# taz.de -- Gesetz gegen Missbrauch: Was schützt die Kinder? | |
> Mit einem neuen Gesetz soll Kindesmissbrauch härter bestraft werden. | |
> Viele fordern das. Trotzdem wird der Entwurf scharf kritisiert. | |
Es ist ein normaler Nachmittag im Hort einer Grundschule in Berlin. Die | |
Kinder der Jahrgangsstufen 5 und 6 zeigen sich gegenseitig etwas auf dem | |
Smartphone. Nachdem ein Junge, nennen wir ihn Ben, sein Handy gezückt hat, | |
wirken die Kinder nervös. Am Ende des Nachmittags vertraut sich ein Schüler | |
im Flüsterton der Erzieherin an. Ben habe eklige Videos auf dem Handy, die | |
habe ihm der Lebensgefährte seiner Mutter geschickt. Die Erzieherin, die | |
sich auch in anderer Hinsicht Sorgen um Ben macht, ist geschult im Umgang | |
mit Verdacht auf sexuellen Missbrauch. Sie ruft bei einer Fachberatung an, | |
die mit der Schule kooperiert. | |
Auf deren Rat hin dokumentiert sie die Situation und das Gespräch mit dem | |
Mitschüler, zunächst ohne Namen zu nennen, und kontaktiert das Jugendamt. | |
Dieses kontaktiert Bens Mutter. Sie erstattet Anzeige gegen ihren | |
Lebensgefährten, weil er ihrem Sohn Pornos gezeigt hat. | |
Im Zuge der polizeilichen Ermittlungen stellt sich heraus, dass der Mann | |
schon mehrfach wegen des Besitzes von Kinderpornografie vor Gericht stand, | |
aber immer mit Geldstrafen davon kam. Auch hatte er mehrfach Kinder in | |
ähnlicher Weise missbraucht, wie er es mit Ben machte, das kam aber erst im | |
Zuge des Gerichtsverfahrens heraus. Dass er in diesem Fall endlich gestellt | |
wurde, ist einer Mischung aus Zufall und der Aufmerksamkeit der | |
PädagogInnen in Bens Schule zu verdanken. Und der konsequenten Haltung von | |
Bens Mutter, die ihren Lebensgefährten angezeigt hat. | |
Der Lebensgefährte von Bens Mutter ist geständig, er bekommt per Post einen | |
Strafbefehl zugestellt, er muss für ein paar Monate ins Gefängnis und eine | |
Geldstrafe zahlen. Einige Zeit später werden wieder ähnliche Bilder bei ihm | |
gefunden – diesmal ist auch Ben darauf zu sehen. | |
„Mit leichter bis mittelschwerer Kinderpornografie können Täter zehn- bis | |
zwölfmal vor Gericht landen, ohne dass sie auch nur einen Eintrag ins | |
Führungszeugnis davontragen – oder persönlich vor Gericht erscheinen | |
müssen“, sagt Angelika Oetken, die den Fall von Ben gerade am Telefon | |
geschildert hat. „Typen wie der Lebensgefährte von Bens Mutter kamen in der | |
Vergangenheit zu billig davon – ich bin froh, dass sich das bald ändert.“ | |
Ben und den Mann, der ihn missbrauchte, gibt es wirklich, nur heißen sie | |
anders. Oetken hat den Fall auch etwas verfremdet, um keine Rückschlüsse | |
auf echte Personen zuzulassen. Die 56-Jährige, die als Ergotherapeutin | |
arbeitet, engagiert sich ehrenamtlich als Betroffene beim [1][Fonds | |
Sexueller Missbrauch]. Dort berät sie als Mitglied des Betroffenenbeirates | |
das Familienministerium und die Geschäftsstelle. Als Mitglied eines | |
Gremiums Clearingstelle berät sie über komplexe und schwierig zu | |
entscheidende Anträge. Außerdem ist sie aktiv in einem Netzwerk von | |
Betroffenen, die sich dafür einsetzen, dass sexuelle Gewalt gegen | |
Minderjährige nicht länger als Bagatelldelikt angesehen wird. Als Vergehen, | |
also eine minderschwere Straftat, die strafrechtlich auf der gleichen Stufe | |
rangiert wie Diebstahl oder Unterschlagung. | |
Wenn der Diebstahl eines Autos härter bestraft wird als der Missbrauch an | |
einem Kind, dann läuft etwas gewaltig schief in unserer Gesellschaft, | |
findet Angelika Oetken. Und damit ist sie nicht allein. | |
## Sexuelle Gewalt ächten | |
In den letzten Jahren wurden die Gesetze gegen Kindesmissbrauch mehrfach | |
verschärft: 2015 dehnte der damalige Justizminister Heiko Maas (SPD) die | |
Strafbarkeit auf FKK-Bilder von Kindern aus und stellte den Versuch der | |
Kontaktanbahnung im Internet unter Strafe. Seine Amtsnachfolgerin Christine | |
Lambrecht (SPD) hat nun ein neues Gesetzespaket auf den Weg gebracht. Der | |
Entwurf sieht vor, dass künftig in Gesetzestexten nicht mehr von sexuellem | |
Missbrauch die Rede sein soll, sondern [2][von sexualisierter Gewalt]. | |
Damit soll signalisiert werden, dass der Gesetzgeber alle sexuellen | |
Handlungen an Kindern als Gewalt ächtet. | |
Außerdem soll der Strafrahmen bei Missbrauch (§ 176 StGB) und | |
Kinderpornografie (§ 184b StGB) deutlich erhöht werden – alle unter diesen | |
Paragrafen gefassten Taten gelten künftig als Verbrechen und werden mit | |
nicht unter einem Jahr Freiheitsstrafe geahndet. Für sexuellen Missbrauch | |
können bislang bis zu 10 Jahre verhängt werden, in Zukunft wären es dann | |
bis zu 15 Jahre. Für Besitz und Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen | |
erhöht sich der Strafrahmen auf bis zu 5 Jahre. Wenn jemand gewerbsmäßig | |
und in großem Stil mit Missbrauchsdarstellungen handelt, sind sogar bis zu | |
15 Jahre Gefängnis vorgesehen. | |
Nach dem neuen Gesetz würde der Lebensgefährte von Bens Mutter zu | |
mindestens einem Jahr verurteilt und wäre vorbestraft – auch schon beim | |
ersten Mal. Der Grund für die Verurteilung wäre in seinem Führungszeugnis | |
vermerkt, er dürfte dann nicht mehr beruflich oder ehrenamtlich mit Kindern | |
zu tun haben. „Wer einmal erwischt wird, wird auch verurteilt“, fasst | |
Angelika Oetken die neue Lage zusammen. Sie begrüßt deshalb die | |
Gesetzesverschärfung – „es wird Zeit, dass sich das Strafrecht an unsere | |
Realität anpasst“, sagt sie. | |
Als kleines Mädchen wurde Angelika Oetken selbst von einem Freund der | |
Eltern missbraucht. Bis ins Erwachsenenleben schwieg sie darüber. Gut so, | |
wie sie heute findet. Damals, ist sie überzeugt, hätte eine Anzeige ihr | |
Leben zerstört. „Man hätte mich in ein Kinderheim gesteckt – als | |
beschädigtes, ‚nymphomanisches Mädchen‘ stigmatisiert wäre ich als Gefahr | |
für andere angesehen worden. So war damals die Realität.“ | |
Das ist heute anders. Vor Gericht, im Jugendamt oder bei der Polizei bringt | |
man Kindern, die von sexueller Gewalt betroffen sind, mehr Sensibilität | |
entgegen. In den vergangenen Jahrzehnten ist auch das Hilfesystem gewachsen | |
– je früher die Taten entdeckt und geahndet werden, desto besser kann einem | |
Kind geholfen werden. | |
Die Realität heute, das sind aber auch: Mehr als 13.000 Fälle von sexuellem | |
Kindesmissbrauch, die 2019 den Ermittlungsbehörden gemeldet wurden – | |
durchschnittlich mehr als 35 Fälle pro Tag. Dazu mehr als 1.000 Fälle | |
sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen und Jugendlichen und mehr als | |
12.000 angezeigte Fälle von Abbildungen sexueller Gewalt an Kindern, | |
sogenannte Kinderpornografie. Und das sind nur die bekannten Zahlen. Das | |
Dunkelfeld schätzen Fachleute um ein Vielfaches größer. | |
Angesichts der vielen Fälle ist es nur folgerichtig, dass der Gesetzgeber | |
aktiv wird, um sexuelle Gewalt gegen Kinder zu bekämpfen. Dennoch gibt es | |
JuristInnen, die vor dem neuen Gesetz warnen, und TherapeutInnen, die ihre | |
Arbeit dadurch bedroht sehen. Selbst BetroffenenvertreterInnen äußern | |
Kritik. Woher kommt dieser Widerstand gegen die Gesetzesverschärfungen, | |
wenn doch die Zahlen der Polizei so alarmierend sind? | |
Dass sexuelle Übergriffe gegen Kinder ein Massenphänomen sind, das in | |
sämtlichen Gesellschaftsbereichen vorkommt, ist spätestens seit dem Jahr | |
2010 bekannt. Damals erschütterten zahlreiche Fälle etwa am katholischen | |
Canisius-Kolleg oder an der reformpädagogischen Odenwaldschule die | |
Öffentlichkeit. | |
## Die Politik unter Zugzwang | |
Die jüngste Strafrechtsverschärfung entstand auch unter dem Eindruck | |
besonders drastischer Missbrauchsfälle der letzten Jahre. Auf einem | |
Campingplatz im nordrhein-westfälischen [3][Lügde] wurden zwischen 2008 und | |
2018 mehr als 40 Kinder von mehreren Männern missbraucht und dabei gefilmt. | |
Einer der Haupttäter war der Pflegevater eines betroffenen Mädchens. 2019 | |
wurde in Bergisch-Gladbach das größte bisher bekannte | |
Pädosexuellen-Netzwerk ausgehoben, mit mehreren Zehntausenden | |
Tatverdächtigen, die Unmengen brutaler Missbrauchsabbildungen von | |
Kleinkindern im Internet getauscht hatten. 2020 wurde in Münster knapp ein | |
Dutzend Männer beschuldigt, schweren Missbrauch an eigenen und Stiefkindern | |
begangen und die Taten gefilmt zu haben. Als Haupttatort gilt eine | |
Gartenlaube, die der Mutter eines der Täter gehört. | |
Die öffentliche Empörung über derlei Taten und der Eindruck, dass die | |
Strafverfolgungsbehörden ihnen nur sehr ungenügend begegnen können, setzte | |
die Politik unter Zugzwang. Etwas sollte, ja musste geschehen. | |
Justizministerin Christine Lambrecht hatte sich noch nach dem Fall in | |
Münster deutlich gegen Strafverschärfungen ausgesprochen, da sie den | |
geltenden Strafrahmen für ausreichend hielt. Doch der konservative | |
Koalitionspartner machte Druck: Besonders Nordrhein-Westfalens | |
Innenminister Herbert Reul (CDU), in dessen Bundesland alle drei Skandale | |
ihren Ursprung hatten, forderte ein härteres strafrechtliches Vorgehen, er | |
wollte ein Signal senden, dass der Staat gegen Missbrauchstäter | |
entschlossen auftritt. | |
Lambrecht schwenkte um und arbeitete ein umfangreiches Gesetz zur | |
„Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder“ aus, das im Oktober 2020 | |
vom Kabinett beschlossen wurde. Mit der Härte des Gesetzes gegen | |
Kinderschänder, eine sichere Sache, sollte man meinen. | |
Doch es kam anders: Bei der routinemäßigen Anhörung von Sachverständigen im | |
Dezember im Bundestag zerpflückten die geladenen StrafrechtsexpertInnen den | |
Gesetzentwurf gründlich: Der Begriff der „sexualisierten Gewalt“ sei nicht | |
hilfreich, er verneble den Unterschied zwischen Handlungen mit und ohne | |
Anwendung von körperlicher Gewalt – und relativiere so besonders brutale | |
Taten. Die unterschiedslose Hochstufung zum Verbrechen sei bei | |
minderschweren Fällen unverhältnismäßig – dabei sei die | |
Abschreckungswirkung durch höhere Strafen nicht einmal bewiesen. Außerdem | |
drohe eine Überlastung der Gerichte und Staatsanwaltschaften. Sogar von | |
einer „Kriminalpolitik nach den Vorgaben der Boulevardpresse“ war die Rede. | |
So massiv war die Kritik, dass das Vorhaben seit Dezember auf Eis liegt. | |
Seitdem streiten sich die Koalitionspartner darüber, die CDU will an den | |
höheren Strafen festhalten, während der SPD viel an der Begriffsänderung | |
liegt. | |
Zu den Kritikern des neuen Entwurfs gehört, ausgerechnet, der Unabhängige | |
Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. | |
„Die Reform hat viele gute Punkte, legt Ermittlern, Richtern und | |
Staatsanwälten aber einige veritable Probleme auf den Tisch“, sagt | |
Johannes-Wilhelm Rörig. Der Jurist begrüßt zwar, dass auch Taten wie das | |
Befummeln von Geschlechtsteilen künftig ein Verbrechen sein sollen, warnt | |
aber vor Unverhältnismäßigkeit. So gelte künftig auch der Zungenkuss eines | |
21-Jährigen mit einer fast 14-Jährigen als Verbrechen. | |
Für besonders problematisch hält Rörig, dass künftig alles vor Gericht | |
verhandelt werden muss – die bisherige Lösung, einen geständigen | |
Angeklagten in einem minderschweren Fall per Strafbefehl abzuurteilen, | |
beschleunigt Verfahren und erspart dem Opfer eine Aussage vor Gericht. Bei | |
Verbrechen ist der Einsatz von Strafbefehlen dagegen nicht möglich und die | |
öffentliche Verhandlung zwingend. Rörig fürchtet, dass das gut gemeinte | |
Gesetz gerade für die Betroffenen einen Rückschritt bringt, da ihnen nun | |
lange, quälende Verfahren drohten – und Staatsanwälte unter der vermehrten | |
Arbeitsbelastung wohl so manchen komplizierten Fall eher zu den Akten legen | |
könnten. | |
Gerhard Senf hat da noch eine entschiedenere Meinung. Er erklärt am Telefon | |
ganz unverblümt, was er von dem Gesetzentwurf hält: „Das ist verlogener, | |
populistischer Mist.“ Der 70-Jährige ist Sexualtherapeut und arbeitet in | |
seiner Saarbrücker Praxis seit mehr als 30 Jahren mit Sexualstraftätern: | |
Vergewaltigern, Inzesttätern, Pädophilen bis hin zu Serientätern mit | |
sadistischer Gewaltneigung. Die meisten von ihnen sitzen noch im Gefängnis, | |
wenn Senf zu ihnen Kontakt aufnimmt. Nach ihrer Entlassung bekommen sie bei | |
ihm Psychotherapie im Rahmen ihrer Bewährungsauflagen. | |
Schaden für die Gesellschaft und den Täter minimieren und beim Patienten | |
eine moralische Entwicklung herbeiführen, so beschreibt der Therapeut, der | |
sein Handwerk bei der Familienberatungsstelle pro familia gelernt hat, | |
seinen Ansatz. Über viele Jahre begleitet Senf seine Patienten durch ihren | |
Alltag. Senf will die Täter verstehen, er glaubt an ihre Resozialisierung. | |
Und daran, dass auch Menschen, die Kinder missbrauchen, eine Würde und | |
Rechte haben. Der Erfolg seines Ansatzes ist unbestritten, die | |
Rückfallquote seiner Patienten liegt bei sensationellen 20 Prozent, im | |
Bundesdurchschnitt werden 80 Prozent rückfällig. | |
Doch Senf beklagt, dass seine Methode am Aussterben sei, es fehle an | |
Nachwuchs. Zum einen, weil Einfühlung in die Psyche von Sexualstraftätern | |
nicht gerade jeder oder jedem gegeben sei. Aber auch, weil die Arbeit immer | |
mehr erschwert werde: Die therapeutische Betreuung in den Gefängnissen sei | |
absolut ungenügend, es werde wenig Wert darauf gelegt. „Hauptsache im | |
Knast“ beschreibt er die Einstellung vieler RichterInnen. Sexualstraftäter, | |
die eigentlich eine engmaschige Betreuung bräuchten, würden schon mal im | |
Maßregelvollzug „vergessen“. Ständig, so der Therapeut, müsse er sich um | |
Erstattung seiner Fahrtkosten streiten und um die Finanzierung von | |
Therapien, die der Staat zwar anordne, für die er aber nicht aufkomme. | |
Dadurch seien er und seine Kollegen zu ehrenamtlicher Arbeit gezwungen – | |
oder zur Abwälzung der Kosten auf die Krankenkassen durch eine | |
zusammengeschusterte Krankheitsdiagnose. | |
## Im Zweifel für den Angeklagten? | |
Besonders ärgert sich der Sexualtherapeut über die Strafverschärfungen bei | |
Missbrauchsabbildungen im neuen Gesetz. Ein falsches Bild auf dem Computer | |
– ein Jahr Knast? „Das ist, wie wenn Sie eine Mücke an der Wand mit einem | |
Vorschlaghammer erschlagen – dann ist hinterher in der Wand ein | |
Riesenloch“, schnaubt er. Fast alle Männer zwischen 14 und 80 Jahren | |
guckten Pornos – und der Unterschied zwischen dem rasierten Geschlechtsteil | |
einer 13-Jährigen und einer 18-Jährigen sei nicht offensichtlich. | |
„Im Zweifel für den Angeklagten? Das gilt jetzt nicht mehr.“ Senf sieht | |
eine Überflutung der Gerichte durch Bagatellfälle kommen. „Abertausende | |
sogenannte Täter – und wir Therapeuten sollen dann die echten erwischen!“ | |
Während der Sexualtherapeut im Gesetzentwurf nur billige | |
Law-and-rder-Symbolpolitik sieht, begrüßt Katja Ravat das deutliche Signal | |
an die Täter. Die 44-jährige Strafrechtsanwältin vertritt in ihrer | |
Freiburger Kanzlei seit 16 Jahren Betroffene von sexueller Gewalt – unter | |
anderem den Jungen aus Staufen, der von seiner Mutter und deren | |
Lebensgefährten gewerbsmäßig im Internet zur Vergewaltigung „angeboten“ | |
wurde. Nebenbei ist sie ehrenamtlich tätig in der Geschädigtenbetreuung des | |
[4][Weißen Rings Breisgau]. | |
## Das erzieherische Moment | |
Ravat begrüßt die Heraufstufung zum Verbrechen. „In der Vergangenheit wurde | |
der Strafrahmen oft eben nicht voll ausgeschöpft, viele Täter kamen zu | |
billig davon. Wenn es künftig um Verbrechen geht, wird sich auch in der | |
Justiz eine andere Sichtweise auf Missbrauchsdelikte durchsetzen“, hofft | |
sie. Gerade bei Besitz und Verbreitung von Missbrauchsabbildungen habe sie | |
viele Bewährungsstrafen gesehen und viele Geldzahlungen – „diese führen | |
aber nicht zu einer Verhaltensänderung, dieselben Täter kommen immer | |
wieder“. | |
Die Anwältin hofft auf das erzieherische Moment der Strafverschärfung; mit | |
einer Verurteilung werde auch deutlich, dass der Täter sich Hilfe holen | |
müsse. Das Bagatellargument hält sie für ungültig. „Ich glaube nicht an | |
Ausrutscher. Jeder Täter fängt irgendwo an, besser man schreitet schon | |
frühzeitig ein.“ Außerdem werde es auch nach dem neuen Gesetz die | |
Möglichkeit geben, Kleinigkeiten milder zu beurteilen. | |
Tatsächlich gibt es auch in den neuen Paragrafen 176a und 176b weiterhin | |
Taten, die als Vergehen definiert werden. Wenn Kind und Täter in Alter und | |
Entwicklungsstand ähnlich sind und die sexuelle Handlung einvernehmlich | |
geschieht, kann von einer Strafe sogar ganz abgesehen werden. Der | |
vielzitierte Zungenkuss mit einer 13-Jährigen kann also straffrei bleiben. | |
Dass viele ihrer KollegInnen den Wegfall des Strafbefehls so schlimm | |
finden, kann Katja Ravat nicht verstehen. „Von vielen Betroffenen wurde der | |
Strafbefehl als lauwarme Lösung empfunden. Der Täter musste ja weder | |
ausdrücklich noch öffentlich einräumen, was er getan hat. Er bekam | |
lediglich Post nach Hause – und konnte seine Verurteilung so nach außen hin | |
verbergen.“ Ravat glaubt, dass es den Betroffenen mehr Genugtuung bringe, | |
wenn Tätern künftig die Hauptverhandlung nicht mehr erspart bleibe. Und | |
Opfer müssten auch künftig nicht in jedem Fall aussagen – nur wenn der | |
Täter nicht geständig sei. Allerdings, das räumt auch sie ein, werde das | |
künftig wesentlich öfter passieren. In Ermangelung eines lohnenden „Deals“ | |
würden Anwälte den Beschuldigten eher raten zu schweigen und konfrontativer | |
verhandeln, wodurch sich Verfahren erheblich in die Länge ziehen könnten. | |
Das Problem, dass es bis zu einer Prozesseröffnung ein dreiviertel Jahr und | |
mehr dauert, kennt die Rechtsanwältin aus Freiburg aber auch schon jetzt. | |
Das Problem sei nicht die Gesetzesreform, betont sie, sondern der eklatante | |
Mangel an RichterInnen, StaatsanwältInnen, KriminalbeamtInnen und | |
ausgebildeten TherapeutInnen. Wenn Ravat etwas an den Reformplänen aus dem | |
Justizministerium zu kritisieren hat, dann dies: „Härtere Strafen allein | |
bringen nichts, wenn nicht zugleich der Personalmangel behoben wird.“ | |
Selbst wenn ein Verurteilter die klare Aufforderung verstanden hat, sich | |
Hilfe zu holen, dann findet er diese mangels qualifizierter Therapiestellen | |
kaum. | |
Auch Angelika Oetken, die Bens Fall geschildert hat, sagt: „Gesetze müssen | |
sich in der Praxis bewähren, deshalb muss man die Kritik der Fachleute | |
hören.“ Sie habe beim Opferstärkungsgesetz von 2016 schon einmal erlebt, | |
dass gute gesetzgeberische Absichten an der Realität im Gerichtssaal | |
scheitern können. „Was hilft der Anspruch, die Justiz opfergerecht zu | |
gestalten, wenn da überlastete BehördenmitarbeiterInnen sitzen, die in | |
ihrer Ausbildung nie mit den Spezifika von Kindesmissbrauch zu tun hatten | |
und sich an überholte Klischees und Arbeitsmethoden klammern?“ | |
Als Beispiel nennt Oetken, dass viele RichterInnen nach wie vor mit der | |
umstrittenen „Nullhypothese“ arbeiteten. Die geht grundsätzlich davon aus, | |
dass BelastungszeugInnen die Unwahrheit sagen – bis zum Beweis des | |
Gegenteils, der mit den Mitteln der Aussagepsychologie aus den ZeugInnen | |
herausgeholt wird. Die Anwendung der Nullhypothese ist Standard und Vorgabe | |
des Bundesgerichtshofs bei Sexualdelikten. Aber es bedarf dann eben | |
geschulter Richter, die die sicherlich notwendigen kritischen Fragen in | |
angemessener Weise stellen können, um Retraumatisierungen bei den | |
Betroffenen zu vermeiden. Oetken teilt deshalb die Forderung des Deutschen | |
Juristinnenbunds nach verpflichtender Fortbildung für RichterInnen und | |
StaatsanwältInnen. | |
Aber, und jetzt wird ihre Stimme am Telefon leise, das Problem gehe ja noch | |
viel tiefer, Strafrecht sei nicht alles, es sei ja gewissermaßen nur das | |
Ende der Kette. „Nehmen Sie den Fall aus Staufen.“ Die Mutter und ihr | |
Lebensgefährte bekamen zwar am Ende hohe Haftstrafen, ebenso mehrere | |
„Kunden“ des Paars. Aber dem Jungen wären zwei Jahre brutaler sexueller | |
Ausbeutung erspart geblieben, wenn das Jugendamt, das den Lebensgefährten | |
der Mutter als vorbestraften Pädophilen kannte, die Gefahr für das Kind | |
ernst genommen hätte. Im Idealfall wäre der Lebensgefährte bereits während | |
und nach seiner ersten Haft von einem erfahrenen Therapeuten wie Gerhard | |
Senf betreut worden. | |
Der Therapeut aus Saarbrücken sagt: „Geld in Tätertherapie zu pumpen, | |
bringt politisch keine Punkte. Aber wenn der Staat die Keule gegen | |
Kinderschänder rausholt, dann sind alle zufrieden. Auch wenn am Ende kein | |
einziger Übergriff dadurch verhindert wird.“ | |
Die Balance zwischen politischer Signalwirkung und praktischem Kinderschutz | |
ist auch für die Verantwortlichen im Bundestag schwer zu finden. Damit das | |
neue Gesetz in Kraft treten kann, muss man sich nun im Rechtsausschuss | |
einigen. Einfach wird das nicht. | |
20 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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Helmut Kentler | |
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