# taz.de -- Mein pädophiler Onkel: Bestraft und nicht geläutert | |
> Der Onkel unseres Autors ist ein verurteilter Pädophiler. Wie kann man | |
> mit ihm umgehen?, fragt der Autor. Und wie verhindern, dass er rückfällig | |
> wird? | |
Kurz bevor ich am Haus meines Onkels ankomme, sehe ich ihn mit seinen zwei | |
Chihuahuas vor die Tür treten. Die Hunde tapsen auf die Wiese neben dem | |
Fußweg und pinkeln an einen Baum. Mein Onkel trägt eine Brille mit | |
Metallrahmen und kleinen ovalen Gläsern. Unter einem hellblauen Hemd wölbt | |
sich sein Bauch. Er hat kurze graue Haare und Geheimratsecken. Ich glaube, | |
er hat mich schon gesehen, aber er hält den Kopf gesenkt und spricht mit | |
den Hunden. | |
Erst als ich fast neben ihm stehe, dreht er sich zu mir. „Na, hallo“, sagt | |
er. Er ist klein, reicht mir bis zur Schulter. Wie meine Mutter, seine | |
Zwillingsschwester. Ich sehe sie in seinem glatt rasierten Gesicht. Und | |
irgendwie auch mich. | |
Ein paar Minuten später sitze ich mit meinem Onkel auf dem Sofa in seinem | |
Wohnzimmer. Neben mir wirbeln in einem Käfig zwei Zebrafinken Federn und | |
Sand auf. Die zwei Chihuahuas laufen hechelnd umher, ihre Pfoten klackern | |
leise auf dem Linoleum. Im Zimmer riecht es nach Hundefutter, das in drei | |
Glasschüsseln neben der Tür steht. | |
So gut wie jeder Quadratzentimeter des Raums ist zugestellt: Kerzen, ein | |
Zimmerspringbrunnen aus kleinen Terrakottakrügen, das Gipsmodell eines | |
muskulösen Männertorsos, eine Lampe in Form eines riesigen Penis. Der | |
Schreibtisch an einer Wand des Wohnzimmers ist überladen mit staubigen | |
Elektrogeräten, Kabeln und Post. Auf den Bildschirm des PCs ist eine Webcam | |
gesteckt. Vor dem PC steht ein blauer Lederstuhl, auf dem ein speckig | |
aussehendes dunkles Handtuch liegt. | |
Auf dem niedrigen Holztisch vor mir und meinem Onkel stapeln sich | |
Aktenordner. In ihnen hat er Jahrzehnte seines Lebens abgeheftet. Auf einem | |
der Ordner klebt ein Bild von Aaron Carter, der als Kind Ende der neunziger | |
Jahre einige Hits hatte. Auf dem Bild blickt der Junge nachdenklich in die | |
Kamera. Seine blonden mittellangen Haare hängen ihm ins Gesicht. Er trägt | |
eine Jeanslatzhose, der Oberkörper darunter ist nackt. | |
Aufgeschlagen auf dem Tisch liegt eine Anklageschrift der | |
Staatsanwaltschaft von November 1997. Auf 11 Seiten sind 33 Fälle von | |
Kindesmissbrauch aufgelistet. Die Opfer: 15 Jungen im Alter zwischen 11 und | |
15 Jahren. Der Täter: mein Onkel. „In der Wohnung des Angeschuldigten muss | |
es zeitweise zugegangen sein wie in einem Taubenschlag“, steht da über ihn. | |
Nicht alle Kinder und Jugendlichen, die er misshandelt hat, hätten | |
ermittelt werden können. „Es kann davon ausgegangen werden, dass die | |
angeklagten Fälle nur die Spitze eines Eisberges darstellen“, schreibt die | |
Staatsanwaltschaft. | |
Über das Zitat mit der Spitze des Eisbergs muss mein Onkel lachen. „Ist ja | |
klar, nicht alle Jungs haben damals ausgesagt, nur die, die sie durch | |
Ermittlungen herausgefunden haben“, sagt er. Seine Bude sei immer voll | |
gewesen. Er spricht wie ein arroganter Aufreißer. Wie so oft an diesem Tag | |
sage ich ihm, dass mich seine Worte fassungslos und wütend machen. Und wie | |
so oft an diesem Tag zuckt mein Onkel etwas ratlos mit den Schultern und | |
schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, so als wolle er sagen: „Was | |
soll ich da machen? Kann ich nichts für.“ | |
Sieben Stunden bin ich mit dem Zug quer durch Deutschland gefahren, um mit | |
dem Mann zu sprechen, über den in meiner Familie niemand spricht. Ich habe | |
meinen Onkel das letzte Mal gesehen, als ich ein Kleinkind war. Heute bin | |
ich 29. Mein Onkel ist 57. Und pädophil. Er war wegen sexuellen | |
Kindesmissbrauchs und wegen Besitz von Kindesmissbrauchsabbildungen dreimal | |
im Gefängnis. | |
Mein Onkel ist der Mann, an den ich bei Nachrichten über sexuellen | |
Kindesmissbrauch und pädokriminelle Netzwerke wie in Lügde, Münster und | |
Bergisch Gladbach denken muss. Ich muss an meinen Onkel denken, wenn ich | |
lese, dass der arbeitslose Camper Andreas V. in Lügde eine Pflegetochter | |
hatte, obwohl es Hinweise darauf gab, dass er pädophil sein könnte. Ich | |
muss an meinen Onkel denken, wenn ich lese, dass der 27-jährige | |
Hauptverdächtige im Fall Münster wegen Verbreitung und Besitz von | |
Kindesmissbrauchsabbildungen bereits vorbestraft war. | |
Die aktuelle Häufung aufgedeckter Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch | |
setzt die Politik unter Druck. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht | |
will härter gegen pädosexuelle Straftäter*innen vorgehen und die Strafen | |
für sexuellen Kindesmissbrauch und die Verbreitung und den Besitz von | |
Missbrauchsabbildungen verschärfen. | |
Ein Gesetzentwurf zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder, den | |
die Bundesregierung Ende Oktober beschlossen hat, sieht unter anderem vor, | |
Verbreitung und Besitz von Missbrauchsabbildungen mit längeren | |
Freiheitsstrafen zu ahnden und die Anordnung von Untersuchungshaft bei | |
schwerer sexualisierter Gewalt gegen Kinder zu erleichtern. Expert*innen | |
kritisieren aber, dass härtere Strafen keine präventive Wirkung hätten. | |
Meinen Onkel haben Strafen jahrzehntelang nicht abgeschreckt. Er sagt, es | |
gebe einvernehmlichen Sex mit Kindern, seine Pädophilie müsse nicht | |
therapiert werden. Er ist ein Mann, der auf verlorenem Posten kämpft, | |
angefeindet wird, ein Leben im Abseits führt. | |
Ich habe ihn besucht, um herauszufinden, was ein pädosexueller Straftäter | |
wie er denkt und fühlt. Und wie ein Mann lebt, den das Ausleben seiner | |
sexuellen Neigung immer wieder ins Gefängnis bringt. Zum Schutz meines | |
Onkels und anderer Beteiligter sind einige Details in diesem Text | |
verändert. | |
## Den Autor lässt die Begegnung nicht los | |
Es ist mir nicht leichtgefallen, all das aufzuschreiben. Seit dem Treffen | |
mit meinem Onkel ist über ein Jahr vergangen. In dieser Zeit habe ich immer | |
wieder versucht, meine Gedanken über ihn, seine Taten und seine Ansichten | |
zu ordnen und zu Papier zu bringen. Doch ich wusste lange nicht, wie. Ich | |
wollte keinen Text schreiben, der die ohnehin schon verbreitete | |
Stigmatisierung von Pädophilen verstärkt. Ich wollte auch keine Homestory | |
über einen gruseligen Verbrecher schreiben. Wenn mein Onkel ein Mann wäre, | |
der seine Taten bereute und sich therapieren ließe, wäre dieser Text | |
wahrscheinlich nicht entstanden. Doch weil mein Onkel kein solcher Mann | |
ist, habe ich keine Ruhe gefunden. | |
Seit dem Treffen mit ihm verfolgt mich vor allem eine Frage: Was wird in | |
Deutschland unternommen, um Männer wie ihn, die offen zu ihrer Pädophilie | |
stehen, Therapien ablehnen und vorbestraft sind, davon abzuhalten, erneut | |
Kinder zu missbrauchen? | |
Dass mein Onkel kein Pädophiler ist, der gegen seine Neigung kämpft und | |
alles versucht, um Kindern nicht zu schaden, weiß ich aus einem Manifest, | |
das er Ende der neunziger Jahre im Gefängnis schrieb. Auf 40 Seiten | |
argumentiert er für die Streichung des Paragrafen 176 des Strafgesetzbuchs, | |
in dem die Strafen für sexuellen Missbrauch von Kindern unter 14 Jahren | |
festgeschrieben sind. Gegen Pädophile finde ein „Holocaust“ statt, die | |
Altersgrenzen im Sexualstrafrecht seien willkürlich, Kinder seien | |
eigenständige Personen mit Recht auf eine selbstbestimmte Sexualität, | |
schreibt er darin. | |
Vor einigen Jahren schickte er das Manifest meiner Mutter, die es mir gab. | |
Es gab mir zum ersten Mal einen Einblick in die Gedankenwelt meines Onkels. | |
Ich wusste also, was mich bei einem Gespräch mit ihm erwartet. | |
Die Anklageschrift, die im Sommer 2019 vor mir und meinem Onkel auf dem | |
Wohnzimmertisch liegt, brachte ihn fünf Jahre ins Gefängnis. Die Jungen, | |
die er missbrauchte, lernte er in einem Kino kennen. Dort arbeitete er mit | |
Anfang 30 als Filmvorführer. Er sprach die Jungen an, lud sie zu sich nach | |
Hause ein. Sie hätten bei ihm Fernsehen schauen und toben können. Ein paar | |
von ihnen brachten Freunde mit. Mein Onkel zeigte ihnen Pornos, befriedigte | |
sie dabei oral, ließ sich von ihnen oral befriedigen. Vier bis fünf Jahre | |
ging das so. Es seien viele Jungen gewesen, deren Eltern sich nicht | |
wirklich um sie gekümmert hätten, sagt mein Onkel. Bei ihm hätten sie sich | |
wohlgefühlt. | |
„Du hast die Jungen ausgenutzt“, sage ich zu meinem Onkel. „Sie haben bei | |
dir die Zuneigung gesucht, die sie von ihren Eltern nicht bekommen haben.“ | |
Er verneint das nicht. „Die Ausnutzung war gegenseitig“, sagt er. Die | |
Jungen hätten meinen Onkel „fummeln“ lassen und dafür bei ihm in der | |
Wohnung machen können, was sie wollten. Er habe nie etwas gegen den Willen | |
der Jungen gemacht, nie Gewalt angewendet. Darauf beruht für meinen Onkel | |
die Rechtfertigung seiner Taten: Sex mit einem Kind ohne Gewaltanwendung | |
ist für ihn kein Missbrauch. „Für die meisten Menschen ist es Gewalt gegen | |
Kinder, mit ihnen Sex zu haben“, sage ich. „Das ist ja das Problem“, sagt | |
mein Onkel. Sex zwischen einem Jungen und einem Mann werde von der | |
Gesellschaft besonders kritisch gesehen. „Wenn ein 13-Jähriger mit einer | |
Frau schläft, regt sich keiner auf“, sagt er. Der stoße sich dann einfach | |
die Hörner ab. | |
Anna Konrad ist Sexual- und Psychotherapeutin und arbeitet mit pädophilen | |
Menschen. Konrads Patient*innen sind überwiegend männlich, leiden unter | |
ihren sexuellen Fantasien von Kindern und wollen keinen sexuellen | |
Missbrauch begehen. In der Therapie bearbeitet Konrad mit ihnen unter | |
anderem sogenannte missbrauchbegünstigende Einstellungen, die zum Beispiel | |
sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern verharmlosen und ein | |
Hauptrisikofaktor für das Begehen von sexuellem Missbrauch sind. Die | |
Behauptung meines Onkels, die Gesellschaft und nicht er selbst habe eine | |
fragwürdige Meinung über Sex zwischen Männern und Jungen, ist eine solche | |
missbrauchbegünstigende Einstellung. | |
Für Konrads Patient*innen ist die Auseinandersetzung mit ihren eigenen | |
Überzeugungen herausfordernd. „Ein Anerkennen, dass ihre Ansichten falsch | |
sind, kann bedeuten, dass ihr ganzes Selbstbild zusammenbricht“, sagt die | |
39-Jährige. Zu sagen, die Gesellschaft und nicht man selbst habe falsche | |
Ansichten, sei ein psychologisch nachvollziehbarer Schutzmechanismus. | |
Konrad arbeitet seit 15 Jahren für das Präventionsnetzwerk „Kein Täter | |
werden“ an der Charité-Universitätsmedizin Berlin. Das Netzwerk mit | |
bundesweit 11 Standorten will Menschen, die sich sexuell zu Kindern | |
hingezogen fühlen, ein zufriedenes Leben ermöglichen und sexuelle Gewalt an | |
Kindern verhindern. Deutschlandweit haben bisher rund 11.000 Männer und | |
Frauen das Netzwerk kontaktiert. | |
Voraussetzung für eine Aufnahme in das Programm und eine erfolgreiche | |
Therapie ist, dass die Suche nach Hilfe aus eigener Motivation erfolgt. | |
Manche Männer wenden sich zum Beispiel nicht aus eigenem Antrieb an „Kein | |
Täter werden“, sondern weil ihre Partner:innen Missbrauchsabbildungen auf | |
ihren PCs gefunden haben. Eine Therapie habe dann unter Umständen keinen | |
Sinn, sagt Konrad. „Man kann niemanden zwingen, sich mit sich selbst | |
auseinanderzusetzen.“ | |
Im Sommer vor einem Jahr gehen mein Onkel und ich in einem Park in der Nähe | |
seiner Wohnung spazieren. Die beiden Chihuahuas laufen angeleint voraus. | |
„Das Schöne an Hunden ist, dass immer jemand da ist, der sich freut, wenn | |
man nach Hause kommt“, sagt mein Onkel. Die Hunde würden in seinem Bett | |
schlafen, das binde ungemein. Bindung, und Nähe hat er in unserer Familie | |
kaum erfahren. „Das, was ich selbst erlebt habe, würde ich einem anderen | |
Kind nie antun“, sagt er. | |
In meiner Kindheit hörte ich auf Familienfeiern, zu denen mein Onkel nie | |
eingeladen war, meine Mutter und ihre Geschwister oft von der Gewalt reden, | |
der sie als Kinder ausgesetzt waren. Dass mein Großvater sie mit einer | |
Hundepeitsche verprügelte, war immer wieder Thema. Mein Onkel sagt, er habe | |
am meisten abbekommen. Als er 15 war, habe mein Großvater ihm Zähne | |
ausgeschlagen. Einmal habe ein Sportlehrer meinen Großvater wegen der | |
Striemen auf dem Körper meines Onkels angesprochen, doch passiert sei | |
nichts. Für die Misshandlung seiner Kinder wurde mein Großvater nie zur | |
Verantwortung gezogen. Meine Großmutter sei so gut wie nie eingeschritten. | |
„Was für eine Familie!“, sagt mein Onkel. „Da bin ich noch der Harmloses… | |
Und ich bin der, der im Gefängnis war.“ | |
Meine Mutter bestätigt, dass mein Onkel von ihren vier Geschwistern am | |
meisten unter dem Sadismus meines Großvaters zu leiden hatte. „Wenn er mal | |
wieder Prügel gekriegt hat, bin ich schnell in irgendein Zimmer gerannt und | |
habe mir die Ohren zugehalten, damit ich ihn nicht schreien hörte“, sagt | |
sie. Vor allem der Tag, an dem mein Onkel die Hundepeitsche versteckt hat, | |
ist ihr in Erinnerung geblieben. Als er meinem Großvater nicht verriet, wo | |
die Peitsche war, habe dieser eine Nadel genommen, meinem Onkel den Mund | |
zugehalten und seinen Po zerstochen. Die Großmutter meiner Mutter habe nach | |
diesem Vorfall meinen Großvater anzeigen wollen. Aus Angst, dass er dann | |
ins Gefängnis komme, habe sie es jedoch nicht getan. | |
Von der Pädophilie meines Onkels hat meine Mutter nach einer seiner | |
Verurteilungen erfahren. Von seinen konkreten Taten und drei Haftstrafen | |
hört sie zum ersten Mal von mir. Sie wusste nur von einer Haftstrafe. „Ich | |
hätte nie gedacht, dass er so was macht“, sagt sie. | |
Meine Mutter wurde selbst als Kind vom Lebensgefährten ihrer Großmutter und | |
einem Onkel sexuell missbraucht. Kontakt hat sie kaum zu meinem Onkel. | |
Manchmal schreiben sich die beiden über Whatsapp, sehr selten telefonieren | |
sie. „Ich bin einfach froh, wenn es ihm gut geht“, sagt meine Mutter. „Er | |
ist ja schließlich mein Zwillingsbruder.“ | |
Mein Onkel verließ seine Familie, sobald er die Möglichkeit dazu hatte. Er | |
diente sieben Jahre in der Nationalen Volksarmee der DDR, machte eine | |
Ausbildung zum Maurer und brach noch am Tag der Grenzöffnung in Richtung | |
Westdeutschland auf. Seitdem war er nicht mehr in seiner Heimat. | |
Anfang der neunziger Jahre, mein Onkel war Anfang 30, wurde ihm sein Job | |
inklusive Zimmer auf einem Bauhof gekündigt. Er zog in eine Pension, wo | |
auch Familien mit ihren Kindern lebten, und missbrauchte dort Jungen. Einer | |
von ihnen erzählte seinen Eltern davon, und mein Onkel wurde zum ersten Mal | |
wegen sexuellen Kindesmissbrauchs verurteilt. Bis zur Urteilsverkündung saß | |
er ein halbes Jahr in Untersuchungshaft. Den Rest der zweijährigen | |
Freiheitsstrafe setzte das Gericht zur Bewährung aus. | |
Die Jahre danach lebte mein Onkel in einer Wohngruppe für Straffällige, in | |
einem Obdachlosenheim, bei Bekannten. Er bezog lange Hartz IV, war bei | |
Zeitarbeitsfirmen angestellt, arbeitete als Lagerlogistiker. Dazwischen war | |
er zweimal jeweils mehrere Jahre im Gefängnis, zuletzt von 2006 bis 2009. | |
Als die Polizei 2006 Missbrauchsabbildungen auf dem Computer meines Onkels | |
fand, musste er noch Bewährungsauflagen einer vorherigen Haftstrafe | |
erfüllen. Er war zum Beispiel verpflichtet, sich regelmäßig bei einem | |
Bewährungshelfer zu melden, und durfte keine Kinder in seiner Wohnung | |
haben. Der Besitz der Missbrauchsabbildungen und der Verstoß gegen die | |
Bewährungsauflagen brachten ihn wieder direkt ins Gefängnis. | |
Andrea Frauendorfer arbeitet seit 30 Jahren mit straffällig gewordenen | |
Menschen. Sie ist leitende Bewährungshelferin für das Landgericht Landshut | |
in Bayern. Zurzeit betreut sie rund 45 Personen, die sie einmal im Monat | |
für jeweils eine Stunde trifft. 10 von ihnen sind pädosexuelle Männer, die | |
Kinder sexuell missbraucht haben. „Die meisten ticken so wie Ihr Onkel“, | |
sagt mir Frauendorfer bei einem Telefonat. Es seien Männer, die behaupten, | |
dass sie Kinder lieben, und nichts Falsches an ihren Taten sehen. „Solche | |
Fälle sind schwierig, weil die Männer keine Motivation haben, sich zu | |
ändern“, sagt die 55-Jährige. | |
Die Bewährungsauflagen, die pädosexuelle Straftäter*innen nach ihrer Haft | |
erfüllen müssen, seien von Fall zu Fall unterschiedlich. Bei der Festlegung | |
der Auflagen spiele Frauendorfer zufolge zum Beispiel eine Rolle, wie der | |
Kontakt zu den missbrauchten Kindern angebahnt wurde und ob es bereits | |
Vorstrafen gab. | |
Wenn jemand über viele Jahre Kinder missbraucht hat, treffen sich vor der | |
Haftentlassung Polizei, Bewährungshelfer*innen, Führungsaufsichtsstelle und | |
Staatsanwaltschaft und legen gemeinsam die Bewährungsauflagen fest. | |
Außerdem gibt es für als gefährlich eingestufte Personen die sogenannte | |
elektronische Aufenthaltsüberwachung, eine elektronische Fußfessel, die per | |
GPS den Standort von aus der Haft entlassenen Straftätern*innen | |
kontrolliert. „Zurzeit habe ich mehrere, die so einen Kasten tragen“, sagt | |
Frauendorfer. Nähert sich ein wegen sexuellen Kindesmissbrauchs | |
verurteilter Mann einem für ihn als Verbotszone festgelegten Ort, etwa | |
einem Kindergarten, bekommen die Bewährungshelferin und die Polizei sofort | |
eine Meldung. | |
Für manche pädosexuellen Straftäter*innen wird nach einer Haftstrafe | |
Sicherungsverwahrung angeordnet. Bereits zwei Vergehen gegen die sexuelle | |
Selbstbestimmung von Kindern können für eine Anordnung der | |
Sicherungsverwahrung ausreichen. Bei besonders schweren Verbrechen, die zu | |
einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren führen, kann schon ein | |
Ersttäter in Sicherungsverwahrung kommen. | |
Um diese schwerwiegendste Sanktion im deutschen Strafrecht verhängen zu | |
können, muss festgestellt werden, dass der Täter wegen eines Hangs zu | |
erheblichen Straftaten, die die Opfer seelisch oder körperlich schwer | |
schädigen, für die Allgemeinheit gefährlich ist. | |
## Mein Onkel sagt, er habe keine Gewalt angewandt | |
Mein Onkel sagt, für ihn hätten die Gerichte bisher Sicherungsverwahrung | |
nicht in Betracht gezogen, weil er nie Gewalt gegen die Jungen, die er | |
missbraucht hat, angewendet habe. Die Sicherungsverwahrung dauert so lange | |
an, wie eine Person noch als gefährlich gilt. Sie kann auch bis zum Tod | |
vollstreckt werden. Ob jemand weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit | |
darstellt und damit die Voraussetzung für die Sicherungsverwahrung | |
weiterbesteht, müssen Gerichte jährlich überprüfen. | |
Eine der Aufgaben von Bewährungshelferin Andrea Frauendorfer ist es, dafür | |
zu sorgen, dass ihre Proband*innen, wie es im Justizdeutsch heißt, keine | |
Gefahr für die Allgemeinheit bleiben. „Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand | |
wieder eine Straftat begeht und auf alte Verhaltensweisen zurückgreift, ist | |
größer, wenn es der Person psychisch nicht gut geht“, erklärt Frauendorfer. | |
Dafür zu sorgen, dass ihre Proband*innen eine Wohnung und einen Job haben, | |
sei deshalb sehr wichtig, weil das Stabilität bringe. Das gelte auch für | |
Therapien. Für pädosexuelle Straftäter*innen sind sie oftmals eine Auflage | |
nach der Haftentlassung. Zwingen könne man dazu aber niemanden. „Wenn ein | |
Proband nur den Termin einhält, aber nicht viel spricht, ist das rechtlich | |
nicht zu beanstanden“, sagt die Bewährungshelferin. | |
Mein Onkel hat die 80 Stunden Therapie, die er nach einer seiner | |
Haftstrafen verordnet bekam, einfach abgesessen. Der Therapeut habe meinem | |
Onkel zufolge versucht, ihn davon zu überzeugen, dass seine Einstellung zu | |
Sex mit Kindern falsch sei. Geschafft hat er das nicht. „Ich bin mit der | |
Einstellung dorthin, dass ich keine Therapie brauche“, sagt mein Onkel. Das | |
habe auch der Therapeut gemerkt. | |
Als die Polizei 2006 den PC meines Onkels konfiszierte, fand sie auf ihm | |
Filme, in denen Jungen im Alter zwischen 12 und 14 Jahren Sex miteinander | |
und mit Erwachsenen haben. Er selbst habe nie Filme aufgenommen, | |
Gewaltvideos schaue er sich generell nicht an, sagt mein Onkel. Auf meinen | |
wiederholten Einwand, dass jegliche sexuelle Handlung mit Kindern Gewalt | |
sei, antwortet er, er könne ja nicht nachvollziehen, unter welchen | |
Umständen die Filme zustande gekommen seien und dass man bei manchen Jungen | |
gesehen habe, dass es ihnen Spaß mache. | |
Ich kann mir kaum vorstellen, dass ein pädophiler Mann mit dieser | |
Einstellung sich nicht wieder strafbar macht oder es schon unentdeckt getan | |
hat. Mein Onkel würde mir natürlich nichts erzählen, was ihn in | |
Schwierigkeiten bringen könnte. Er sagt, er habe sich damit abgefunden, | |
seine Neigung in seiner Fantasie auszuleben. Das bedrücke ihn, aber es gehe | |
ja nicht anders. Er habe niemanden, mit dem er über dieses Thema sprechen | |
könne. Man könne ohnehin nirgends öffentlich über Pädophilie reden. | |
„Es gibt keine Lobby für mich, ich bin auf verlorenem Posten“, sagt mein | |
Onkel. Vor einigen Jahrzehnten sei das noch anders gewesen. Die Grünen und | |
die Schwulenbewegung hätten sich ja leider irgendwann von dem Thema | |
distanziert. | |
Mein Onkel spielt auf Teile des linksalternativen Milieus an, das in den | |
siebziger und achtziger Jahren Straffreiheit für sexuelle Handlungen mit | |
Kindern forderte. Im gesellschaftlichen Klima der sexuellen Revolution | |
wurden alle Tabus infrage gestellt, was pädophilen Aktivist*innen Auftrieb | |
verschaffte. Sie organisierten sich unter anderem bei den Grünen. | |
So fanden etwa 1981 Forderungen nach Freistellung von der strafrechtlichen | |
Verfolgung sexueller Handlungen zwischen Kindern und Erwachsenen, die | |
gewaltfrei zustande kommen, Eingang in das Wahlprogramm der | |
Alternativen-Grünen-Initiativen-Liste in Göttingen. Der ehemalige | |
Grünen-Chef Jürgen Trittin war mitverantwortlich für dieses Wahlprogramm. | |
## Mein Onkel sieht sich als Kämpfer gegen Diskriminierung | |
Auch die taz, die sich als Sprachrohr für abweichende Meinungen verstand, | |
veröffentlichte in dieser Zeit Texte von Menschen, die für die Anerkennung | |
von Pädophilie als gleichberechtigte sexuelle Neigung warben. Mein Onkel | |
sieht sich in der Tradition dieser Aktivist*innen, als Kämpfer gegen die | |
Diskriminierung von Pädophilen, der heute keine Unterstützung mehr erwarten | |
kann. | |
Kämpfen muss mein Onkel auch an anderer Front. Vor mehreren Jahren | |
verschwand in der Stadt, in der er wohnt, ein achtjähriger Junge. Am | |
nächsten Tag wurde das Kind tot in einem Bach gefunden. Bei der Polizei | |
meldete sich ein anonymer Anrufer, der meinen Onkel des Mordes an dem | |
Jungen bezichtigte. Polizisten*innen durchsuchten seine Wohnung, die | |
Nachbar*innen erfuhren den Grund der Durchsuchung. Sie hätten vor dem Haus | |
gestanden und gesagt, sie würden das Geständnis aus meinem Onkel | |
herausprügeln. | |
Für die Polizei sei mein Onkel nie als Täter infrage gekommen, sagt er. Er | |
habe nicht ins Profil gepasst. Die Polizei riet ihm, für ein paar Wochen | |
unterzutauchen. Er zog für kurze Zeit zu einem Bekannten in die Schweiz. | |
Die Anfeindungen gegen meinen Onkel dauern an. Eine Frau aus der | |
Nachbarschaft boxte ihm durch das offene Autofenster ins Gesicht, als er | |
mit dem Wagen der Reinigungsfirma, für die er arbeitet, zu seinem Haus | |
fuhr. Ein Kollege bei der Reinigungsfirma wurde entlassen, weil er meinen | |
Onkel angegriffen hatte. Die Frau und der Ex-Kollege wissen, dass mein | |
Onkel wegen sexuellen Kindesmissbrauchs im Gefängnis saß. | |
Am frühen Abend im Sommer vor einem Jahr feuert mein Onkel auf der Wiese | |
hinter seiner Wohnung seinen Gasgrill an. Der Rasen ist saftig grün und | |
akkurat gemäht. Neben einem Steinplattenweg stehen drei Bäume in gerader | |
Reihe: Birne, Quitte, Asienbirne Nashi Kumoi. Mein Onkel hat sie gepflanzt. | |
Der Himmel ist mit dicken Wolken bedeckt. Als mein Onkel anfängt, mit einer | |
Drahtbürste altes Fett vom Rost zu schrubben, beginnt es zu nieseln. | |
„Katastrophe, gerade jetzt“, sagt er. Er zerrt von einer Ecke der Wiese | |
einen Sonnenschirm samt Ständer heran und spannt ihn über dem Grill auf. Er | |
keucht. Hinter der Blechwand, vor der der Tisch steht, an dem ich sitze, | |
scheppern in regelmäßigen Abständen Güterwaggons vorbei. | |
Wir grillen nicht allein. Mein Onkel hat einen Bekannten eingeladen. Er ist | |
etwa so alt wie er, hat dunkle Locken und trägt blaue Sportshorts. Ich | |
nenne ihn Karsten. Karsten bringt einen Mann mit, mit dem er zusammenwohnt. | |
Er ist 24 Jahre alt. Ihn nenne ich Philipp. Karsten und Philipp haben | |
gerade Besuch. Philipps Schwester und ihr achtjähriger Sohn verbringen das | |
Wochenende bei ihnen. | |
Mein Onkel hat Karsten im Gefängnis kennengelernt. Warum Karsten im | |
Gefängnis war, wisse mein Onkel nicht, behauptet er. Er glaube aber, dass | |
Karsten etwas Ähnliches gemacht habe wie er. Karsten stellt mir Philipp als | |
seinen Ziehsohn vor. | |
Später, nachdem der Besuch weg ist, sagt mein Onkel zu mir, dass Karsten | |
Philipp schon kenne, seit er elf oder zwölf Jahre alt ist. Da sei bestimmt | |
schon immer was gelaufen, sagt er. | |
Philipp sitzt neben mir, als wir essen. Er riecht nach Schweiß und | |
ungewaschener Kleidung. Er hat lange dunkle Haare. Seine Unterarme sind mit | |
aufgekratzten Pickeln übersät. Seine Schwester, den Blick die meiste Zeit | |
gesenkt, wackelt nervös mit den Beinen. Ihr Sohn ist ein fröhlicher, | |
aufgeweckter Junge. Er hat schulterlange dunkelblonde Haare und trägt ein | |
T-Shirt mit dem roten Auto aus dem Pixar-Film „Cars“. Er rennt über die | |
Wiese und wechselt minütlich das Spielzeug. Mein Onkel hat ein | |
ferngesteuertes Auto und eine bunt leuchtende Kugel, die an summenden | |
Propellern über das Gras schwebt, aus seiner Wohnung geholt. | |
## „Komm vorbei und bring die Jungs mit“ | |
Nach dem Essen sagt mein Onkel, weil so viele Hähnchenschenkel und Steaks | |
übrig geblieben sind, werde er morgen wieder grillen. Zu Karsten sagt er, | |
er könne ja vorbeikommen und die Jungs mitbringen. Das sagt er nicht nur | |
einmal, sondern mehrmals, so als wolle er sichergehen, dass Karsten es | |
nicht vergisst. „Welche Jungs?“, frage ich und versuche, möglichst arglos | |
zu klingen. „Die vom Kinderbauernhof“, antwortet mein Onkel. | |
Karsten arbeitet auf dem Hof und betreut dort Kinder. Er passe vor allem | |
auf die Söhne der Besitzerin des Hofes auf, sagt er. Weil die an diesem | |
Abend nicht da sei, müsse er recht bald nach dem Grillen wieder gehen, weil | |
er den kleinsten der Jungen ins Bett bringen müsse. Mein Onkel hat vor | |
einigen Jahren auch auf dem Hof gejobbt. | |
In der Woche nach dem Besuch bei meinem Onkel lässt mich das Gespräch | |
zwischen ihm und Karsten nicht los. Ist es nicht vielleicht völlig normal, | |
dass Karsten die Söhne der Chefin des Kinderbauernhofs zu meinem Onkel | |
mitnimmt, wenn er auf sie aufpasst? Sehe ich nach dem Besuch bei meinem | |
Onkel plötzlich grundlos überall gefährdete Kinder? | |
Ich kann die Gedanken nicht abschütteln. Karstens merkwürdige Beziehung zu | |
seinem Ziehsohn Philipp. Der Fakt, dass Karsten und mein Onkel sich aus dem | |
Gefängnis kennen. Die Selbstverständlichkeit, mit der mein Onkel sagt, | |
Karsten solle doch die Jungs mitbringen. So als würde das regelmäßig | |
passieren. Und vor allem: die Routine, mit der mein Onkel jahrelang | |
Kinder missbraucht hat. | |
Ich beschließe, das Jugendamt der Stadt anzurufen, in der mein Onkel wohnt. | |
Ich spreche mit einer Sozialarbeiterin und schildere ihr meine Sorgen. Sie | |
sagt, sie werde meinen Anruf mit ihren Kolleginnen und Kollegen besprechen. | |
Aber da ich nicht genau wisse, warum Karsten im Gefängnis war, und auch | |
sonst nicht mehr Details habe, sei alles sehr unkonkret. Sie werde aber | |
schauen, ob vielleicht noch jemand etwas beobachtet hat. Man könne jedoch | |
nicht einfach zu dem Hof fahren und die Besitzerin und Mutter der Jungen | |
damit konfrontieren, ohne mehr zu wissen. | |
Schon am nächsten Tag meldet sich die Sozialarbeiterin bei mir. Das | |
Jugendamt habe sich entschieden, mit der Besitzerin des Kinderbauernhofs zu | |
sprechen und sie darauf hinzuweisen, dass es eventuell Grund zur Sorge | |
gebe. Das Jugendamt habe Kontakt zur Polizei aufgenommen. Sie fragt mich | |
nach dem Namen und der Adresse meines Onkels. Ich gebe ihr die | |
Informationen, bitte sie aber, mich als Quelle anonym zu behandeln. Sie | |
sagt, sie würden nicht sofort bei meinem Onkel aufkreuzen, um ihn nicht | |
aufzuscheuchen. Sie sagt auch, das Jugendamt wolle nicht eventuell schon | |
laufende Ermittlungen der Polizei behindern. | |
Als ich mich vor ein paar Wochen, ein Jahr nach meinem ersten Anruf, bei | |
der Sozialarbeiterin nach dem aktuellen Stand in der Sache erkunde, sagt | |
sie, sie könne und dürfe mir dazu nichts sagen. | |
Ich rufe die Besitzerin des Kinderbauernhofes an, weil ich wissen will, ob | |
das Jugendamt meinem Hinweis wirklich nachgegangen ist. Die Frau erzählt | |
mir, jemand vom Jugendamt sei vergangenes Jahr im Sommer zum Hof gefahren. | |
Das muss kurz nach meinem Anruf gewesen sein. Man habe ihr gesagt, es hätte | |
sich jemand gemeldet, der sich Sorgen um ihre Söhne mache. An dem Tag sei | |
auch Karsten, der Kumpel meines Onkels, auf dem Hof gewesen. Das Jugendamt | |
habe mit ihm gesprochen und danach Informationen über ihn eingeholt. Das | |
Ergebnis: Wegen sexuellen Kindesmissbrauchs war Karsten nicht im Gefängnis. | |
Das sei für sie nichts Neues gewesen, sagt mir die Besitzerin des | |
Kinderbauernhofes. Sie wisse, dass Karsten im Gefängnis war, wegen | |
irgendwas mit Autos und Kennzeichen. 20 Minuten spreche ich mit ihr über | |
Karsten und meinen Onkel. „Für Karsten halte ich meine Hand ins Feuer“, | |
sagt sie. Er sei ein ganz lieber Mensch, der ihre Söhne wie seine eigenen | |
liebe. Dass Karsten mit seinem Ziehsohn Philipp ein sexuelles Verhältnis | |
habe, stimme nicht. Mein Onkel sei einfach schon immer eifersüchtig auf die | |
beiden gewesen. | |
Über meinen Onkel verliert die Frau kein gutes Wort. „Er hat immer Fotos | |
von meinen Söhnen gemacht und ihnen ständig Süßigkeiten geschenkt“, sagt | |
sie über die Zeit vor ungefähr sechs Jahren, als sie meinen Onkel in den | |
Ställen auf ihrem Hof arbeiten ließ, nachdem Karsten ihn „angeschleppt“ | |
hatte. | |
Eine Mitarbeiterin habe ihr irgendwann gesagt, dass mit dem Verhalten | |
meines Onkels etwas nicht stimme. Daraufhin fand ein befreundeter Polizist | |
der Hofbesitzerin für sie heraus, warum mein Onkel im Gefängnis gewesen | |
war. „Ich habe ihm dann gekündigt, und er hat meinen Hof im Internet | |
schlechtgemacht“, sagt sie. | |
## Das Jugendamt war im vergangenen Sommer bei ihr | |
Ihre Söhne hat sie Karsten danach trotzdem manchmal noch zu meinem Onkel | |
mitnehmen lassen. Das überrascht mich. Nachdem das Jugendamt vergangenen | |
Sommer bei ihr war, habe sie das Karsten jedoch verboten. Von ihm wisse | |
sie, dass mein Onkel gelegentlich frage, ob er die Jungen mal wieder | |
mitbringen könne. Karsten sage, mein Onkel tue Kindern nichts mehr. Doch | |
sicher wissen könne sie selbst das ja nicht. | |
Vielleicht ist mein Onkel heute kein Täter mehr. Vielleicht haben die | |
vielen Haftstrafen Wirkung gezeitigt. Ich bin vor einem Jahr mit der | |
Erwartung zu ihm gefahren, dass er mir ein wenig leidtun würde. Ein Mann, | |
der seine sexuelle Neigung nicht legal ausleben kann, von seiner Familie | |
verstoßen, von der Gesellschaft verachtet. Aber er tut mir nicht leid. | |
Mein Onkel lebt in einer Fantasiewelt, in der Kinder gerne Sex mit | |
Erwachsenen haben. Er bedauert nicht, dass Dutzende Jungen ihre ersten | |
sexuellen Erfahrungen unfreiwillig mit ihm gemacht haben. Seine ständige | |
Rechtfertigung, er habe nie Gewalt angewendet, ist eine traurige | |
Selbsttäuschung, die er seit Jahrzehnten betreibt, um sich nicht damit | |
auseinandersetzen zu müssen, dass er ein vielfacher Missbrauchstäter ist. | |
Mit dieser Rechtfertigung reduziert er die Jungen, die er missbraucht hat, | |
auf ihre Körper. Die psychischen Folgen, die der Missbrauch für die Jungen | |
zweifelsohne hatte, scheinen für ihn völlig irrelevant zu sein. | |
Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft von 1997 zeichnet ein Bild von | |
meinem Onkel, das seiner Selbstdarstellung widerspricht. Ich habe das | |
Dokument mit meinem Handy abfotografiert, als ich bei ihm zu Besuch war. In | |
der Beschreibung der Tat Nummer 15 von 33 steht, mein Onkel soll einem | |
13-Jährigen in seiner Wohnung ein Bein gestellt haben, sodass dieser | |
rücklings auf eine Couch fiel. Dann habe mein Onkel sich auf den Brustkorb | |
des Jungen gesetzt, dessen Arme unter seine Beine geklemmt, die Hose | |
heruntergezogen und seinen Penis in den Mund genommen. Der Junge habe sich | |
gewehrt. Mein Onkel hat diese Tat vor Gericht bestritten. | |
Und Tat Nummer 13 von 33: Mein Onkel soll mehreren Jungen in seiner Wohnung | |
Pornos vorgespielt haben. Dann habe er gesagt, wer in seine Wohnung komme | |
und Filme schaue, müsse auch eine Gegenleistung erbringen. Mein Onkel habe | |
daraufhin die Wohnungstür abgeschlossen und sich gegenüber den Jungen | |
aggressiv verhalten. Niemand verlasse die Wohnung, solange ihm keiner einen | |
runterhole, soll er gesagt haben. Einer der Jungen habe meinen Onkel | |
schließlich mit der Hand befriedigt. Mein Onkel soll ihm dafür 20 Mark | |
gegeben haben. Vor Gericht hat er bestritten, den Jungen unter Druck | |
gesetzt zu haben. Den sexuellen Missbrauch und die Bezahlung dafür gab er | |
zu. | |
Mein Onkel muss seit einigen Jahren keine Auflagen mehr erfüllen. Er darf | |
Kinder in seiner Wohnung haben, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Sein | |
einfaches und sein erweitertes Führungszeugnis sind eintragsfrei. Beide hat | |
er mir gezeigt. Eintragungen über Verurteilungen werden nur für eine | |
bestimmte Dauer in Führungszeugnisse aufgenommen. | |
Bei Verurteilungen wegen sexuellen Kindesmissbrauchs beträgt diese Frist | |
zehn Jahre zuzüglich der Dauer der verhängten Freiheitsstrafe. Der | |
Gesetzentwurf zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder von | |
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht sieht vor, diese Frist auf 20 | |
Jahre zu verdoppeln. Ein eintragsfreies erweitertes Führungszeugnis ist | |
Voraussetzung für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Mein Onkel | |
könnte sich also ohne Probleme einen solchen Job suchen. Auf dem Papier ist | |
er kein Straftäter mehr. Ich hätte niemals gedacht, dass das möglich ist. | |
Im Fall meines Onkels lautet die Antwort auf die Frage, wer verhindert, | |
dass er wieder Kinder missbraucht: niemand. Er hat zwar seine Strafen | |
abgesessen, doch in seinem Kopf hat sich nichts verändert. Mein Onkel ist | |
nach wie vor davon überzeugt, nichts falsch gemacht zu haben. Ich kann | |
nicht verstehen, wie es für einen Mann wie ihn keine strengen Regeln und | |
Kontrollen geben kann. Sollte er sich doch wieder strafbar machen, wäre das | |
ein Verbrechen mit Ansage. | |
Die Bewährungshelferin Andrea Frauendorfer vom Landgericht Landshut | |
befürwortet das Strafsystem in Deutschland. Sie finde es zwar schwierig, | |
dass Männer wie mein Onkel nicht unter strengerer Beobachtung stehen, aber: | |
„Es muss auch jeder die Chance bekommen, die Kurve zu kriegen und straffrei | |
in der Gesellschaft zu leben.“ Man könne niemandem das ganze Leben lang | |
vorhalten, eine Straftat begangen zu haben. | |
Der Besuch bei meinem Onkel hat mich viel über meine eigene Sexualität | |
nachdenken lassen. Ich bin schwul und habe schon mit 12 oder 13 Jahren | |
begonnen, mich für Männer zu interessieren. Was hätte ich getan, wenn der | |
Bekannte meines Stiefvaters, dessen Oberarme ich mir gerne anschaute, oder | |
der Vater einer Freundin, an dessen Brustbehaarung ich dachte, wenn ich | |
mich selbst befriedigte, Sex mit mir hätte haben wollen? Ich glaube nicht, | |
dass ich Nein gesagt hätte. | |
In den Tagen unmittelbar nach dem Treffen mit meinem Onkel verlaufe ich | |
mich in seinen Gedankengängen. Es gibt doch sicher Jungen, die sich früh | |
sexuell ausprobieren wollen, und das auch mit erwachsenen Männern. Doch | |
dann sehe ich mich als 12- oder 13-Jährigen vor mir, etwas unsicher im | |
eigenen Körper und mit einer neugierigen, aber nur vagen Vorstellung von | |
dem, was Sex ist und wie Sex sein sollte. Männer wie mein Onkel nutzen | |
diese Unsicherheit und Neugier aus. Was sie mit Kindern machen, ist | |
Missbrauch. | |
Auf Whatsapp schickt mir mein Onkel seit meinem Besuch regelmäßig Bilder | |
von seinen Chihuahuas und Videos, auf denen er neben einem Pferd herläuft. | |
Er hat eine Pflegebeteiligung für das Tier übernommen und will reiten | |
lernen. Wenn mein Onkel noch einmal ein Kind missbraucht oder | |
Missbrauchsabbildungen nutzt und dabei erwischt wird, droht ihm lebenslange | |
Sicherungsverwahrung. „Also darf ich mir nicht mehr die Finger verbrennen“, | |
hat er mir vor einem Jahr gesagt. | |
Mein Onkel hat einen Traum: Wenn er eine Million Euro gewänne, würde er | |
sich einen Pferdehof kaufen. Dort könnten dann Jungen wieder ein- und | |
ausgehen, sagt er. Aber das sei natürlich alles Quatsch, er wolle ja nicht | |
für den Rest seines Lebens ins Gefängnis. Er könne jedoch nicht | |
ausschließen, dass irgendwann wieder etwas passieren könnte: „Man weiß ja | |
nie, in was für eine Situation ich komme, in der es sich ergeben könnte.“ | |
14 Nov 2020 | |
## AUTOREN | |
Sebastian Danz | |
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Helmut Kentler | |
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