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# taz.de -- Mein pädophiler Onkel: Bestraft und nicht geläutert
> Der Onkel unseres Autors ist ein verurteilter Pädophiler. Wie kann man
> mit ihm umgehen?, fragt der Autor. Und wie verhindern, dass er rückfällig
> wird?
Kurz bevor ich am Haus meines Onkels ankomme, sehe ich ihn mit seinen zwei
Chihuahuas vor die Tür treten. Die Hunde tapsen auf die Wiese neben dem
Fußweg und pinkeln an einen Baum. Mein Onkel trägt eine Brille mit
Metallrahmen und kleinen ovalen Gläsern. Unter einem hellblauen Hemd wölbt
sich sein Bauch. Er hat kurze graue Haare und Geheimratsecken. Ich glaube,
er hat mich schon gesehen, aber er hält den Kopf gesenkt und spricht mit
den Hunden.
Erst als ich fast neben ihm stehe, dreht er sich zu mir. „Na, hallo“, sagt
er. Er ist klein, reicht mir bis zur Schulter. Wie meine Mutter, seine
Zwillingsschwester. Ich sehe sie in seinem glatt rasierten Gesicht. Und
irgendwie auch mich.
Ein paar Minuten später sitze ich mit meinem Onkel auf dem Sofa in seinem
Wohnzimmer. Neben mir wirbeln in einem Käfig zwei Zebrafinken Federn und
Sand auf. Die zwei Chihuahuas laufen hechelnd umher, ihre Pfoten klackern
leise auf dem Linoleum. Im Zimmer riecht es nach Hundefutter, das in drei
Glasschüsseln neben der Tür steht.
So gut wie jeder Quadratzentimeter des Raums ist zugestellt: Kerzen, ein
Zimmerspringbrunnen aus kleinen Terrakottakrügen, das Gipsmodell eines
muskulösen Männertorsos, eine Lampe in Form eines riesigen Penis. Der
Schreibtisch an einer Wand des Wohnzimmers ist überladen mit staubigen
Elektrogeräten, Kabeln und Post. Auf den Bildschirm des PCs ist eine Webcam
gesteckt. Vor dem PC steht ein blauer Lederstuhl, auf dem ein speckig
aussehendes dunkles Handtuch liegt.
Auf dem niedrigen Holztisch vor mir und meinem Onkel stapeln sich
Aktenordner. In ihnen hat er Jahrzehnte seines Lebens abgeheftet. Auf einem
der Ordner klebt ein Bild von Aaron Carter, der als Kind Ende der neunziger
Jahre einige Hits hatte. Auf dem Bild blickt der Junge nachdenklich in die
Kamera. Seine blonden mittellangen Haare hängen ihm ins Gesicht. Er trägt
eine Jeanslatzhose, der Oberkörper darunter ist nackt.
Aufgeschlagen auf dem Tisch liegt eine Anklageschrift der
Staatsanwaltschaft von November 1997. Auf 11 Seiten sind 33 Fälle von
Kindesmissbrauch aufgelistet. Die Opfer: 15 Jungen im Alter zwischen 11 und
15 Jahren. Der Täter: mein Onkel. „In der Wohnung des Angeschuldigten muss
es zeitweise zugegangen sein wie in einem Taubenschlag“, steht da über ihn.
Nicht alle Kinder und Jugendlichen, die er misshandelt hat, hätten
ermittelt werden können. „Es kann davon ausgegangen werden, dass die
angeklagten Fälle nur die Spitze eines Eisberges darstellen“, schreibt die
Staatsanwaltschaft.
Über das Zitat mit der Spitze des Eisbergs muss mein Onkel lachen. „Ist ja
klar, nicht alle Jungs haben damals ausgesagt, nur die, die sie durch
Ermittlungen herausgefunden haben“, sagt er. Seine Bude sei immer voll
gewesen. Er spricht wie ein arroganter Aufreißer. Wie so oft an diesem Tag
sage ich ihm, dass mich seine Worte fassungslos und wütend machen. Und wie
so oft an diesem Tag zuckt mein Onkel etwas ratlos mit den Schultern und
schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, so als wolle er sagen: „Was
soll ich da machen? Kann ich nichts für.“
Sieben Stunden bin ich mit dem Zug quer durch Deutschland gefahren, um mit
dem Mann zu sprechen, über den in meiner Familie niemand spricht. Ich habe
meinen Onkel das letzte Mal gesehen, als ich ein Kleinkind war. Heute bin
ich 29. Mein Onkel ist 57. Und pädophil. Er war wegen sexuellen
Kindesmissbrauchs und wegen Besitz von Kindesmissbrauchsabbildungen dreimal
im Gefängnis.
Mein Onkel ist der Mann, an den ich bei Nachrichten über sexuellen
Kindesmissbrauch und pädokriminelle Netzwerke wie in Lügde, Münster und
Bergisch Gladbach denken muss. Ich muss an meinen Onkel denken, wenn ich
lese, dass der arbeitslose Camper Andreas V. in Lügde eine Pflegetochter
hatte, obwohl es Hinweise darauf gab, dass er pädophil sein könnte. Ich
muss an meinen Onkel denken, wenn ich lese, dass der 27-jährige
Hauptverdächtige im Fall Münster wegen Verbreitung und Besitz von
Kindesmissbrauchsabbildungen bereits vorbestraft war.
Die aktuelle Häufung aufgedeckter Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch
setzt die Politik unter Druck. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht
will härter gegen pädosexuelle Straftäter*innen vorgehen und die Strafen
für sexuellen Kindesmissbrauch und die Verbreitung und den Besitz von
Missbrauchsabbildungen verschärfen.
Ein Gesetzentwurf zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder, den
die Bundesregierung Ende Oktober beschlossen hat, sieht unter anderem vor,
Verbreitung und Besitz von Missbrauchsabbildungen mit längeren
Freiheitsstrafen zu ahnden und die Anordnung von Untersuchungshaft bei
schwerer sexualisierter Gewalt gegen Kinder zu erleichtern. Expert*innen
kritisieren aber, dass härtere Strafen keine präventive Wirkung hätten.
Meinen Onkel haben Strafen jahrzehntelang nicht abgeschreckt. Er sagt, es
gebe einvernehmlichen Sex mit Kindern, seine Pädophilie müsse nicht
therapiert werden. Er ist ein Mann, der auf verlorenem Posten kämpft,
angefeindet wird, ein Leben im Abseits führt.
Ich habe ihn besucht, um herauszufinden, was ein pädosexueller Straftäter
wie er denkt und fühlt. Und wie ein Mann lebt, den das Ausleben seiner
sexuellen Neigung immer wieder ins Gefängnis bringt. Zum Schutz meines
Onkels und anderer Beteiligter sind einige Details in diesem Text
verändert.
## Den Autor lässt die Begegnung nicht los
Es ist mir nicht leichtgefallen, all das aufzuschreiben. Seit dem Treffen
mit meinem Onkel ist über ein Jahr vergangen. In dieser Zeit habe ich immer
wieder versucht, meine Gedanken über ihn, seine Taten und seine Ansichten
zu ordnen und zu Papier zu bringen. Doch ich wusste lange nicht, wie. Ich
wollte keinen Text schreiben, der die ohnehin schon verbreitete
Stigmatisierung von Pädophilen verstärkt. Ich wollte auch keine Homestory
über einen gruseligen Verbrecher schreiben. Wenn mein Onkel ein Mann wäre,
der seine Taten bereute und sich therapieren ließe, wäre dieser Text
wahrscheinlich nicht entstanden. Doch weil mein Onkel kein solcher Mann
ist, habe ich keine Ruhe gefunden.
Seit dem Treffen mit ihm verfolgt mich vor allem eine Frage: Was wird in
Deutschland unternommen, um Männer wie ihn, die offen zu ihrer Pädophilie
stehen, Therapien ablehnen und vorbestraft sind, davon abzuhalten, erneut
Kinder zu missbrauchen?
Dass mein Onkel kein Pädophiler ist, der gegen seine Neigung kämpft und
alles versucht, um Kindern nicht zu schaden, weiß ich aus einem Manifest,
das er Ende der neunziger Jahre im Gefängnis schrieb. Auf 40 Seiten
argumentiert er für die Streichung des Paragrafen 176 des Strafgesetzbuchs,
in dem die Strafen für sexuellen Missbrauch von Kindern unter 14 Jahren
festgeschrieben sind. Gegen Pädophile finde ein „Holocaust“ statt, die
Altersgrenzen im Sexualstrafrecht seien willkürlich, Kinder seien
eigenständige Personen mit Recht auf eine selbstbestimmte Sexualität,
schreibt er darin.
Vor einigen Jahren schickte er das Manifest meiner Mutter, die es mir gab.
Es gab mir zum ersten Mal einen Einblick in die Gedankenwelt meines Onkels.
Ich wusste also, was mich bei einem Gespräch mit ihm erwartet.
Die Anklageschrift, die im Sommer 2019 vor mir und meinem Onkel auf dem
Wohnzimmertisch liegt, brachte ihn fünf Jahre ins Gefängnis. Die Jungen,
die er missbrauchte, lernte er in einem Kino kennen. Dort arbeitete er mit
Anfang 30 als Filmvorführer. Er sprach die Jungen an, lud sie zu sich nach
Hause ein. Sie hätten bei ihm Fernsehen schauen und toben können. Ein paar
von ihnen brachten Freunde mit. Mein Onkel zeigte ihnen Pornos, befriedigte
sie dabei oral, ließ sich von ihnen oral befriedigen. Vier bis fünf Jahre
ging das so. Es seien viele Jungen gewesen, deren Eltern sich nicht
wirklich um sie gekümmert hätten, sagt mein Onkel. Bei ihm hätten sie sich
wohlgefühlt.
„Du hast die Jungen ausgenutzt“, sage ich zu meinem Onkel. „Sie haben bei
dir die Zuneigung gesucht, die sie von ihren Eltern nicht bekommen haben.“
Er verneint das nicht. „Die Ausnutzung war gegenseitig“, sagt er. Die
Jungen hätten meinen Onkel „fummeln“ lassen und dafür bei ihm in der
Wohnung machen können, was sie wollten. Er habe nie etwas gegen den Willen
der Jungen gemacht, nie Gewalt angewendet. Darauf beruht für meinen Onkel
die Rechtfertigung seiner Taten: Sex mit einem Kind ohne Gewaltanwendung
ist für ihn kein Missbrauch. „Für die meisten Menschen ist es Gewalt gegen
Kinder, mit ihnen Sex zu haben“, sage ich. „Das ist ja das Problem“, sagt
mein Onkel. Sex zwischen einem Jungen und einem Mann werde von der
Gesellschaft besonders kritisch gesehen. „Wenn ein 13-Jähriger mit einer
Frau schläft, regt sich keiner auf“, sagt er. Der stoße sich dann einfach
die Hörner ab.
Anna Konrad ist Sexual- und Psychotherapeutin und arbeitet mit pädophilen
Menschen. Konrads Patient*innen sind überwiegend männlich, leiden unter
ihren sexuellen Fantasien von Kindern und wollen keinen sexuellen
Missbrauch begehen. In der Therapie bearbeitet Konrad mit ihnen unter
anderem sogenannte missbrauchbegünstigende Einstellungen, die zum Beispiel
sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern verharmlosen und ein
Hauptrisikofaktor für das Begehen von sexuellem Missbrauch sind. Die
Behauptung meines Onkels, die Gesellschaft und nicht er selbst habe eine
fragwürdige Meinung über Sex zwischen Männern und Jungen, ist eine solche
missbrauchbegünstigende Einstellung.
Für Konrads Patient*innen ist die Auseinandersetzung mit ihren eigenen
Überzeugungen herausfordernd. „Ein Anerkennen, dass ihre Ansichten falsch
sind, kann bedeuten, dass ihr ganzes Selbstbild zusammenbricht“, sagt die
39-Jährige. Zu sagen, die Gesellschaft und nicht man selbst habe falsche
Ansichten, sei ein psychologisch nachvollziehbarer Schutzmechanismus.
Konrad arbeitet seit 15 Jahren für das Präventionsnetzwerk „Kein Täter
werden“ an der Charité-Universitätsmedizin Berlin. Das Netzwerk mit
bundesweit 11 Standorten will Menschen, die sich sexuell zu Kindern
hingezogen fühlen, ein zufriedenes Leben ermöglichen und sexuelle Gewalt an
Kindern verhindern. Deutschlandweit haben bisher rund 11.000 Männer und
Frauen das Netzwerk kontaktiert.
Voraussetzung für eine Aufnahme in das Programm und eine erfolgreiche
Therapie ist, dass die Suche nach Hilfe aus eigener Motivation erfolgt.
Manche Männer wenden sich zum Beispiel nicht aus eigenem Antrieb an „Kein
Täter werden“, sondern weil ihre Partner:innen Missbrauchsabbildungen auf
ihren PCs gefunden haben. Eine Therapie habe dann unter Umständen keinen
Sinn, sagt Konrad. „Man kann niemanden zwingen, sich mit sich selbst
auseinanderzusetzen.“
Im Sommer vor einem Jahr gehen mein Onkel und ich in einem Park in der Nähe
seiner Wohnung spazieren. Die beiden Chihuahuas laufen angeleint voraus.
„Das Schöne an Hunden ist, dass immer jemand da ist, der sich freut, wenn
man nach Hause kommt“, sagt mein Onkel. Die Hunde würden in seinem Bett
schlafen, das binde ungemein. Bindung, und Nähe hat er in unserer Familie
kaum erfahren. „Das, was ich selbst erlebt habe, würde ich einem anderen
Kind nie antun“, sagt er.
In meiner Kindheit hörte ich auf Familienfeiern, zu denen mein Onkel nie
eingeladen war, meine Mutter und ihre Geschwister oft von der Gewalt reden,
der sie als Kinder ausgesetzt waren. Dass mein Großvater sie mit einer
Hundepeitsche verprügelte, war immer wieder Thema. Mein Onkel sagt, er habe
am meisten abbekommen. Als er 15 war, habe mein Großvater ihm Zähne
ausgeschlagen. Einmal habe ein Sportlehrer meinen Großvater wegen der
Striemen auf dem Körper meines Onkels angesprochen, doch passiert sei
nichts. Für die Misshandlung seiner Kinder wurde mein Großvater nie zur
Verantwortung gezogen. Meine Großmutter sei so gut wie nie eingeschritten.
„Was für eine Familie!“, sagt mein Onkel. „Da bin ich noch der Harmloses…
Und ich bin der, der im Gefängnis war.“
Meine Mutter bestätigt, dass mein Onkel von ihren vier Geschwistern am
meisten unter dem Sadismus meines Großvaters zu leiden hatte. „Wenn er mal
wieder Prügel gekriegt hat, bin ich schnell in irgendein Zimmer gerannt und
habe mir die Ohren zugehalten, damit ich ihn nicht schreien hörte“, sagt
sie. Vor allem der Tag, an dem mein Onkel die Hundepeitsche versteckt hat,
ist ihr in Erinnerung geblieben. Als er meinem Großvater nicht verriet, wo
die Peitsche war, habe dieser eine Nadel genommen, meinem Onkel den Mund
zugehalten und seinen Po zerstochen. Die Großmutter meiner Mutter habe nach
diesem Vorfall meinen Großvater anzeigen wollen. Aus Angst, dass er dann
ins Gefängnis komme, habe sie es jedoch nicht getan.
Von der Pädophilie meines Onkels hat meine Mutter nach einer seiner
Verurteilungen erfahren. Von seinen konkreten Taten und drei Haftstrafen
hört sie zum ersten Mal von mir. Sie wusste nur von einer Haftstrafe. „Ich
hätte nie gedacht, dass er so was macht“, sagt sie.
Meine Mutter wurde selbst als Kind vom Lebensgefährten ihrer Großmutter und
einem Onkel sexuell missbraucht. Kontakt hat sie kaum zu meinem Onkel.
Manchmal schreiben sich die beiden über Whatsapp, sehr selten telefonieren
sie. „Ich bin einfach froh, wenn es ihm gut geht“, sagt meine Mutter. „Er
ist ja schließlich mein Zwillingsbruder.“
Mein Onkel verließ seine Familie, sobald er die Möglichkeit dazu hatte. Er
diente sieben Jahre in der Nationalen Volksarmee der DDR, machte eine
Ausbildung zum Maurer und brach noch am Tag der Grenzöffnung in Richtung
Westdeutschland auf. Seitdem war er nicht mehr in seiner Heimat.
Anfang der neunziger Jahre, mein Onkel war Anfang 30, wurde ihm sein Job
inklusive Zimmer auf einem Bauhof gekündigt. Er zog in eine Pension, wo
auch Familien mit ihren Kindern lebten, und missbrauchte dort Jungen. Einer
von ihnen erzählte seinen Eltern davon, und mein Onkel wurde zum ersten Mal
wegen sexuellen Kindesmissbrauchs verurteilt. Bis zur Urteilsverkündung saß
er ein halbes Jahr in Untersuchungshaft. Den Rest der zweijährigen
Freiheitsstrafe setzte das Gericht zur Bewährung aus.
Die Jahre danach lebte mein Onkel in einer Wohngruppe für Straffällige, in
einem Obdachlosenheim, bei Bekannten. Er bezog lange Hartz IV, war bei
Zeitarbeitsfirmen angestellt, arbeitete als Lagerlogistiker. Dazwischen war
er zweimal jeweils mehrere Jahre im Gefängnis, zuletzt von 2006 bis 2009.
Als die Polizei 2006 Missbrauchsabbildungen auf dem Computer meines Onkels
fand, musste er noch Bewährungsauflagen einer vorherigen Haftstrafe
erfüllen. Er war zum Beispiel verpflichtet, sich regelmäßig bei einem
Bewährungshelfer zu melden, und durfte keine Kinder in seiner Wohnung
haben. Der Besitz der Missbrauchsabbildungen und der Verstoß gegen die
Bewährungsauflagen brachten ihn wieder direkt ins Gefängnis.
Andrea Frauendorfer arbeitet seit 30 Jahren mit straffällig gewordenen
Menschen. Sie ist leitende Bewährungshelferin für das Landgericht Landshut
in Bayern. Zurzeit betreut sie rund 45 Personen, die sie einmal im Monat
für jeweils eine Stunde trifft. 10 von ihnen sind pädosexuelle Männer, die
Kinder sexuell missbraucht haben. „Die meisten ticken so wie Ihr Onkel“,
sagt mir Frauendorfer bei einem Telefonat. Es seien Männer, die behaupten,
dass sie Kinder lieben, und nichts Falsches an ihren Taten sehen. „Solche
Fälle sind schwierig, weil die Männer keine Motivation haben, sich zu
ändern“, sagt die 55-Jährige.
Die Bewährungsauflagen, die pädosexuelle Straftäter*innen nach ihrer Haft
erfüllen müssen, seien von Fall zu Fall unterschiedlich. Bei der Festlegung
der Auflagen spiele Frauendorfer zufolge zum Beispiel eine Rolle, wie der
Kontakt zu den missbrauchten Kindern angebahnt wurde und ob es bereits
Vorstrafen gab.
Wenn jemand über viele Jahre Kinder missbraucht hat, treffen sich vor der
Haftentlassung Polizei, Bewährungshelfer*innen, Führungsaufsichtsstelle und
Staatsanwaltschaft und legen gemeinsam die Bewährungsauflagen fest.
Außerdem gibt es für als gefährlich eingestufte Personen die sogenannte
elektronische Aufenthaltsüberwachung, eine elektronische Fußfessel, die per
GPS den Standort von aus der Haft entlassenen Straftätern*innen
kontrolliert. „Zurzeit habe ich mehrere, die so einen Kasten tragen“, sagt
Frauendorfer. Nähert sich ein wegen sexuellen Kindesmissbrauchs
verurteilter Mann einem für ihn als Verbotszone festgelegten Ort, etwa
einem Kindergarten, bekommen die Bewährungshelferin und die Polizei sofort
eine Meldung.
Für manche pädosexuellen Straftäter*innen wird nach einer Haftstrafe
Sicherungsverwahrung angeordnet. Bereits zwei Vergehen gegen die sexuelle
Selbstbestimmung von Kindern können für eine Anordnung der
Sicherungsverwahrung ausreichen. Bei besonders schweren Verbrechen, die zu
einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren führen, kann schon ein
Ersttäter in Sicherungsverwahrung kommen.
Um diese schwerwiegendste Sanktion im deutschen Strafrecht verhängen zu
können, muss festgestellt werden, dass der Täter wegen eines Hangs zu
erheblichen Straftaten, die die Opfer seelisch oder körperlich schwer
schädigen, für die Allgemeinheit gefährlich ist.
## Mein Onkel sagt, er habe keine Gewalt angewandt
Mein Onkel sagt, für ihn hätten die Gerichte bisher Sicherungsverwahrung
nicht in Betracht gezogen, weil er nie Gewalt gegen die Jungen, die er
missbraucht hat, angewendet habe. Die Sicherungsverwahrung dauert so lange
an, wie eine Person noch als gefährlich gilt. Sie kann auch bis zum Tod
vollstreckt werden. Ob jemand weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit
darstellt und damit die Voraussetzung für die Sicherungsverwahrung
weiterbesteht, müssen Gerichte jährlich überprüfen.
Eine der Aufgaben von Bewährungshelferin Andrea Frauendorfer ist es, dafür
zu sorgen, dass ihre Proband*innen, wie es im Justizdeutsch heißt, keine
Gefahr für die Allgemeinheit bleiben. „Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand
wieder eine Straftat begeht und auf alte Verhaltensweisen zurückgreift, ist
größer, wenn es der Person psychisch nicht gut geht“, erklärt Frauendorfer.
Dafür zu sorgen, dass ihre Proband*innen eine Wohnung und einen Job haben,
sei deshalb sehr wichtig, weil das Stabilität bringe. Das gelte auch für
Therapien. Für pädosexuelle Straftäter*innen sind sie oftmals eine Auflage
nach der Haftentlassung. Zwingen könne man dazu aber niemanden. „Wenn ein
Proband nur den Termin einhält, aber nicht viel spricht, ist das rechtlich
nicht zu beanstanden“, sagt die Bewährungshelferin.
Mein Onkel hat die 80 Stunden Therapie, die er nach einer seiner
Haftstrafen verordnet bekam, einfach abgesessen. Der Therapeut habe meinem
Onkel zufolge versucht, ihn davon zu überzeugen, dass seine Einstellung zu
Sex mit Kindern falsch sei. Geschafft hat er das nicht. „Ich bin mit der
Einstellung dorthin, dass ich keine Therapie brauche“, sagt mein Onkel. Das
habe auch der Therapeut gemerkt.
Als die Polizei 2006 den PC meines Onkels konfiszierte, fand sie auf ihm
Filme, in denen Jungen im Alter zwischen 12 und 14 Jahren Sex miteinander
und mit Erwachsenen haben. Er selbst habe nie Filme aufgenommen,
Gewaltvideos schaue er sich generell nicht an, sagt mein Onkel. Auf meinen
wiederholten Einwand, dass jegliche sexuelle Handlung mit Kindern Gewalt
sei, antwortet er, er könne ja nicht nachvollziehen, unter welchen
Umständen die Filme zustande gekommen seien und dass man bei manchen Jungen
gesehen habe, dass es ihnen Spaß mache.
Ich kann mir kaum vorstellen, dass ein pädophiler Mann mit dieser
Einstellung sich nicht wieder strafbar macht oder es schon unentdeckt getan
hat. Mein Onkel würde mir natürlich nichts erzählen, was ihn in
Schwierigkeiten bringen könnte. Er sagt, er habe sich damit abgefunden,
seine Neigung in seiner Fantasie auszuleben. Das bedrücke ihn, aber es gehe
ja nicht anders. Er habe niemanden, mit dem er über dieses Thema sprechen
könne. Man könne ohnehin nirgends öffentlich über Pädophilie reden.
„Es gibt keine Lobby für mich, ich bin auf verlorenem Posten“, sagt mein
Onkel. Vor einigen Jahrzehnten sei das noch anders gewesen. Die Grünen und
die Schwulenbewegung hätten sich ja leider irgendwann von dem Thema
distanziert.
Mein Onkel spielt auf Teile des linksalternativen Milieus an, das in den
siebziger und achtziger Jahren Straffreiheit für sexuelle Handlungen mit
Kindern forderte. Im gesellschaftlichen Klima der sexuellen Revolution
wurden alle Tabus infrage gestellt, was pädophilen Aktivist*innen Auftrieb
verschaffte. Sie organisierten sich unter anderem bei den Grünen.
So fanden etwa 1981 Forderungen nach Freistellung von der strafrechtlichen
Verfolgung sexueller Handlungen zwischen Kindern und Erwachsenen, die
gewaltfrei zustande kommen, Eingang in das Wahlprogramm der
Alternativen-Grünen-Initiativen-Liste in Göttingen. Der ehemalige
Grünen-Chef Jürgen Trittin war mitverantwortlich für dieses Wahlprogramm.
## Mein Onkel sieht sich als Kämpfer gegen Diskriminierung
Auch die taz, die sich als Sprachrohr für abweichende Meinungen verstand,
veröffentlichte in dieser Zeit Texte von Menschen, die für die Anerkennung
von Pädophilie als gleichberechtigte sexuelle Neigung warben. Mein Onkel
sieht sich in der Tradition dieser Aktivist*innen, als Kämpfer gegen die
Diskriminierung von Pädophilen, der heute keine Unterstützung mehr erwarten
kann.
Kämpfen muss mein Onkel auch an anderer Front. Vor mehreren Jahren
verschwand in der Stadt, in der er wohnt, ein achtjähriger Junge. Am
nächsten Tag wurde das Kind tot in einem Bach gefunden. Bei der Polizei
meldete sich ein anonymer Anrufer, der meinen Onkel des Mordes an dem
Jungen bezichtigte. Polizisten*innen durchsuchten seine Wohnung, die
Nachbar*innen erfuhren den Grund der Durchsuchung. Sie hätten vor dem Haus
gestanden und gesagt, sie würden das Geständnis aus meinem Onkel
herausprügeln.
Für die Polizei sei mein Onkel nie als Täter infrage gekommen, sagt er. Er
habe nicht ins Profil gepasst. Die Polizei riet ihm, für ein paar Wochen
unterzutauchen. Er zog für kurze Zeit zu einem Bekannten in die Schweiz.
Die Anfeindungen gegen meinen Onkel dauern an. Eine Frau aus der
Nachbarschaft boxte ihm durch das offene Autofenster ins Gesicht, als er
mit dem Wagen der Reinigungsfirma, für die er arbeitet, zu seinem Haus
fuhr. Ein Kollege bei der Reinigungsfirma wurde entlassen, weil er meinen
Onkel angegriffen hatte. Die Frau und der Ex-Kollege wissen, dass mein
Onkel wegen sexuellen Kindesmissbrauchs im Gefängnis saß.
Am frühen Abend im Sommer vor einem Jahr feuert mein Onkel auf der Wiese
hinter seiner Wohnung seinen Gasgrill an. Der Rasen ist saftig grün und
akkurat gemäht. Neben einem Steinplattenweg stehen drei Bäume in gerader
Reihe: Birne, Quitte, Asienbirne Nashi Kumoi. Mein Onkel hat sie gepflanzt.
Der Himmel ist mit dicken Wolken bedeckt. Als mein Onkel anfängt, mit einer
Drahtbürste altes Fett vom Rost zu schrubben, beginnt es zu nieseln.
„Katastrophe, gerade jetzt“, sagt er. Er zerrt von einer Ecke der Wiese
einen Sonnenschirm samt Ständer heran und spannt ihn über dem Grill auf. Er
keucht. Hinter der Blechwand, vor der der Tisch steht, an dem ich sitze,
scheppern in regelmäßigen Abständen Güterwaggons vorbei.
Wir grillen nicht allein. Mein Onkel hat einen Bekannten eingeladen. Er ist
etwa so alt wie er, hat dunkle Locken und trägt blaue Sportshorts. Ich
nenne ihn Karsten. Karsten bringt einen Mann mit, mit dem er zusammenwohnt.
Er ist 24 Jahre alt. Ihn nenne ich Philipp. Karsten und Philipp haben
gerade Besuch. Philipps Schwester und ihr achtjähriger Sohn verbringen das
Wochenende bei ihnen.
Mein Onkel hat Karsten im Gefängnis kennengelernt. Warum Karsten im
Gefängnis war, wisse mein Onkel nicht, behauptet er. Er glaube aber, dass
Karsten etwas Ähnliches gemacht habe wie er. Karsten stellt mir Philipp als
seinen Ziehsohn vor.
Später, nachdem der Besuch weg ist, sagt mein Onkel zu mir, dass Karsten
Philipp schon kenne, seit er elf oder zwölf Jahre alt ist. Da sei bestimmt
schon immer was gelaufen, sagt er.
Philipp sitzt neben mir, als wir essen. Er riecht nach Schweiß und
ungewaschener Kleidung. Er hat lange dunkle Haare. Seine Unterarme sind mit
aufgekratzten Pickeln übersät. Seine Schwester, den Blick die meiste Zeit
gesenkt, wackelt nervös mit den Beinen. Ihr Sohn ist ein fröhlicher,
aufgeweckter Junge. Er hat schulterlange dunkelblonde Haare und trägt ein
T-Shirt mit dem roten Auto aus dem Pixar-Film „Cars“. Er rennt über die
Wiese und wechselt minütlich das Spielzeug. Mein Onkel hat ein
ferngesteuertes Auto und eine bunt leuchtende Kugel, die an summenden
Propellern über das Gras schwebt, aus seiner Wohnung geholt.
## „Komm vorbei und bring die Jungs mit“
Nach dem Essen sagt mein Onkel, weil so viele Hähnchenschenkel und Steaks
übrig geblieben sind, werde er morgen wieder grillen. Zu Karsten sagt er,
er könne ja vorbeikommen und die Jungs mitbringen. Das sagt er nicht nur
einmal, sondern mehrmals, so als wolle er sichergehen, dass Karsten es
nicht vergisst. „Welche Jungs?“, frage ich und versuche, möglichst arglos
zu klingen. „Die vom Kinderbauernhof“, antwortet mein Onkel.
Karsten arbeitet auf dem Hof und betreut dort Kinder. Er passe vor allem
auf die Söhne der Besitzerin des Hofes auf, sagt er. Weil die an diesem
Abend nicht da sei, müsse er recht bald nach dem Grillen wieder gehen, weil
er den kleinsten der Jungen ins Bett bringen müsse. Mein Onkel hat vor
einigen Jahren auch auf dem Hof gejobbt.
In der Woche nach dem Besuch bei meinem Onkel lässt mich das Gespräch
zwischen ihm und Karsten nicht los. Ist es nicht vielleicht völlig normal,
dass Karsten die Söhne der Chefin des Kinderbauernhofs zu meinem Onkel
mitnimmt, wenn er auf sie aufpasst? Sehe ich nach dem Besuch bei meinem
Onkel plötzlich grundlos überall gefährdete Kinder?
Ich kann die Gedanken nicht abschütteln. Karstens merkwürdige Beziehung zu
seinem Ziehsohn Philipp. Der Fakt, dass Karsten und mein Onkel sich aus dem
Gefängnis kennen. Die Selbstverständlichkeit, mit der mein Onkel sagt,
Karsten solle doch die Jungs mitbringen. So als würde das regelmäßig
passieren. Und vor allem: die Routine, mit der mein Onkel jahrelang
Kinder missbraucht hat.
Ich beschließe, das Jugendamt der Stadt anzurufen, in der mein Onkel wohnt.
Ich spreche mit einer Sozialarbeiterin und schildere ihr meine Sorgen. Sie
sagt, sie werde meinen Anruf mit ihren Kolleginnen und Kollegen besprechen.
Aber da ich nicht genau wisse, warum Karsten im Gefängnis war, und auch
sonst nicht mehr Details habe, sei alles sehr unkonkret. Sie werde aber
schauen, ob vielleicht noch jemand etwas beobachtet hat. Man könne jedoch
nicht einfach zu dem Hof fahren und die Besitzerin und Mutter der Jungen
damit konfrontieren, ohne mehr zu wissen.
Schon am nächsten Tag meldet sich die Sozialarbeiterin bei mir. Das
Jugendamt habe sich entschieden, mit der Besitzerin des Kinderbauernhofs zu
sprechen und sie darauf hinzuweisen, dass es eventuell Grund zur Sorge
gebe. Das Jugendamt habe Kontakt zur Polizei aufgenommen. Sie fragt mich
nach dem Namen und der Adresse meines Onkels. Ich gebe ihr die
Informationen, bitte sie aber, mich als Quelle anonym zu behandeln. Sie
sagt, sie würden nicht sofort bei meinem Onkel aufkreuzen, um ihn nicht
aufzuscheuchen. Sie sagt auch, das Jugendamt wolle nicht eventuell schon
laufende Ermittlungen der Polizei behindern.
Als ich mich vor ein paar Wochen, ein Jahr nach meinem ersten Anruf, bei
der Sozialarbeiterin nach dem aktuellen Stand in der Sache erkunde, sagt
sie, sie könne und dürfe mir dazu nichts sagen.
Ich rufe die Besitzerin des Kinderbauernhofes an, weil ich wissen will, ob
das Jugendamt meinem Hinweis wirklich nachgegangen ist. Die Frau erzählt
mir, jemand vom Jugendamt sei vergangenes Jahr im Sommer zum Hof gefahren.
Das muss kurz nach meinem Anruf gewesen sein. Man habe ihr gesagt, es hätte
sich jemand gemeldet, der sich Sorgen um ihre Söhne mache. An dem Tag sei
auch Karsten, der Kumpel meines Onkels, auf dem Hof gewesen. Das Jugendamt
habe mit ihm gesprochen und danach Informationen über ihn eingeholt. Das
Ergebnis: Wegen sexuellen Kindesmissbrauchs war Karsten nicht im Gefängnis.
Das sei für sie nichts Neues gewesen, sagt mir die Besitzerin des
Kinderbauernhofes. Sie wisse, dass Karsten im Gefängnis war, wegen
irgendwas mit Autos und Kennzeichen. 20 Minuten spreche ich mit ihr über
Karsten und meinen Onkel. „Für Karsten halte ich meine Hand ins Feuer“,
sagt sie. Er sei ein ganz lieber Mensch, der ihre Söhne wie seine eigenen
liebe. Dass Karsten mit seinem Ziehsohn Philipp ein sexuelles Verhältnis
habe, stimme nicht. Mein Onkel sei einfach schon immer eifersüchtig auf die
beiden gewesen.
Über meinen Onkel verliert die Frau kein gutes Wort. „Er hat immer Fotos
von meinen Söhnen gemacht und ihnen ständig Süßigkeiten geschenkt“, sagt
sie über die Zeit vor ungefähr sechs Jahren, als sie meinen Onkel in den
Ställen auf ihrem Hof arbeiten ließ, nachdem Karsten ihn „angeschleppt“
hatte.
Eine Mitarbeiterin habe ihr irgendwann gesagt, dass mit dem Verhalten
meines Onkels etwas nicht stimme. Daraufhin fand ein befreundeter Polizist
der Hofbesitzerin für sie heraus, warum mein Onkel im Gefängnis gewesen
war. „Ich habe ihm dann gekündigt, und er hat meinen Hof im Internet
schlechtgemacht“, sagt sie.
## Das Jugendamt war im vergangenen Sommer bei ihr
Ihre Söhne hat sie Karsten danach trotzdem manchmal noch zu meinem Onkel
mitnehmen lassen. Das überrascht mich. Nachdem das Jugendamt vergangenen
Sommer bei ihr war, habe sie das Karsten jedoch verboten. Von ihm wisse
sie, dass mein Onkel gelegentlich frage, ob er die Jungen mal wieder
mitbringen könne. Karsten sage, mein Onkel tue Kindern nichts mehr. Doch
sicher wissen könne sie selbst das ja nicht.
Vielleicht ist mein Onkel heute kein Täter mehr. Vielleicht haben die
vielen Haftstrafen Wirkung gezeitigt. Ich bin vor einem Jahr mit der
Erwartung zu ihm gefahren, dass er mir ein wenig leidtun würde. Ein Mann,
der seine sexuelle Neigung nicht legal ausleben kann, von seiner Familie
verstoßen, von der Gesellschaft verachtet. Aber er tut mir nicht leid.
Mein Onkel lebt in einer Fantasiewelt, in der Kinder gerne Sex mit
Erwachsenen haben. Er bedauert nicht, dass Dutzende Jungen ihre ersten
sexuellen Erfahrungen unfreiwillig mit ihm gemacht haben. Seine ständige
Rechtfertigung, er habe nie Gewalt angewendet, ist eine traurige
Selbsttäuschung, die er seit Jahrzehnten betreibt, um sich nicht damit
auseinandersetzen zu müssen, dass er ein vielfacher Missbrauchstäter ist.
Mit dieser Rechtfertigung reduziert er die Jungen, die er missbraucht hat,
auf ihre Körper. Die psychischen Folgen, die der Missbrauch für die Jungen
zweifelsohne hatte, scheinen für ihn völlig irrelevant zu sein.
Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft von 1997 zeichnet ein Bild von
meinem Onkel, das seiner Selbstdarstellung widerspricht. Ich habe das
Dokument mit meinem Handy abfotografiert, als ich bei ihm zu Besuch war. In
der Beschreibung der Tat Nummer 15 von 33 steht, mein Onkel soll einem
13-Jährigen in seiner Wohnung ein Bein gestellt haben, sodass dieser
rücklings auf eine Couch fiel. Dann habe mein Onkel sich auf den Brustkorb
des Jungen gesetzt, dessen Arme unter seine Beine geklemmt, die Hose
heruntergezogen und seinen Penis in den Mund genommen. Der Junge habe sich
gewehrt. Mein Onkel hat diese Tat vor Gericht bestritten.
Und Tat Nummer 13 von 33: Mein Onkel soll mehreren Jungen in seiner Wohnung
Pornos vorgespielt haben. Dann habe er gesagt, wer in seine Wohnung komme
und Filme schaue, müsse auch eine Gegenleistung erbringen. Mein Onkel habe
daraufhin die Wohnungstür abgeschlossen und sich gegenüber den Jungen
aggressiv verhalten. Niemand verlasse die Wohnung, solange ihm keiner einen
runterhole, soll er gesagt haben. Einer der Jungen habe meinen Onkel
schließlich mit der Hand befriedigt. Mein Onkel soll ihm dafür 20 Mark
gegeben haben. Vor Gericht hat er bestritten, den Jungen unter Druck
gesetzt zu haben. Den sexuellen Missbrauch und die Bezahlung dafür gab er
zu.
Mein Onkel muss seit einigen Jahren keine Auflagen mehr erfüllen. Er darf
Kinder in seiner Wohnung haben, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Sein
einfaches und sein erweitertes Führungszeugnis sind eintragsfrei. Beide hat
er mir gezeigt. Eintragungen über Verurteilungen werden nur für eine
bestimmte Dauer in Führungszeugnisse aufgenommen.
Bei Verurteilungen wegen sexuellen Kindesmissbrauchs beträgt diese Frist
zehn Jahre zuzüglich der Dauer der verhängten Freiheitsstrafe. Der
Gesetzentwurf zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder von
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht sieht vor, diese Frist auf 20
Jahre zu verdoppeln. Ein eintragsfreies erweitertes Führungszeugnis ist
Voraussetzung für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Mein Onkel
könnte sich also ohne Probleme einen solchen Job suchen. Auf dem Papier ist
er kein Straftäter mehr. Ich hätte niemals gedacht, dass das möglich ist.
Im Fall meines Onkels lautet die Antwort auf die Frage, wer verhindert,
dass er wieder Kinder missbraucht: niemand. Er hat zwar seine Strafen
abgesessen, doch in seinem Kopf hat sich nichts verändert. Mein Onkel ist
nach wie vor davon überzeugt, nichts falsch gemacht zu haben. Ich kann
nicht verstehen, wie es für einen Mann wie ihn keine strengen Regeln und
Kontrollen geben kann. Sollte er sich doch wieder strafbar machen, wäre das
ein Verbrechen mit Ansage.
Die Bewährungshelferin Andrea Frauendorfer vom Landgericht Landshut
befürwortet das Strafsystem in Deutschland. Sie finde es zwar schwierig,
dass Männer wie mein Onkel nicht unter strengerer Beobachtung stehen, aber:
„Es muss auch jeder die Chance bekommen, die Kurve zu kriegen und straffrei
in der Gesellschaft zu leben.“ Man könne niemandem das ganze Leben lang
vorhalten, eine Straftat begangen zu haben.
Der Besuch bei meinem Onkel hat mich viel über meine eigene Sexualität
nachdenken lassen. Ich bin schwul und habe schon mit 12 oder 13 Jahren
begonnen, mich für Männer zu interessieren. Was hätte ich getan, wenn der
Bekannte meines Stiefvaters, dessen Oberarme ich mir gerne anschaute, oder
der Vater einer Freundin, an dessen Brustbehaarung ich dachte, wenn ich
mich selbst befriedigte, Sex mit mir hätte haben wollen? Ich glaube nicht,
dass ich Nein gesagt hätte.
In den Tagen unmittelbar nach dem Treffen mit meinem Onkel verlaufe ich
mich in seinen Gedankengängen. Es gibt doch sicher Jungen, die sich früh
sexuell ausprobieren wollen, und das auch mit erwachsenen Männern. Doch
dann sehe ich mich als 12- oder 13-Jährigen vor mir, etwas unsicher im
eigenen Körper und mit einer neugierigen, aber nur vagen Vorstellung von
dem, was Sex ist und wie Sex sein sollte. Männer wie mein Onkel nutzen
diese Unsicherheit und Neugier aus. Was sie mit Kindern machen, ist
Missbrauch.
Auf Whatsapp schickt mir mein Onkel seit meinem Besuch regelmäßig Bilder
von seinen Chihuahuas und Videos, auf denen er neben einem Pferd herläuft.
Er hat eine Pflegebeteiligung für das Tier übernommen und will reiten
lernen. Wenn mein Onkel noch einmal ein Kind missbraucht oder
Missbrauchsabbildungen nutzt und dabei erwischt wird, droht ihm lebenslange
Sicherungsverwahrung. „Also darf ich mir nicht mehr die Finger verbrennen“,
hat er mir vor einem Jahr gesagt.
Mein Onkel hat einen Traum: Wenn er eine Million Euro gewänne, würde er
sich einen Pferdehof kaufen. Dort könnten dann Jungen wieder ein- und
ausgehen, sagt er. Aber das sei natürlich alles Quatsch, er wolle ja nicht
für den Rest seines Lebens ins Gefängnis. Er könne jedoch nicht
ausschließen, dass irgendwann wieder etwas passieren könnte: „Man weiß ja
nie, in was für eine Situation ich komme, in der es sich ergeben könnte.“
14 Nov 2020
## AUTOREN
Sebastian Danz
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Helmut Kentler
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