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# taz.de -- Gesetz gegen Missbrauch: Was schützt die Kinder?
> Mit einem neuen Gesetz soll Kindesmissbrauch härter bestraft werden.
> Viele fordern das. Trotzdem wird der Entwurf scharf kritisiert.
Es ist ein normaler Nachmittag im Hort einer Grundschule in Berlin. Die
Kinder der Jahrgangsstufen 5 und 6 zeigen sich gegenseitig etwas auf dem
Smartphone. Nachdem ein Junge, nennen wir ihn Ben, sein Handy gezückt hat,
wirken die Kinder nervös. Am Ende des Nachmittags vertraut sich ein Schüler
im Flüsterton der Erzieherin an. Ben habe eklige Videos auf dem Handy, die
habe ihm der Lebensgefährte seiner Mutter geschickt. Die Erzieherin, die
sich auch in anderer Hinsicht Sorgen um Ben macht, ist geschult im Umgang
mit Verdacht auf sexuellen Missbrauch. Sie ruft bei einer Fachberatung an,
die mit der Schule kooperiert.
Auf deren Rat hin dokumentiert sie die Situation und das Gespräch mit dem
Mitschüler, zunächst ohne Namen zu nennen, und kontaktiert das Jugendamt.
Dieses kontaktiert Bens Mutter. Sie erstattet Anzeige gegen ihren
Lebensgefährten, weil er ihrem Sohn Pornos gezeigt hat.
Im Zuge der polizeilichen Ermittlungen stellt sich heraus, dass der Mann
schon mehrfach wegen des Besitzes von Kinderpornografie vor Gericht stand,
aber immer mit Geldstrafen davon kam. Auch hatte er mehrfach Kinder in
ähnlicher Weise missbraucht, wie er es mit Ben machte, das kam aber erst im
Zuge des Gerichtsverfahrens heraus. Dass er in diesem Fall endlich gestellt
wurde, ist einer Mischung aus Zufall und der Aufmerksamkeit der
PädagogInnen in Bens Schule zu verdanken. Und der konsequenten Haltung von
Bens Mutter, die ihren Lebensgefährten angezeigt hat.
Der Lebensgefährte von Bens Mutter ist geständig, er bekommt per Post einen
Strafbefehl zugestellt, er muss für ein paar Monate ins Gefängnis und eine
Geldstrafe zahlen. Einige Zeit später werden wieder ähnliche Bilder bei ihm
gefunden – diesmal ist auch Ben darauf zu sehen.
„Mit leichter bis mittelschwerer Kinderpornografie können Täter zehn- bis
zwölfmal vor Gericht landen, ohne dass sie auch nur einen Eintrag ins
Führungszeugnis davontragen – oder persönlich vor Gericht erscheinen
müssen“, sagt Angelika Oetken, die den Fall von Ben gerade am Telefon
geschildert hat. „Typen wie der Lebensgefährte von Bens Mutter kamen in der
Vergangenheit zu billig davon – ich bin froh, dass sich das bald ändert.“
Ben und den Mann, der ihn missbrauchte, gibt es wirklich, nur heißen sie
anders. Oetken hat den Fall auch etwas verfremdet, um keine Rückschlüsse
auf echte Personen zuzulassen. Die 56-Jährige, die als Ergotherapeutin
arbeitet, engagiert sich ehrenamtlich als Betroffene beim [1][Fonds
Sexueller Missbrauch]. Dort berät sie als Mitglied des Betroffenenbeirates
das Familienministerium und die Geschäftsstelle. Als Mitglied eines
Gremiums Clearingstelle berät sie über komplexe und schwierig zu
entscheidende Anträge. Außerdem ist sie aktiv in einem Netzwerk von
Betroffenen, die sich dafür einsetzen, dass sexuelle Gewalt gegen
Minderjährige nicht länger als Bagatelldelikt angesehen wird. Als Vergehen,
also eine minderschwere Straftat, die strafrechtlich auf der gleichen Stufe
rangiert wie Diebstahl oder Unterschlagung.
Wenn der Diebstahl eines Autos härter bestraft wird als der Missbrauch an
einem Kind, dann läuft etwas gewaltig schief in unserer Gesellschaft,
findet Angelika Oetken. Und damit ist sie nicht allein.
## Sexuelle Gewalt ächten
In den letzten Jahren wurden die Gesetze gegen Kindesmissbrauch mehrfach
verschärft: 2015 dehnte der damalige Justizminister Heiko Maas (SPD) die
Strafbarkeit auf FKK-Bilder von Kindern aus und stellte den Versuch der
Kontaktanbahnung im Internet unter Strafe. Seine Amtsnachfolgerin Christine
Lambrecht (SPD) hat nun ein neues Gesetzespaket auf den Weg gebracht. Der
Entwurf sieht vor, dass künftig in Gesetzestexten nicht mehr von sexuellem
Missbrauch die Rede sein soll, sondern [2][von sexualisierter Gewalt].
Damit soll signalisiert werden, dass der Gesetzgeber alle sexuellen
Handlungen an Kindern als Gewalt ächtet.
Außerdem soll der Strafrahmen bei Missbrauch (§ 176 StGB) und
Kinderpornografie (§ 184b StGB) deutlich erhöht werden – alle unter diesen
Paragrafen gefassten Taten gelten künftig als Verbrechen und werden mit
nicht unter einem Jahr Freiheitsstrafe geahndet. Für sexuellen Missbrauch
können bislang bis zu 10 Jahre verhängt werden, in Zukunft wären es dann
bis zu 15 Jahre. Für Besitz und Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen
erhöht sich der Strafrahmen auf bis zu 5 Jahre. Wenn jemand gewerbsmäßig
und in großem Stil mit Missbrauchsdarstellungen handelt, sind sogar bis zu
15 Jahre Gefängnis vorgesehen.
Nach dem neuen Gesetz würde der Lebensgefährte von Bens Mutter zu
mindestens einem Jahr verurteilt und wäre vorbestraft – auch schon beim
ersten Mal. Der Grund für die Verurteilung wäre in seinem Führungszeugnis
vermerkt, er dürfte dann nicht mehr beruflich oder ehrenamtlich mit Kindern
zu tun haben. „Wer einmal erwischt wird, wird auch verurteilt“, fasst
Angelika Oetken die neue Lage zusammen. Sie begrüßt deshalb die
Gesetzesverschärfung – „es wird Zeit, dass sich das Strafrecht an unsere
Realität anpasst“, sagt sie.
Als kleines Mädchen wurde Angelika Oetken selbst von einem Freund der
Eltern missbraucht. Bis ins Erwachsenenleben schwieg sie darüber. Gut so,
wie sie heute findet. Damals, ist sie überzeugt, hätte eine Anzeige ihr
Leben zerstört. „Man hätte mich in ein Kinderheim gesteckt – als
beschädigtes, ‚nymphomanisches Mädchen‘ stigmatisiert wäre ich als Gefahr
für andere angesehen worden. So war damals die Realität.“
Das ist heute anders. Vor Gericht, im Jugendamt oder bei der Polizei bringt
man Kindern, die von sexueller Gewalt betroffen sind, mehr Sensibilität
entgegen. In den vergangenen Jahrzehnten ist auch das Hilfesystem gewachsen
– je früher die Taten entdeckt und geahndet werden, desto besser kann einem
Kind geholfen werden.
Die Realität heute, das sind aber auch: Mehr als 13.000 Fälle von sexuellem
Kindesmissbrauch, die 2019 den Ermittlungsbehörden gemeldet wurden –
durchschnittlich mehr als 35 Fälle pro Tag. Dazu mehr als 1.000 Fälle
sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen und Jugendlichen und mehr als
12.000 angezeigte Fälle von Abbildungen sexueller Gewalt an Kindern,
sogenannte Kinderpornografie. Und das sind nur die bekannten Zahlen. Das
Dunkelfeld schätzen Fachleute um ein Vielfaches größer.
Angesichts der vielen Fälle ist es nur folgerichtig, dass der Gesetzgeber
aktiv wird, um sexuelle Gewalt gegen Kinder zu bekämpfen. Dennoch gibt es
JuristInnen, die vor dem neuen Gesetz warnen, und TherapeutInnen, die ihre
Arbeit dadurch bedroht sehen. Selbst BetroffenenvertreterInnen äußern
Kritik. Woher kommt dieser Widerstand gegen die Gesetzesverschärfungen,
wenn doch die Zahlen der Polizei so alarmierend sind?
Dass sexuelle Übergriffe gegen Kinder ein Massenphänomen sind, das in
sämtlichen Gesellschaftsbereichen vorkommt, ist spätestens seit dem Jahr
2010 bekannt. Damals erschütterten zahlreiche Fälle etwa am katholischen
Canisius-Kolleg oder an der reformpädagogischen Odenwaldschule die
Öffentlichkeit.
## Die Politik unter Zugzwang
Die jüngste Strafrechtsverschärfung entstand auch unter dem Eindruck
besonders drastischer Missbrauchsfälle der letzten Jahre. Auf einem
Campingplatz im nordrhein-westfälischen [3][Lügde] wurden zwischen 2008 und
2018 mehr als 40 Kinder von mehreren Männern missbraucht und dabei gefilmt.
Einer der Haupttäter war der Pflegevater eines betroffenen Mädchens. 2019
wurde in Bergisch-Gladbach das größte bisher bekannte
Pädosexuellen-Netzwerk ausgehoben, mit mehreren Zehntausenden
Tatverdächtigen, die Unmengen brutaler Missbrauchsabbildungen von
Kleinkindern im Internet getauscht hatten. 2020 wurde in Münster knapp ein
Dutzend Männer beschuldigt, schweren Missbrauch an eigenen und Stiefkindern
begangen und die Taten gefilmt zu haben. Als Haupttatort gilt eine
Gartenlaube, die der Mutter eines der Täter gehört.
Die öffentliche Empörung über derlei Taten und der Eindruck, dass die
Strafverfolgungsbehörden ihnen nur sehr ungenügend begegnen können, setzte
die Politik unter Zugzwang. Etwas sollte, ja musste geschehen.
Justizministerin Christine Lambrecht hatte sich noch nach dem Fall in
Münster deutlich gegen Strafverschärfungen ausgesprochen, da sie den
geltenden Strafrahmen für ausreichend hielt. Doch der konservative
Koalitionspartner machte Druck: Besonders Nordrhein-Westfalens
Innenminister Herbert Reul (CDU), in dessen Bundesland alle drei Skandale
ihren Ursprung hatten, forderte ein härteres strafrechtliches Vorgehen, er
wollte ein Signal senden, dass der Staat gegen Missbrauchstäter
entschlossen auftritt.
Lambrecht schwenkte um und arbeitete ein umfangreiches Gesetz zur
„Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder“ aus, das im Oktober 2020
vom Kabinett beschlossen wurde. Mit der Härte des Gesetzes gegen
Kinderschänder, eine sichere Sache, sollte man meinen.
Doch es kam anders: Bei der routinemäßigen Anhörung von Sachverständigen im
Dezember im Bundestag zerpflückten die geladenen StrafrechtsexpertInnen den
Gesetzentwurf gründlich: Der Begriff der „sexualisierten Gewalt“ sei nicht
hilfreich, er verneble den Unterschied zwischen Handlungen mit und ohne
Anwendung von körperlicher Gewalt – und relativiere so besonders brutale
Taten. Die unterschiedslose Hochstufung zum Verbrechen sei bei
minderschweren Fällen unverhältnismäßig – dabei sei die
Abschreckungswirkung durch höhere Strafen nicht einmal bewiesen. Außerdem
drohe eine Überlastung der Gerichte und Staatsanwaltschaften. Sogar von
einer „Kriminalpolitik nach den Vorgaben der Boulevardpresse“ war die Rede.
So massiv war die Kritik, dass das Vorhaben seit Dezember auf Eis liegt.
Seitdem streiten sich die Koalitionspartner darüber, die CDU will an den
höheren Strafen festhalten, während der SPD viel an der Begriffsänderung
liegt.
Zu den Kritikern des neuen Entwurfs gehört, ausgerechnet, der Unabhängige
Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.
„Die Reform hat viele gute Punkte, legt Ermittlern, Richtern und
Staatsanwälten aber einige veritable Probleme auf den Tisch“, sagt
Johannes-Wilhelm Rörig. Der Jurist begrüßt zwar, dass auch Taten wie das
Befummeln von Geschlechtsteilen künftig ein Verbrechen sein sollen, warnt
aber vor Unverhältnismäßigkeit. So gelte künftig auch der Zungenkuss eines
21-Jährigen mit einer fast 14-Jährigen als Verbrechen.
Für besonders problematisch hält Rörig, dass künftig alles vor Gericht
verhandelt werden muss – die bisherige Lösung, einen geständigen
Angeklagten in einem minderschweren Fall per Strafbefehl abzuurteilen,
beschleunigt Verfahren und erspart dem Opfer eine Aussage vor Gericht. Bei
Verbrechen ist der Einsatz von Strafbefehlen dagegen nicht möglich und die
öffentliche Verhandlung zwingend. Rörig fürchtet, dass das gut gemeinte
Gesetz gerade für die Betroffenen einen Rückschritt bringt, da ihnen nun
lange, quälende Verfahren drohten – und Staatsanwälte unter der vermehrten
Arbeitsbelastung wohl so manchen komplizierten Fall eher zu den Akten legen
könnten.
Gerhard Senf hat da noch eine entschiedenere Meinung. Er erklärt am Telefon
ganz unverblümt, was er von dem Gesetzentwurf hält: „Das ist verlogener,
populistischer Mist.“ Der 70-Jährige ist Sexualtherapeut und arbeitet in
seiner Saarbrücker Praxis seit mehr als 30 Jahren mit Sexualstraftätern:
Vergewaltigern, Inzesttätern, Pädophilen bis hin zu Serientätern mit
sadistischer Gewaltneigung. Die meisten von ihnen sitzen noch im Gefängnis,
wenn Senf zu ihnen Kontakt aufnimmt. Nach ihrer Entlassung bekommen sie bei
ihm Psychotherapie im Rahmen ihrer Bewährungsauflagen.
Schaden für die Gesellschaft und den Täter minimieren und beim Patienten
eine moralische Entwicklung herbeiführen, so beschreibt der Therapeut, der
sein Handwerk bei der Familienberatungsstelle pro familia gelernt hat,
seinen Ansatz. Über viele Jahre begleitet Senf seine Patienten durch ihren
Alltag. Senf will die Täter verstehen, er glaubt an ihre Resozialisierung.
Und daran, dass auch Menschen, die Kinder missbrauchen, eine Würde und
Rechte haben. Der Erfolg seines Ansatzes ist unbestritten, die
Rückfallquote seiner Patienten liegt bei sensationellen 20 Prozent, im
Bundesdurchschnitt werden 80 Prozent rückfällig.
Doch Senf beklagt, dass seine Methode am Aussterben sei, es fehle an
Nachwuchs. Zum einen, weil Einfühlung in die Psyche von Sexualstraftätern
nicht gerade jeder oder jedem gegeben sei. Aber auch, weil die Arbeit immer
mehr erschwert werde: Die therapeutische Betreuung in den Gefängnissen sei
absolut ungenügend, es werde wenig Wert darauf gelegt. „Hauptsache im
Knast“ beschreibt er die Einstellung vieler RichterInnen. Sexualstraftäter,
die eigentlich eine engmaschige Betreuung bräuchten, würden schon mal im
Maßregelvollzug „vergessen“. Ständig, so der Therapeut, müsse er sich um
Erstattung seiner Fahrtkosten streiten und um die Finanzierung von
Therapien, die der Staat zwar anordne, für die er aber nicht aufkomme.
Dadurch seien er und seine Kollegen zu ehrenamtlicher Arbeit gezwungen –
oder zur Abwälzung der Kosten auf die Krankenkassen durch eine
zusammengeschusterte Krankheitsdiagnose.
## Im Zweifel für den Angeklagten?
Besonders ärgert sich der Sexualtherapeut über die Strafverschärfungen bei
Missbrauchsabbildungen im neuen Gesetz. Ein falsches Bild auf dem Computer
– ein Jahr Knast? „Das ist, wie wenn Sie eine Mücke an der Wand mit einem
Vorschlaghammer erschlagen – dann ist hinterher in der Wand ein
Riesenloch“, schnaubt er. Fast alle Männer zwischen 14 und 80 Jahren
guckten Pornos – und der Unterschied zwischen dem rasierten Geschlechtsteil
einer 13-Jährigen und einer 18-Jährigen sei nicht offensichtlich.
„Im Zweifel für den Angeklagten? Das gilt jetzt nicht mehr.“ Senf sieht
eine Überflutung der Gerichte durch Bagatellfälle kommen. „Abertausende
sogenannte Täter – und wir Therapeuten sollen dann die echten erwischen!“
Während der Sexualtherapeut im Gesetzentwurf nur billige
Law-and-rder-Symbolpolitik sieht, begrüßt Katja Ravat das deutliche Signal
an die Täter. Die 44-jährige Strafrechtsanwältin vertritt in ihrer
Freiburger Kanzlei seit 16 Jahren Betroffene von sexueller Gewalt – unter
anderem den Jungen aus Staufen, der von seiner Mutter und deren
Lebensgefährten gewerbsmäßig im Internet zur Vergewaltigung „angeboten“
wurde. Nebenbei ist sie ehrenamtlich tätig in der Geschädigtenbetreuung des
[4][Weißen Rings Breisgau].
## Das erzieherische Moment
Ravat begrüßt die Heraufstufung zum Verbrechen. „In der Vergangenheit wurde
der Strafrahmen oft eben nicht voll ausgeschöpft, viele Täter kamen zu
billig davon. Wenn es künftig um Verbrechen geht, wird sich auch in der
Justiz eine andere Sichtweise auf Missbrauchsdelikte durchsetzen“, hofft
sie. Gerade bei Besitz und Verbreitung von Missbrauchsabbildungen habe sie
viele Bewährungsstrafen gesehen und viele Geldzahlungen – „diese führen
aber nicht zu einer Verhaltensänderung, dieselben Täter kommen immer
wieder“.
Die Anwältin hofft auf das erzieherische Moment der Strafverschärfung; mit
einer Verurteilung werde auch deutlich, dass der Täter sich Hilfe holen
müsse. Das Bagatellargument hält sie für ungültig. „Ich glaube nicht an
Ausrutscher. Jeder Täter fängt irgendwo an, besser man schreitet schon
frühzeitig ein.“ Außerdem werde es auch nach dem neuen Gesetz die
Möglichkeit geben, Kleinigkeiten milder zu beurteilen.
Tatsächlich gibt es auch in den neuen Paragrafen 176a und 176b weiterhin
Taten, die als Vergehen definiert werden. Wenn Kind und Täter in Alter und
Entwicklungsstand ähnlich sind und die sexuelle Handlung einvernehmlich
geschieht, kann von einer Strafe sogar ganz abgesehen werden. Der
vielzitierte Zungenkuss mit einer 13-Jährigen kann also straffrei bleiben.
Dass viele ihrer KollegInnen den Wegfall des Strafbefehls so schlimm
finden, kann Katja Ravat nicht verstehen. „Von vielen Betroffenen wurde der
Strafbefehl als lauwarme Lösung empfunden. Der Täter musste ja weder
ausdrücklich noch öffentlich einräumen, was er getan hat. Er bekam
lediglich Post nach Hause – und konnte seine Verurteilung so nach außen hin
verbergen.“ Ravat glaubt, dass es den Betroffenen mehr Genugtuung bringe,
wenn Tätern künftig die Hauptverhandlung nicht mehr erspart bleibe. Und
Opfer müssten auch künftig nicht in jedem Fall aussagen – nur wenn der
Täter nicht geständig sei. Allerdings, das räumt auch sie ein, werde das
künftig wesentlich öfter passieren. In Ermangelung eines lohnenden „Deals“
würden Anwälte den Beschuldigten eher raten zu schweigen und konfrontativer
verhandeln, wodurch sich Verfahren erheblich in die Länge ziehen könnten.
Das Problem, dass es bis zu einer Prozesseröffnung ein dreiviertel Jahr und
mehr dauert, kennt die Rechtsanwältin aus Freiburg aber auch schon jetzt.
Das Problem sei nicht die Gesetzesreform, betont sie, sondern der eklatante
Mangel an RichterInnen, StaatsanwältInnen, KriminalbeamtInnen und
ausgebildeten TherapeutInnen. Wenn Ravat etwas an den Reformplänen aus dem
Justizministerium zu kritisieren hat, dann dies: „Härtere Strafen allein
bringen nichts, wenn nicht zugleich der Personalmangel behoben wird.“
Selbst wenn ein Verurteilter die klare Aufforderung verstanden hat, sich
Hilfe zu holen, dann findet er diese mangels qualifizierter Therapiestellen
kaum.
Auch Angelika Oetken, die Bens Fall geschildert hat, sagt: „Gesetze müssen
sich in der Praxis bewähren, deshalb muss man die Kritik der Fachleute
hören.“ Sie habe beim Opferstärkungsgesetz von 2016 schon einmal erlebt,
dass gute gesetzgeberische Absichten an der Realität im Gerichtssaal
scheitern können. „Was hilft der Anspruch, die Justiz opfergerecht zu
gestalten, wenn da überlastete BehördenmitarbeiterInnen sitzen, die in
ihrer Ausbildung nie mit den Spezifika von Kindesmissbrauch zu tun hatten
und sich an überholte Klischees und Arbeitsmethoden klammern?“
Als Beispiel nennt Oetken, dass viele RichterInnen nach wie vor mit der
umstrittenen „Nullhypothese“ arbeiteten. Die geht grundsätzlich davon aus,
dass BelastungszeugInnen die Unwahrheit sagen – bis zum Beweis des
Gegenteils, der mit den Mitteln der Aussagepsychologie aus den ZeugInnen
herausgeholt wird. Die Anwendung der Nullhypothese ist Standard und Vorgabe
des Bundesgerichtshofs bei Sexualdelikten. Aber es bedarf dann eben
geschulter Richter, die die sicherlich notwendigen kritischen Fragen in
angemessener Weise stellen können, um Retraumatisierungen bei den
Betroffenen zu vermeiden. Oetken teilt deshalb die Forderung des Deutschen
Juristinnenbunds nach verpflichtender Fortbildung für RichterInnen und
StaatsanwältInnen.
Aber, und jetzt wird ihre Stimme am Telefon leise, das Problem gehe ja noch
viel tiefer, Strafrecht sei nicht alles, es sei ja gewissermaßen nur das
Ende der Kette. „Nehmen Sie den Fall aus Staufen.“ Die Mutter und ihr
Lebensgefährte bekamen zwar am Ende hohe Haftstrafen, ebenso mehrere
„Kunden“ des Paars. Aber dem Jungen wären zwei Jahre brutaler sexueller
Ausbeutung erspart geblieben, wenn das Jugendamt, das den Lebensgefährten
der Mutter als vorbestraften Pädophilen kannte, die Gefahr für das Kind
ernst genommen hätte. Im Idealfall wäre der Lebensgefährte bereits während
und nach seiner ersten Haft von einem erfahrenen Therapeuten wie Gerhard
Senf betreut worden.
Der Therapeut aus Saarbrücken sagt: „Geld in Tätertherapie zu pumpen,
bringt politisch keine Punkte. Aber wenn der Staat die Keule gegen
Kinderschänder rausholt, dann sind alle zufrieden. Auch wenn am Ende kein
einziger Übergriff dadurch verhindert wird.“
Die Balance zwischen politischer Signalwirkung und praktischem Kinderschutz
ist auch für die Verantwortlichen im Bundestag schwer zu finden. Damit das
neue Gesetz in Kraft treten kann, muss man sich nun im Rechtsausschuss
einigen. Einfach wird das nicht.
20 Mar 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Nina Apin
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Helmut Kentler
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