| # taz.de -- Gesetz gegen Missbrauch: Was schützt die Kinder? | |
| > Mit einem neuen Gesetz soll Kindesmissbrauch härter bestraft werden. | |
| > Viele fordern das. Trotzdem wird der Entwurf scharf kritisiert. | |
| Es ist ein normaler Nachmittag im Hort einer Grundschule in Berlin. Die | |
| Kinder der Jahrgangsstufen 5 und 6 zeigen sich gegenseitig etwas auf dem | |
| Smartphone. Nachdem ein Junge, nennen wir ihn Ben, sein Handy gezückt hat, | |
| wirken die Kinder nervös. Am Ende des Nachmittags vertraut sich ein Schüler | |
| im Flüsterton der Erzieherin an. Ben habe eklige Videos auf dem Handy, die | |
| habe ihm der Lebensgefährte seiner Mutter geschickt. Die Erzieherin, die | |
| sich auch in anderer Hinsicht Sorgen um Ben macht, ist geschult im Umgang | |
| mit Verdacht auf sexuellen Missbrauch. Sie ruft bei einer Fachberatung an, | |
| die mit der Schule kooperiert. | |
| Auf deren Rat hin dokumentiert sie die Situation und das Gespräch mit dem | |
| Mitschüler, zunächst ohne Namen zu nennen, und kontaktiert das Jugendamt. | |
| Dieses kontaktiert Bens Mutter. Sie erstattet Anzeige gegen ihren | |
| Lebensgefährten, weil er ihrem Sohn Pornos gezeigt hat. | |
| Im Zuge der polizeilichen Ermittlungen stellt sich heraus, dass der Mann | |
| schon mehrfach wegen des Besitzes von Kinderpornografie vor Gericht stand, | |
| aber immer mit Geldstrafen davon kam. Auch hatte er mehrfach Kinder in | |
| ähnlicher Weise missbraucht, wie er es mit Ben machte, das kam aber erst im | |
| Zuge des Gerichtsverfahrens heraus. Dass er in diesem Fall endlich gestellt | |
| wurde, ist einer Mischung aus Zufall und der Aufmerksamkeit der | |
| PädagogInnen in Bens Schule zu verdanken. Und der konsequenten Haltung von | |
| Bens Mutter, die ihren Lebensgefährten angezeigt hat. | |
| Der Lebensgefährte von Bens Mutter ist geständig, er bekommt per Post einen | |
| Strafbefehl zugestellt, er muss für ein paar Monate ins Gefängnis und eine | |
| Geldstrafe zahlen. Einige Zeit später werden wieder ähnliche Bilder bei ihm | |
| gefunden – diesmal ist auch Ben darauf zu sehen. | |
| „Mit leichter bis mittelschwerer Kinderpornografie können Täter zehn- bis | |
| zwölfmal vor Gericht landen, ohne dass sie auch nur einen Eintrag ins | |
| Führungszeugnis davontragen – oder persönlich vor Gericht erscheinen | |
| müssen“, sagt Angelika Oetken, die den Fall von Ben gerade am Telefon | |
| geschildert hat. „Typen wie der Lebensgefährte von Bens Mutter kamen in der | |
| Vergangenheit zu billig davon – ich bin froh, dass sich das bald ändert.“ | |
| Ben und den Mann, der ihn missbrauchte, gibt es wirklich, nur heißen sie | |
| anders. Oetken hat den Fall auch etwas verfremdet, um keine Rückschlüsse | |
| auf echte Personen zuzulassen. Die 56-Jährige, die als Ergotherapeutin | |
| arbeitet, engagiert sich ehrenamtlich als Betroffene beim [1][Fonds | |
| Sexueller Missbrauch]. Dort berät sie als Mitglied des Betroffenenbeirates | |
| das Familienministerium und die Geschäftsstelle. Als Mitglied eines | |
| Gremiums Clearingstelle berät sie über komplexe und schwierig zu | |
| entscheidende Anträge. Außerdem ist sie aktiv in einem Netzwerk von | |
| Betroffenen, die sich dafür einsetzen, dass sexuelle Gewalt gegen | |
| Minderjährige nicht länger als Bagatelldelikt angesehen wird. Als Vergehen, | |
| also eine minderschwere Straftat, die strafrechtlich auf der gleichen Stufe | |
| rangiert wie Diebstahl oder Unterschlagung. | |
| Wenn der Diebstahl eines Autos härter bestraft wird als der Missbrauch an | |
| einem Kind, dann läuft etwas gewaltig schief in unserer Gesellschaft, | |
| findet Angelika Oetken. Und damit ist sie nicht allein. | |
| ## Sexuelle Gewalt ächten | |
| In den letzten Jahren wurden die Gesetze gegen Kindesmissbrauch mehrfach | |
| verschärft: 2015 dehnte der damalige Justizminister Heiko Maas (SPD) die | |
| Strafbarkeit auf FKK-Bilder von Kindern aus und stellte den Versuch der | |
| Kontaktanbahnung im Internet unter Strafe. Seine Amtsnachfolgerin Christine | |
| Lambrecht (SPD) hat nun ein neues Gesetzespaket auf den Weg gebracht. Der | |
| Entwurf sieht vor, dass künftig in Gesetzestexten nicht mehr von sexuellem | |
| Missbrauch die Rede sein soll, sondern [2][von sexualisierter Gewalt]. | |
| Damit soll signalisiert werden, dass der Gesetzgeber alle sexuellen | |
| Handlungen an Kindern als Gewalt ächtet. | |
| Außerdem soll der Strafrahmen bei Missbrauch (§ 176 StGB) und | |
| Kinderpornografie (§ 184b StGB) deutlich erhöht werden – alle unter diesen | |
| Paragrafen gefassten Taten gelten künftig als Verbrechen und werden mit | |
| nicht unter einem Jahr Freiheitsstrafe geahndet. Für sexuellen Missbrauch | |
| können bislang bis zu 10 Jahre verhängt werden, in Zukunft wären es dann | |
| bis zu 15 Jahre. Für Besitz und Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen | |
| erhöht sich der Strafrahmen auf bis zu 5 Jahre. Wenn jemand gewerbsmäßig | |
| und in großem Stil mit Missbrauchsdarstellungen handelt, sind sogar bis zu | |
| 15 Jahre Gefängnis vorgesehen. | |
| Nach dem neuen Gesetz würde der Lebensgefährte von Bens Mutter zu | |
| mindestens einem Jahr verurteilt und wäre vorbestraft – auch schon beim | |
| ersten Mal. Der Grund für die Verurteilung wäre in seinem Führungszeugnis | |
| vermerkt, er dürfte dann nicht mehr beruflich oder ehrenamtlich mit Kindern | |
| zu tun haben. „Wer einmal erwischt wird, wird auch verurteilt“, fasst | |
| Angelika Oetken die neue Lage zusammen. Sie begrüßt deshalb die | |
| Gesetzesverschärfung – „es wird Zeit, dass sich das Strafrecht an unsere | |
| Realität anpasst“, sagt sie. | |
| Als kleines Mädchen wurde Angelika Oetken selbst von einem Freund der | |
| Eltern missbraucht. Bis ins Erwachsenenleben schwieg sie darüber. Gut so, | |
| wie sie heute findet. Damals, ist sie überzeugt, hätte eine Anzeige ihr | |
| Leben zerstört. „Man hätte mich in ein Kinderheim gesteckt – als | |
| beschädigtes, ‚nymphomanisches Mädchen‘ stigmatisiert wäre ich als Gefahr | |
| für andere angesehen worden. So war damals die Realität.“ | |
| Das ist heute anders. Vor Gericht, im Jugendamt oder bei der Polizei bringt | |
| man Kindern, die von sexueller Gewalt betroffen sind, mehr Sensibilität | |
| entgegen. In den vergangenen Jahrzehnten ist auch das Hilfesystem gewachsen | |
| – je früher die Taten entdeckt und geahndet werden, desto besser kann einem | |
| Kind geholfen werden. | |
| Die Realität heute, das sind aber auch: Mehr als 13.000 Fälle von sexuellem | |
| Kindesmissbrauch, die 2019 den Ermittlungsbehörden gemeldet wurden – | |
| durchschnittlich mehr als 35 Fälle pro Tag. Dazu mehr als 1.000 Fälle | |
| sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen und Jugendlichen und mehr als | |
| 12.000 angezeigte Fälle von Abbildungen sexueller Gewalt an Kindern, | |
| sogenannte Kinderpornografie. Und das sind nur die bekannten Zahlen. Das | |
| Dunkelfeld schätzen Fachleute um ein Vielfaches größer. | |
| Angesichts der vielen Fälle ist es nur folgerichtig, dass der Gesetzgeber | |
| aktiv wird, um sexuelle Gewalt gegen Kinder zu bekämpfen. Dennoch gibt es | |
| JuristInnen, die vor dem neuen Gesetz warnen, und TherapeutInnen, die ihre | |
| Arbeit dadurch bedroht sehen. Selbst BetroffenenvertreterInnen äußern | |
| Kritik. Woher kommt dieser Widerstand gegen die Gesetzesverschärfungen, | |
| wenn doch die Zahlen der Polizei so alarmierend sind? | |
| Dass sexuelle Übergriffe gegen Kinder ein Massenphänomen sind, das in | |
| sämtlichen Gesellschaftsbereichen vorkommt, ist spätestens seit dem Jahr | |
| 2010 bekannt. Damals erschütterten zahlreiche Fälle etwa am katholischen | |
| Canisius-Kolleg oder an der reformpädagogischen Odenwaldschule die | |
| Öffentlichkeit. | |
| ## Die Politik unter Zugzwang | |
| Die jüngste Strafrechtsverschärfung entstand auch unter dem Eindruck | |
| besonders drastischer Missbrauchsfälle der letzten Jahre. Auf einem | |
| Campingplatz im nordrhein-westfälischen [3][Lügde] wurden zwischen 2008 und | |
| 2018 mehr als 40 Kinder von mehreren Männern missbraucht und dabei gefilmt. | |
| Einer der Haupttäter war der Pflegevater eines betroffenen Mädchens. 2019 | |
| wurde in Bergisch-Gladbach das größte bisher bekannte | |
| Pädosexuellen-Netzwerk ausgehoben, mit mehreren Zehntausenden | |
| Tatverdächtigen, die Unmengen brutaler Missbrauchsabbildungen von | |
| Kleinkindern im Internet getauscht hatten. 2020 wurde in Münster knapp ein | |
| Dutzend Männer beschuldigt, schweren Missbrauch an eigenen und Stiefkindern | |
| begangen und die Taten gefilmt zu haben. Als Haupttatort gilt eine | |
| Gartenlaube, die der Mutter eines der Täter gehört. | |
| Die öffentliche Empörung über derlei Taten und der Eindruck, dass die | |
| Strafverfolgungsbehörden ihnen nur sehr ungenügend begegnen können, setzte | |
| die Politik unter Zugzwang. Etwas sollte, ja musste geschehen. | |
| Justizministerin Christine Lambrecht hatte sich noch nach dem Fall in | |
| Münster deutlich gegen Strafverschärfungen ausgesprochen, da sie den | |
| geltenden Strafrahmen für ausreichend hielt. Doch der konservative | |
| Koalitionspartner machte Druck: Besonders Nordrhein-Westfalens | |
| Innenminister Herbert Reul (CDU), in dessen Bundesland alle drei Skandale | |
| ihren Ursprung hatten, forderte ein härteres strafrechtliches Vorgehen, er | |
| wollte ein Signal senden, dass der Staat gegen Missbrauchstäter | |
| entschlossen auftritt. | |
| Lambrecht schwenkte um und arbeitete ein umfangreiches Gesetz zur | |
| „Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder“ aus, das im Oktober 2020 | |
| vom Kabinett beschlossen wurde. Mit der Härte des Gesetzes gegen | |
| Kinderschänder, eine sichere Sache, sollte man meinen. | |
| Doch es kam anders: Bei der routinemäßigen Anhörung von Sachverständigen im | |
| Dezember im Bundestag zerpflückten die geladenen StrafrechtsexpertInnen den | |
| Gesetzentwurf gründlich: Der Begriff der „sexualisierten Gewalt“ sei nicht | |
| hilfreich, er verneble den Unterschied zwischen Handlungen mit und ohne | |
| Anwendung von körperlicher Gewalt – und relativiere so besonders brutale | |
| Taten. Die unterschiedslose Hochstufung zum Verbrechen sei bei | |
| minderschweren Fällen unverhältnismäßig – dabei sei die | |
| Abschreckungswirkung durch höhere Strafen nicht einmal bewiesen. Außerdem | |
| drohe eine Überlastung der Gerichte und Staatsanwaltschaften. Sogar von | |
| einer „Kriminalpolitik nach den Vorgaben der Boulevardpresse“ war die Rede. | |
| So massiv war die Kritik, dass das Vorhaben seit Dezember auf Eis liegt. | |
| Seitdem streiten sich die Koalitionspartner darüber, die CDU will an den | |
| höheren Strafen festhalten, während der SPD viel an der Begriffsänderung | |
| liegt. | |
| Zu den Kritikern des neuen Entwurfs gehört, ausgerechnet, der Unabhängige | |
| Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. | |
| „Die Reform hat viele gute Punkte, legt Ermittlern, Richtern und | |
| Staatsanwälten aber einige veritable Probleme auf den Tisch“, sagt | |
| Johannes-Wilhelm Rörig. Der Jurist begrüßt zwar, dass auch Taten wie das | |
| Befummeln von Geschlechtsteilen künftig ein Verbrechen sein sollen, warnt | |
| aber vor Unverhältnismäßigkeit. So gelte künftig auch der Zungenkuss eines | |
| 21-Jährigen mit einer fast 14-Jährigen als Verbrechen. | |
| Für besonders problematisch hält Rörig, dass künftig alles vor Gericht | |
| verhandelt werden muss – die bisherige Lösung, einen geständigen | |
| Angeklagten in einem minderschweren Fall per Strafbefehl abzuurteilen, | |
| beschleunigt Verfahren und erspart dem Opfer eine Aussage vor Gericht. Bei | |
| Verbrechen ist der Einsatz von Strafbefehlen dagegen nicht möglich und die | |
| öffentliche Verhandlung zwingend. Rörig fürchtet, dass das gut gemeinte | |
| Gesetz gerade für die Betroffenen einen Rückschritt bringt, da ihnen nun | |
| lange, quälende Verfahren drohten – und Staatsanwälte unter der vermehrten | |
| Arbeitsbelastung wohl so manchen komplizierten Fall eher zu den Akten legen | |
| könnten. | |
| Gerhard Senf hat da noch eine entschiedenere Meinung. Er erklärt am Telefon | |
| ganz unverblümt, was er von dem Gesetzentwurf hält: „Das ist verlogener, | |
| populistischer Mist.“ Der 70-Jährige ist Sexualtherapeut und arbeitet in | |
| seiner Saarbrücker Praxis seit mehr als 30 Jahren mit Sexualstraftätern: | |
| Vergewaltigern, Inzesttätern, Pädophilen bis hin zu Serientätern mit | |
| sadistischer Gewaltneigung. Die meisten von ihnen sitzen noch im Gefängnis, | |
| wenn Senf zu ihnen Kontakt aufnimmt. Nach ihrer Entlassung bekommen sie bei | |
| ihm Psychotherapie im Rahmen ihrer Bewährungsauflagen. | |
| Schaden für die Gesellschaft und den Täter minimieren und beim Patienten | |
| eine moralische Entwicklung herbeiführen, so beschreibt der Therapeut, der | |
| sein Handwerk bei der Familienberatungsstelle pro familia gelernt hat, | |
| seinen Ansatz. Über viele Jahre begleitet Senf seine Patienten durch ihren | |
| Alltag. Senf will die Täter verstehen, er glaubt an ihre Resozialisierung. | |
| Und daran, dass auch Menschen, die Kinder missbrauchen, eine Würde und | |
| Rechte haben. Der Erfolg seines Ansatzes ist unbestritten, die | |
| Rückfallquote seiner Patienten liegt bei sensationellen 20 Prozent, im | |
| Bundesdurchschnitt werden 80 Prozent rückfällig. | |
| Doch Senf beklagt, dass seine Methode am Aussterben sei, es fehle an | |
| Nachwuchs. Zum einen, weil Einfühlung in die Psyche von Sexualstraftätern | |
| nicht gerade jeder oder jedem gegeben sei. Aber auch, weil die Arbeit immer | |
| mehr erschwert werde: Die therapeutische Betreuung in den Gefängnissen sei | |
| absolut ungenügend, es werde wenig Wert darauf gelegt. „Hauptsache im | |
| Knast“ beschreibt er die Einstellung vieler RichterInnen. Sexualstraftäter, | |
| die eigentlich eine engmaschige Betreuung bräuchten, würden schon mal im | |
| Maßregelvollzug „vergessen“. Ständig, so der Therapeut, müsse er sich um | |
| Erstattung seiner Fahrtkosten streiten und um die Finanzierung von | |
| Therapien, die der Staat zwar anordne, für die er aber nicht aufkomme. | |
| Dadurch seien er und seine Kollegen zu ehrenamtlicher Arbeit gezwungen – | |
| oder zur Abwälzung der Kosten auf die Krankenkassen durch eine | |
| zusammengeschusterte Krankheitsdiagnose. | |
| ## Im Zweifel für den Angeklagten? | |
| Besonders ärgert sich der Sexualtherapeut über die Strafverschärfungen bei | |
| Missbrauchsabbildungen im neuen Gesetz. Ein falsches Bild auf dem Computer | |
| – ein Jahr Knast? „Das ist, wie wenn Sie eine Mücke an der Wand mit einem | |
| Vorschlaghammer erschlagen – dann ist hinterher in der Wand ein | |
| Riesenloch“, schnaubt er. Fast alle Männer zwischen 14 und 80 Jahren | |
| guckten Pornos – und der Unterschied zwischen dem rasierten Geschlechtsteil | |
| einer 13-Jährigen und einer 18-Jährigen sei nicht offensichtlich. | |
| „Im Zweifel für den Angeklagten? Das gilt jetzt nicht mehr.“ Senf sieht | |
| eine Überflutung der Gerichte durch Bagatellfälle kommen. „Abertausende | |
| sogenannte Täter – und wir Therapeuten sollen dann die echten erwischen!“ | |
| Während der Sexualtherapeut im Gesetzentwurf nur billige | |
| Law-and-rder-Symbolpolitik sieht, begrüßt Katja Ravat das deutliche Signal | |
| an die Täter. Die 44-jährige Strafrechtsanwältin vertritt in ihrer | |
| Freiburger Kanzlei seit 16 Jahren Betroffene von sexueller Gewalt – unter | |
| anderem den Jungen aus Staufen, der von seiner Mutter und deren | |
| Lebensgefährten gewerbsmäßig im Internet zur Vergewaltigung „angeboten“ | |
| wurde. Nebenbei ist sie ehrenamtlich tätig in der Geschädigtenbetreuung des | |
| [4][Weißen Rings Breisgau]. | |
| ## Das erzieherische Moment | |
| Ravat begrüßt die Heraufstufung zum Verbrechen. „In der Vergangenheit wurde | |
| der Strafrahmen oft eben nicht voll ausgeschöpft, viele Täter kamen zu | |
| billig davon. Wenn es künftig um Verbrechen geht, wird sich auch in der | |
| Justiz eine andere Sichtweise auf Missbrauchsdelikte durchsetzen“, hofft | |
| sie. Gerade bei Besitz und Verbreitung von Missbrauchsabbildungen habe sie | |
| viele Bewährungsstrafen gesehen und viele Geldzahlungen – „diese führen | |
| aber nicht zu einer Verhaltensänderung, dieselben Täter kommen immer | |
| wieder“. | |
| Die Anwältin hofft auf das erzieherische Moment der Strafverschärfung; mit | |
| einer Verurteilung werde auch deutlich, dass der Täter sich Hilfe holen | |
| müsse. Das Bagatellargument hält sie für ungültig. „Ich glaube nicht an | |
| Ausrutscher. Jeder Täter fängt irgendwo an, besser man schreitet schon | |
| frühzeitig ein.“ Außerdem werde es auch nach dem neuen Gesetz die | |
| Möglichkeit geben, Kleinigkeiten milder zu beurteilen. | |
| Tatsächlich gibt es auch in den neuen Paragrafen 176a und 176b weiterhin | |
| Taten, die als Vergehen definiert werden. Wenn Kind und Täter in Alter und | |
| Entwicklungsstand ähnlich sind und die sexuelle Handlung einvernehmlich | |
| geschieht, kann von einer Strafe sogar ganz abgesehen werden. Der | |
| vielzitierte Zungenkuss mit einer 13-Jährigen kann also straffrei bleiben. | |
| Dass viele ihrer KollegInnen den Wegfall des Strafbefehls so schlimm | |
| finden, kann Katja Ravat nicht verstehen. „Von vielen Betroffenen wurde der | |
| Strafbefehl als lauwarme Lösung empfunden. Der Täter musste ja weder | |
| ausdrücklich noch öffentlich einräumen, was er getan hat. Er bekam | |
| lediglich Post nach Hause – und konnte seine Verurteilung so nach außen hin | |
| verbergen.“ Ravat glaubt, dass es den Betroffenen mehr Genugtuung bringe, | |
| wenn Tätern künftig die Hauptverhandlung nicht mehr erspart bleibe. Und | |
| Opfer müssten auch künftig nicht in jedem Fall aussagen – nur wenn der | |
| Täter nicht geständig sei. Allerdings, das räumt auch sie ein, werde das | |
| künftig wesentlich öfter passieren. In Ermangelung eines lohnenden „Deals“ | |
| würden Anwälte den Beschuldigten eher raten zu schweigen und konfrontativer | |
| verhandeln, wodurch sich Verfahren erheblich in die Länge ziehen könnten. | |
| Das Problem, dass es bis zu einer Prozesseröffnung ein dreiviertel Jahr und | |
| mehr dauert, kennt die Rechtsanwältin aus Freiburg aber auch schon jetzt. | |
| Das Problem sei nicht die Gesetzesreform, betont sie, sondern der eklatante | |
| Mangel an RichterInnen, StaatsanwältInnen, KriminalbeamtInnen und | |
| ausgebildeten TherapeutInnen. Wenn Ravat etwas an den Reformplänen aus dem | |
| Justizministerium zu kritisieren hat, dann dies: „Härtere Strafen allein | |
| bringen nichts, wenn nicht zugleich der Personalmangel behoben wird.“ | |
| Selbst wenn ein Verurteilter die klare Aufforderung verstanden hat, sich | |
| Hilfe zu holen, dann findet er diese mangels qualifizierter Therapiestellen | |
| kaum. | |
| Auch Angelika Oetken, die Bens Fall geschildert hat, sagt: „Gesetze müssen | |
| sich in der Praxis bewähren, deshalb muss man die Kritik der Fachleute | |
| hören.“ Sie habe beim Opferstärkungsgesetz von 2016 schon einmal erlebt, | |
| dass gute gesetzgeberische Absichten an der Realität im Gerichtssaal | |
| scheitern können. „Was hilft der Anspruch, die Justiz opfergerecht zu | |
| gestalten, wenn da überlastete BehördenmitarbeiterInnen sitzen, die in | |
| ihrer Ausbildung nie mit den Spezifika von Kindesmissbrauch zu tun hatten | |
| und sich an überholte Klischees und Arbeitsmethoden klammern?“ | |
| Als Beispiel nennt Oetken, dass viele RichterInnen nach wie vor mit der | |
| umstrittenen „Nullhypothese“ arbeiteten. Die geht grundsätzlich davon aus, | |
| dass BelastungszeugInnen die Unwahrheit sagen – bis zum Beweis des | |
| Gegenteils, der mit den Mitteln der Aussagepsychologie aus den ZeugInnen | |
| herausgeholt wird. Die Anwendung der Nullhypothese ist Standard und Vorgabe | |
| des Bundesgerichtshofs bei Sexualdelikten. Aber es bedarf dann eben | |
| geschulter Richter, die die sicherlich notwendigen kritischen Fragen in | |
| angemessener Weise stellen können, um Retraumatisierungen bei den | |
| Betroffenen zu vermeiden. Oetken teilt deshalb die Forderung des Deutschen | |
| Juristinnenbunds nach verpflichtender Fortbildung für RichterInnen und | |
| StaatsanwältInnen. | |
| Aber, und jetzt wird ihre Stimme am Telefon leise, das Problem gehe ja noch | |
| viel tiefer, Strafrecht sei nicht alles, es sei ja gewissermaßen nur das | |
| Ende der Kette. „Nehmen Sie den Fall aus Staufen.“ Die Mutter und ihr | |
| Lebensgefährte bekamen zwar am Ende hohe Haftstrafen, ebenso mehrere | |
| „Kunden“ des Paars. Aber dem Jungen wären zwei Jahre brutaler sexueller | |
| Ausbeutung erspart geblieben, wenn das Jugendamt, das den Lebensgefährten | |
| der Mutter als vorbestraften Pädophilen kannte, die Gefahr für das Kind | |
| ernst genommen hätte. Im Idealfall wäre der Lebensgefährte bereits während | |
| und nach seiner ersten Haft von einem erfahrenen Therapeuten wie Gerhard | |
| Senf betreut worden. | |
| Der Therapeut aus Saarbrücken sagt: „Geld in Tätertherapie zu pumpen, | |
| bringt politisch keine Punkte. Aber wenn der Staat die Keule gegen | |
| Kinderschänder rausholt, dann sind alle zufrieden. Auch wenn am Ende kein | |
| einziger Übergriff dadurch verhindert wird.“ | |
| Die Balance zwischen politischer Signalwirkung und praktischem Kinderschutz | |
| ist auch für die Verantwortlichen im Bundestag schwer zu finden. Damit das | |
| neue Gesetz in Kraft treten kann, muss man sich nun im Rechtsausschuss | |
| einigen. Einfach wird das nicht. | |
| 20 Mar 2021 | |
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| Nina Apin | |
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| Helmut Kentler | |
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