kandahar geborene Geistliche führte sie
wieder zusammen.
Als junger Mann kämpfte Hebatullah gegen die Sowjets und gründete eine
Koranschule. Dort entdeckte ihn Mullah Omar, machte den im geistlichen Rang
höher Stehenden zum Militärrichter und einem seiner engsten religiösen
Berater. Nach der Niederlage der Taliban 2001 ging er nach Pakistan als
Chef einer einflussreichen Koranschule, an der auch die Söhne der
Talibanführer studierten, darunter Mullah Yakub.
2012 überraschten die Taliban mit einer neuen Bildungspolitik, in der nur
von „Kindern“ die Rede ist, also Chancengleichheit für Jungen und Mädchen
eröffnet. Das Papier, deren Autor Hebatullah sein soll, betont die
Notwendigkeit von „islamischen Fächern und modernen Bildungskonzepten“
sowie Fremdsprachen- und Computerkenntnissen. Darin heißt es aber auch,
„unangemessene Themen“ wie Frauenbefreiung hätten „keine Chance“, unte…
Taliban gelehrt zu werden.
Zuletzt war mehrmals Hebatullahs Tod gemeldet worden, sei es bei Anschlägen
oder durch Covid-19. Das dürfte aber eher ins Reich psychologischer
Kriegführung gehören.
## Mullah Abdul Ghani „Baradar“
Der 1968 in Kandahars Nachbarprovinz Urusgan geborene Abdul Ghani gehört zu
den Gründern der Taliban. Ein Geistlicher wie Hebatullah stand er wie
dieser Mullah Omar nahe, von dem stammt auch sein Rufname „Baradar“
(„Bruder“).
Heute ist Baradar als Talibanvizechef für politische Fragen, ihr
Quasi-Außenminister. In dieser Funktion unterschrieb er 2020 auch das
Truppenabzugsabkommen mit der US-Regierung.
Nach der Niederlage 2001 hatte ihm Mullah Omar die operationale Leitung der
Talibanführung übergeben. Dies nutzte er, um Verhandlungskontakt zum
damaligen Präsidenten Hamid Karsai aufzunehmen, mit dem er die
Zugehörigkeit zum Paschtunen-Stamm der Popalsai teilt. Da er das ohne das
Plazet der Talibanschutzmacht Pakistan tat, verhaftete ihn der dortige
Geheimdienst.
Karsai verlangte Zugang und erhielt ihn schließlich 2013, nur um
festzustellen, dass Baradar offenbar unter Drogen gesetzt und nicht
ansprechbar war. Erst auf Druck Washingtons setzte Pakistan ihn 2018 wieder
auf freien Fuß, als die USA ihre Abzugsverhandlungen mit den Taliban
begannen. Die Misshandlungen dürften Baradar wenig zugänglich für Pakistans
Interessen machen.
## Seradschuddin Hakkani
Hakkani ist ein weiterer der drei Talibanvizechefs und leitet das nach
seiner Familie benannte Hakkani-Netzwerk. Das entstand unter seinem Vater,
dem inzwischen verstorbenen antisowjetischen Mudschaheddinführer
Dschalaluddin Hakkani, und wird in den USA als gesonderte
Terrororganisation gelistet.
Es agiert vor allem in Südostafghanistan, wird von der afghanischen
Regierung aber beschuldigt, hinter vielen Terroranschlägen in Kabul zu
stehen. Hakkani junior soll um 1973 geboren sein, tritt kaum öffentlich in
Erscheinung und gilt als Radikaler. Es gibt nur unscharfe Fotos von ihm.
Als die Taliban Mitte der 1990er Jahre auf ihrem Siegeszug von Kandahar
kommend Paktia, die Heimatprovinz der Hakkanis erreichten, wollte der
Senior sie bekämpfen, soll dann von Stammesführern aber überredet worden
sein, keine Niederlage zu riskieren und sich ihnen lieber anzuschließen. A
us der Zeit der sowjetischen Besatzung stammen enge Beziehungen zu
Pakistans Geheimdienst. Das macht die Hakkanis finanziell und logistisch
von den Mainstream-Taliban unabhängig, sorgt aber auch für Rivalitäten.
Beide Seiten brauchen aber einander: Hakkani den Schutz der größeren
Organisation, wofür er den Kandaharer Taliban Zugang zu einem Landesteil
garantiert, in dem sie traditionell schwach vertreten sind.
## Scher Muhammad Abbas Stanaksai
Stanaksai, der lange Talibanchefunterhändler mit den USA war, gehört weder
zu den Kandaharern noch den Hakkani-Taliban. Auch sonst sticht der 1963 in
der Provinz Logar geborene Paschtune heraus; er ist kein Geistlicher, soll
zur Zeit der afghanischen Monarchie eine Militärakademie in Indien besucht
haben und desertierte während der sowjetischen Besatzung zu den
Mudschaheddin.
Mitte der 1990er Jahre war er der einzige Englischsprecher in der
Talibanführung, war Vizeaußenminister und tauchte damit als erster in den
Auslandsmedien auf. Auch jetzt ist er dort häufig präsent.
Stanaksai scheint leicht zu irritieren zu sein, wobei ihm häufig Aussagen
unterlaufen, die dem diplomatischeren Baradar kaum gefallen dürften, etwa
dass die Förderung von Frauenrechten zu „Unmoral, Sittenlosigkeit und der
Verbreitung nichtislamischer Kultur“ geführt habe.
Seit Ende 2020 ist Stanaksai nur noch Vizechefunterhändler. Doch viele
Afghan:innen fürchten, Stanaksai könnte die wahre Stimme der Taliban
sein. Der einzige Englischsprecher ist er längst nicht mehr: Seine
Katar-Mitunterhändler Chairullah Chaircha und Mullah Fasl haben es in
Guantanamo gelernt.
17 May 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Thomas Ruttig
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