| # taz.de -- Mein pädophiler Onkel: Bestraft und nicht geläutert | |
| > Der Onkel unseres Autors ist ein verurteilter Pädophiler. Wie kann man | |
| > mit ihm umgehen?, fragt der Autor. Und wie verhindern, dass er rückfällig | |
| > wird? | |
| Kurz bevor ich am Haus meines Onkels ankomme, sehe ich ihn mit seinen zwei | |
| Chihuahuas vor die Tür treten. Die Hunde tapsen auf die Wiese neben dem | |
| Fußweg und pinkeln an einen Baum. Mein Onkel trägt eine Brille mit | |
| Metallrahmen und kleinen ovalen Gläsern. Unter einem hellblauen Hemd wölbt | |
| sich sein Bauch. Er hat kurze graue Haare und Geheimratsecken. Ich glaube, | |
| er hat mich schon gesehen, aber er hält den Kopf gesenkt und spricht mit | |
| den Hunden. | |
| Erst als ich fast neben ihm stehe, dreht er sich zu mir. „Na, hallo“, sagt | |
| er. Er ist klein, reicht mir bis zur Schulter. Wie meine Mutter, seine | |
| Zwillingsschwester. Ich sehe sie in seinem glatt rasierten Gesicht. Und | |
| irgendwie auch mich. | |
| Ein paar Minuten später sitze ich mit meinem Onkel auf dem Sofa in seinem | |
| Wohnzimmer. Neben mir wirbeln in einem Käfig zwei Zebrafinken Federn und | |
| Sand auf. Die zwei Chihuahuas laufen hechelnd umher, ihre Pfoten klackern | |
| leise auf dem Linoleum. Im Zimmer riecht es nach Hundefutter, das in drei | |
| Glasschüsseln neben der Tür steht. | |
| So gut wie jeder Quadratzentimeter des Raums ist zugestellt: Kerzen, ein | |
| Zimmerspringbrunnen aus kleinen Terrakottakrügen, das Gipsmodell eines | |
| muskulösen Männertorsos, eine Lampe in Form eines riesigen Penis. Der | |
| Schreibtisch an einer Wand des Wohnzimmers ist überladen mit staubigen | |
| Elektrogeräten, Kabeln und Post. Auf den Bildschirm des PCs ist eine Webcam | |
| gesteckt. Vor dem PC steht ein blauer Lederstuhl, auf dem ein speckig | |
| aussehendes dunkles Handtuch liegt. | |
| Auf dem niedrigen Holztisch vor mir und meinem Onkel stapeln sich | |
| Aktenordner. In ihnen hat er Jahrzehnte seines Lebens abgeheftet. Auf einem | |
| der Ordner klebt ein Bild von Aaron Carter, der als Kind Ende der neunziger | |
| Jahre einige Hits hatte. Auf dem Bild blickt der Junge nachdenklich in die | |
| Kamera. Seine blonden mittellangen Haare hängen ihm ins Gesicht. Er trägt | |
| eine Jeanslatzhose, der Oberkörper darunter ist nackt. | |
| Aufgeschlagen auf dem Tisch liegt eine Anklageschrift der | |
| Staatsanwaltschaft von November 1997. Auf 11 Seiten sind 33 Fälle von | |
| Kindesmissbrauch aufgelistet. Die Opfer: 15 Jungen im Alter zwischen 11 und | |
| 15 Jahren. Der Täter: mein Onkel. „In der Wohnung des Angeschuldigten muss | |
| es zeitweise zugegangen sein wie in einem Taubenschlag“, steht da über ihn. | |
| Nicht alle Kinder und Jugendlichen, die er misshandelt hat, hätten | |
| ermittelt werden können. „Es kann davon ausgegangen werden, dass die | |
| angeklagten Fälle nur die Spitze eines Eisberges darstellen“, schreibt die | |
| Staatsanwaltschaft. | |
| Über das Zitat mit der Spitze des Eisbergs muss mein Onkel lachen. „Ist ja | |
| klar, nicht alle Jungs haben damals ausgesagt, nur die, die sie durch | |
| Ermittlungen herausgefunden haben“, sagt er. Seine Bude sei immer voll | |
| gewesen. Er spricht wie ein arroganter Aufreißer. Wie so oft an diesem Tag | |
| sage ich ihm, dass mich seine Worte fassungslos und wütend machen. Und wie | |
| so oft an diesem Tag zuckt mein Onkel etwas ratlos mit den Schultern und | |
| schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, so als wolle er sagen: „Was | |
| soll ich da machen? Kann ich nichts für.“ | |
| Sieben Stunden bin ich mit dem Zug quer durch Deutschland gefahren, um mit | |
| dem Mann zu sprechen, über den in meiner Familie niemand spricht. Ich habe | |
| meinen Onkel das letzte Mal gesehen, als ich ein Kleinkind war. Heute bin | |
| ich 29. Mein Onkel ist 57. Und pädophil. Er war wegen sexuellen | |
| Kindesmissbrauchs und wegen Besitz von Kindesmissbrauchsabbildungen dreimal | |
| im Gefängnis. | |
| Mein Onkel ist der Mann, an den ich bei Nachrichten über sexuellen | |
| Kindesmissbrauch und pädokriminelle Netzwerke wie in Lügde, Münster und | |
| Bergisch Gladbach denken muss. Ich muss an meinen Onkel denken, wenn ich | |
| lese, dass der arbeitslose Camper Andreas V. in Lügde eine Pflegetochter | |
| hatte, obwohl es Hinweise darauf gab, dass er pädophil sein könnte. Ich | |
| muss an meinen Onkel denken, wenn ich lese, dass der 27-jährige | |
| Hauptverdächtige im Fall Münster wegen Verbreitung und Besitz von | |
| Kindesmissbrauchsabbildungen bereits vorbestraft war. | |
| Die aktuelle Häufung aufgedeckter Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch | |
| setzt die Politik unter Druck. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht | |
| will härter gegen pädosexuelle Straftäter*innen vorgehen und die Strafen | |
| für sexuellen Kindesmissbrauch und die Verbreitung und den Besitz von | |
| Missbrauchsabbildungen verschärfen. | |
| Ein Gesetzentwurf zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder, den | |
| die Bundesregierung Ende Oktober beschlossen hat, sieht unter anderem vor, | |
| Verbreitung und Besitz von Missbrauchsabbildungen mit längeren | |
| Freiheitsstrafen zu ahnden und die Anordnung von Untersuchungshaft bei | |
| schwerer sexualisierter Gewalt gegen Kinder zu erleichtern. Expert*innen | |
| kritisieren aber, dass härtere Strafen keine präventive Wirkung hätten. | |
| Meinen Onkel haben Strafen jahrzehntelang nicht abgeschreckt. Er sagt, es | |
| gebe einvernehmlichen Sex mit Kindern, seine Pädophilie müsse nicht | |
| therapiert werden. Er ist ein Mann, der auf verlorenem Posten kämpft, | |
| angefeindet wird, ein Leben im Abseits führt. | |
| Ich habe ihn besucht, um herauszufinden, was ein pädosexueller Straftäter | |
| wie er denkt und fühlt. Und wie ein Mann lebt, den das Ausleben seiner | |
| sexuellen Neigung immer wieder ins Gefängnis bringt. Zum Schutz meines | |
| Onkels und anderer Beteiligter sind einige Details in diesem Text | |
| verändert. | |
| ## Den Autor lässt die Begegnung nicht los | |
| Es ist mir nicht leichtgefallen, all das aufzuschreiben. Seit dem Treffen | |
| mit meinem Onkel ist über ein Jahr vergangen. In dieser Zeit habe ich immer | |
| wieder versucht, meine Gedanken über ihn, seine Taten und seine Ansichten | |
| zu ordnen und zu Papier zu bringen. Doch ich wusste lange nicht, wie. Ich | |
| wollte keinen Text schreiben, der die ohnehin schon verbreitete | |
| Stigmatisierung von Pädophilen verstärkt. Ich wollte auch keine Homestory | |
| über einen gruseligen Verbrecher schreiben. Wenn mein Onkel ein Mann wäre, | |
| der seine Taten bereute und sich therapieren ließe, wäre dieser Text | |
| wahrscheinlich nicht entstanden. Doch weil mein Onkel kein solcher Mann | |
| ist, habe ich keine Ruhe gefunden. | |
| Seit dem Treffen mit ihm verfolgt mich vor allem eine Frage: Was wird in | |
| Deutschland unternommen, um Männer wie ihn, die offen zu ihrer Pädophilie | |
| stehen, Therapien ablehnen und vorbestraft sind, davon abzuhalten, erneut | |
| Kinder zu missbrauchen? | |
| Dass mein Onkel kein Pädophiler ist, der gegen seine Neigung kämpft und | |
| alles versucht, um Kindern nicht zu schaden, weiß ich aus einem Manifest, | |
| das er Ende der neunziger Jahre im Gefängnis schrieb. Auf 40 Seiten | |
| argumentiert er für die Streichung des Paragrafen 176 des Strafgesetzbuchs, | |
| in dem die Strafen für sexuellen Missbrauch von Kindern unter 14 Jahren | |
| festgeschrieben sind. Gegen Pädophile finde ein „Holocaust“ statt, die | |
| Altersgrenzen im Sexualstrafrecht seien willkürlich, Kinder seien | |
| eigenständige Personen mit Recht auf eine selbstbestimmte Sexualität, | |
| schreibt er darin. | |
| Vor einigen Jahren schickte er das Manifest meiner Mutter, die es mir gab. | |
| Es gab mir zum ersten Mal einen Einblick in die Gedankenwelt meines Onkels. | |
| Ich wusste also, was mich bei einem Gespräch mit ihm erwartet. | |
| Die Anklageschrift, die im Sommer 2019 vor mir und meinem Onkel auf dem | |
| Wohnzimmertisch liegt, brachte ihn fünf Jahre ins Gefängnis. Die Jungen, | |
| die er missbrauchte, lernte er in einem Kino kennen. Dort arbeitete er mit | |
| Anfang 30 als Filmvorführer. Er sprach die Jungen an, lud sie zu sich nach | |
| Hause ein. Sie hätten bei ihm Fernsehen schauen und toben können. Ein paar | |
| von ihnen brachten Freunde mit. Mein Onkel zeigte ihnen Pornos, befriedigte | |
| sie dabei oral, ließ sich von ihnen oral befriedigen. Vier bis fünf Jahre | |
| ging das so. Es seien viele Jungen gewesen, deren Eltern sich nicht | |
| wirklich um sie gekümmert hätten, sagt mein Onkel. Bei ihm hätten sie sich | |
| wohlgefühlt. | |
| „Du hast die Jungen ausgenutzt“, sage ich zu meinem Onkel. „Sie haben bei | |
| dir die Zuneigung gesucht, die sie von ihren Eltern nicht bekommen haben.“ | |
| Er verneint das nicht. „Die Ausnutzung war gegenseitig“, sagt er. Die | |
| Jungen hätten meinen Onkel „fummeln“ lassen und dafür bei ihm in der | |
| Wohnung machen können, was sie wollten. Er habe nie etwas gegen den Willen | |
| der Jungen gemacht, nie Gewalt angewendet. Darauf beruht für meinen Onkel | |
| die Rechtfertigung seiner Taten: Sex mit einem Kind ohne Gewaltanwendung | |
| ist für ihn kein Missbrauch. „Für die meisten Menschen ist es Gewalt gegen | |
| Kinder, mit ihnen Sex zu haben“, sage ich. „Das ist ja das Problem“, sagt | |
| mein Onkel. Sex zwischen einem Jungen und einem Mann werde von der | |
| Gesellschaft besonders kritisch gesehen. „Wenn ein 13-Jähriger mit einer | |
| Frau schläft, regt sich keiner auf“, sagt er. Der stoße sich dann einfach | |
| die Hörner ab. | |
| Anna Konrad ist Sexual- und Psychotherapeutin und arbeitet mit pädophilen | |
| Menschen. Konrads Patient*innen sind überwiegend männlich, leiden unter | |
| ihren sexuellen Fantasien von Kindern und wollen keinen sexuellen | |
| Missbrauch begehen. In der Therapie bearbeitet Konrad mit ihnen unter | |
| anderem sogenannte missbrauchbegünstigende Einstellungen, die zum Beispiel | |
| sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern verharmlosen und ein | |
| Hauptrisikofaktor für das Begehen von sexuellem Missbrauch sind. Die | |
| Behauptung meines Onkels, die Gesellschaft und nicht er selbst habe eine | |
| fragwürdige Meinung über Sex zwischen Männern und Jungen, ist eine solche | |
| missbrauchbegünstigende Einstellung. | |
| Für Konrads Patient*innen ist die Auseinandersetzung mit ihren eigenen | |
| Überzeugungen herausfordernd. „Ein Anerkennen, dass ihre Ansichten falsch | |
| sind, kann bedeuten, dass ihr ganzes Selbstbild zusammenbricht“, sagt die | |
| 39-Jährige. Zu sagen, die Gesellschaft und nicht man selbst habe falsche | |
| Ansichten, sei ein psychologisch nachvollziehbarer Schutzmechanismus. | |
| Konrad arbeitet seit 15 Jahren für das Präventionsnetzwerk „Kein Täter | |
| werden“ an der Charité-Universitätsmedizin Berlin. Das Netzwerk mit | |
| bundesweit 11 Standorten will Menschen, die sich sexuell zu Kindern | |
| hingezogen fühlen, ein zufriedenes Leben ermöglichen und sexuelle Gewalt an | |
| Kindern verhindern. Deutschlandweit haben bisher rund 11.000 Männer und | |
| Frauen das Netzwerk kontaktiert. | |
| Voraussetzung für eine Aufnahme in das Programm und eine erfolgreiche | |
| Therapie ist, dass die Suche nach Hilfe aus eigener Motivation erfolgt. | |
| Manche Männer wenden sich zum Beispiel nicht aus eigenem Antrieb an „Kein | |
| Täter werden“, sondern weil ihre Partner:innen Missbrauchsabbildungen auf | |
| ihren PCs gefunden haben. Eine Therapie habe dann unter Umständen keinen | |
| Sinn, sagt Konrad. „Man kann niemanden zwingen, sich mit sich selbst | |
| auseinanderzusetzen.“ | |
| Im Sommer vor einem Jahr gehen mein Onkel und ich in einem Park in der Nähe | |
| seiner Wohnung spazieren. Die beiden Chihuahuas laufen angeleint voraus. | |
| „Das Schöne an Hunden ist, dass immer jemand da ist, der sich freut, wenn | |
| man nach Hause kommt“, sagt mein Onkel. Die Hunde würden in seinem Bett | |
| schlafen, das binde ungemein. Bindung, und Nähe hat er in unserer Familie | |
| kaum erfahren. „Das, was ich selbst erlebt habe, würde ich einem anderen | |
| Kind nie antun“, sagt er. | |
| In meiner Kindheit hörte ich auf Familienfeiern, zu denen mein Onkel nie | |
| eingeladen war, meine Mutter und ihre Geschwister oft von der Gewalt reden, | |
| der sie als Kinder ausgesetzt waren. Dass mein Großvater sie mit einer | |
| Hundepeitsche verprügelte, war immer wieder Thema. Mein Onkel sagt, er habe | |
| am meisten abbekommen. Als er 15 war, habe mein Großvater ihm Zähne | |
| ausgeschlagen. Einmal habe ein Sportlehrer meinen Großvater wegen der | |
| Striemen auf dem Körper meines Onkels angesprochen, doch passiert sei | |
| nichts. Für die Misshandlung seiner Kinder wurde mein Großvater nie zur | |
| Verantwortung gezogen. Meine Großmutter sei so gut wie nie eingeschritten. | |
| „Was für eine Familie!“, sagt mein Onkel. „Da bin ich noch der Harmloses… | |
| Und ich bin der, der im Gefängnis war.“ | |
| Meine Mutter bestätigt, dass mein Onkel von ihren vier Geschwistern am | |
| meisten unter dem Sadismus meines Großvaters zu leiden hatte. „Wenn er mal | |
| wieder Prügel gekriegt hat, bin ich schnell in irgendein Zimmer gerannt und | |
| habe mir die Ohren zugehalten, damit ich ihn nicht schreien hörte“, sagt | |
| sie. Vor allem der Tag, an dem mein Onkel die Hundepeitsche versteckt hat, | |
| ist ihr in Erinnerung geblieben. Als er meinem Großvater nicht verriet, wo | |
| die Peitsche war, habe dieser eine Nadel genommen, meinem Onkel den Mund | |
| zugehalten und seinen Po zerstochen. Die Großmutter meiner Mutter habe nach | |
| diesem Vorfall meinen Großvater anzeigen wollen. Aus Angst, dass er dann | |
| ins Gefängnis komme, habe sie es jedoch nicht getan. | |
| Von der Pädophilie meines Onkels hat meine Mutter nach einer seiner | |
| Verurteilungen erfahren. Von seinen konkreten Taten und drei Haftstrafen | |
| hört sie zum ersten Mal von mir. Sie wusste nur von einer Haftstrafe. „Ich | |
| hätte nie gedacht, dass er so was macht“, sagt sie. | |
| Meine Mutter wurde selbst als Kind vom Lebensgefährten ihrer Großmutter und | |
| einem Onkel sexuell missbraucht. Kontakt hat sie kaum zu meinem Onkel. | |
| Manchmal schreiben sich die beiden über Whatsapp, sehr selten telefonieren | |
| sie. „Ich bin einfach froh, wenn es ihm gut geht“, sagt meine Mutter. „Er | |
| ist ja schließlich mein Zwillingsbruder.“ | |
| Mein Onkel verließ seine Familie, sobald er die Möglichkeit dazu hatte. Er | |
| diente sieben Jahre in der Nationalen Volksarmee der DDR, machte eine | |
| Ausbildung zum Maurer und brach noch am Tag der Grenzöffnung in Richtung | |
| Westdeutschland auf. Seitdem war er nicht mehr in seiner Heimat. | |
| Anfang der neunziger Jahre, mein Onkel war Anfang 30, wurde ihm sein Job | |
| inklusive Zimmer auf einem Bauhof gekündigt. Er zog in eine Pension, wo | |
| auch Familien mit ihren Kindern lebten, und missbrauchte dort Jungen. Einer | |
| von ihnen erzählte seinen Eltern davon, und mein Onkel wurde zum ersten Mal | |
| wegen sexuellen Kindesmissbrauchs verurteilt. Bis zur Urteilsverkündung saß | |
| er ein halbes Jahr in Untersuchungshaft. Den Rest der zweijährigen | |
| Freiheitsstrafe setzte das Gericht zur Bewährung aus. | |
| Die Jahre danach lebte mein Onkel in einer Wohngruppe für Straffällige, in | |
| einem Obdachlosenheim, bei Bekannten. Er bezog lange Hartz IV, war bei | |
| Zeitarbeitsfirmen angestellt, arbeitete als Lagerlogistiker. Dazwischen war | |
| er zweimal jeweils mehrere Jahre im Gefängnis, zuletzt von 2006 bis 2009. | |
| Als die Polizei 2006 Missbrauchsabbildungen auf dem Computer meines Onkels | |
| fand, musste er noch Bewährungsauflagen einer vorherigen Haftstrafe | |
| erfüllen. Er war zum Beispiel verpflichtet, sich regelmäßig bei einem | |
| Bewährungshelfer zu melden, und durfte keine Kinder in seiner Wohnung | |
| haben. Der Besitz der Missbrauchsabbildungen und der Verstoß gegen die | |
| Bewährungsauflagen brachten ihn wieder direkt ins Gefängnis. | |
| Andrea Frauendorfer arbeitet seit 30 Jahren mit straffällig gewordenen | |
| Menschen. Sie ist leitende Bewährungshelferin für das Landgericht Landshut | |
| in Bayern. Zurzeit betreut sie rund 45 Personen, die sie einmal im Monat | |
| für jeweils eine Stunde trifft. 10 von ihnen sind pädosexuelle Männer, die | |
| Kinder sexuell missbraucht haben. „Die meisten ticken so wie Ihr Onkel“, | |
| sagt mir Frauendorfer bei einem Telefonat. Es seien Männer, die behaupten, | |
| dass sie Kinder lieben, und nichts Falsches an ihren Taten sehen. „Solche | |
| Fälle sind schwierig, weil die Männer keine Motivation haben, sich zu | |
| ändern“, sagt die 55-Jährige. | |
| Die Bewährungsauflagen, die pädosexuelle Straftäter*innen nach ihrer Haft | |
| erfüllen müssen, seien von Fall zu Fall unterschiedlich. Bei der Festlegung | |
| der Auflagen spiele Frauendorfer zufolge zum Beispiel eine Rolle, wie der | |
| Kontakt zu den missbrauchten Kindern angebahnt wurde und ob es bereits | |
| Vorstrafen gab. | |
| Wenn jemand über viele Jahre Kinder missbraucht hat, treffen sich vor der | |
| Haftentlassung Polizei, Bewährungshelfer*innen, Führungsaufsichtsstelle und | |
| Staatsanwaltschaft und legen gemeinsam die Bewährungsauflagen fest. | |
| Außerdem gibt es für als gefährlich eingestufte Personen die sogenannte | |
| elektronische Aufenthaltsüberwachung, eine elektronische Fußfessel, die per | |
| GPS den Standort von aus der Haft entlassenen Straftätern*innen | |
| kontrolliert. „Zurzeit habe ich mehrere, die so einen Kasten tragen“, sagt | |
| Frauendorfer. Nähert sich ein wegen sexuellen Kindesmissbrauchs | |
| verurteilter Mann einem für ihn als Verbotszone festgelegten Ort, etwa | |
| einem Kindergarten, bekommen die Bewährungshelferin und die Polizei sofort | |
| eine Meldung. | |
| Für manche pädosexuellen Straftäter*innen wird nach einer Haftstrafe | |
| Sicherungsverwahrung angeordnet. Bereits zwei Vergehen gegen die sexuelle | |
| Selbstbestimmung von Kindern können für eine Anordnung der | |
| Sicherungsverwahrung ausreichen. Bei besonders schweren Verbrechen, die zu | |
| einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren führen, kann schon ein | |
| Ersttäter in Sicherungsverwahrung kommen. | |
| Um diese schwerwiegendste Sanktion im deutschen Strafrecht verhängen zu | |
| können, muss festgestellt werden, dass der Täter wegen eines Hangs zu | |
| erheblichen Straftaten, die die Opfer seelisch oder körperlich schwer | |
| schädigen, für die Allgemeinheit gefährlich ist. | |
| ## Mein Onkel sagt, er habe keine Gewalt angewandt | |
| Mein Onkel sagt, für ihn hätten die Gerichte bisher Sicherungsverwahrung | |
| nicht in Betracht gezogen, weil er nie Gewalt gegen die Jungen, die er | |
| missbraucht hat, angewendet habe. Die Sicherungsverwahrung dauert so lange | |
| an, wie eine Person noch als gefährlich gilt. Sie kann auch bis zum Tod | |
| vollstreckt werden. Ob jemand weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit | |
| darstellt und damit die Voraussetzung für die Sicherungsverwahrung | |
| weiterbesteht, müssen Gerichte jährlich überprüfen. | |
| Eine der Aufgaben von Bewährungshelferin Andrea Frauendorfer ist es, dafür | |
| zu sorgen, dass ihre Proband*innen, wie es im Justizdeutsch heißt, keine | |
| Gefahr für die Allgemeinheit bleiben. „Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand | |
| wieder eine Straftat begeht und auf alte Verhaltensweisen zurückgreift, ist | |
| größer, wenn es der Person psychisch nicht gut geht“, erklärt Frauendorfer. | |
| Dafür zu sorgen, dass ihre Proband*innen eine Wohnung und einen Job haben, | |
| sei deshalb sehr wichtig, weil das Stabilität bringe. Das gelte auch für | |
| Therapien. Für pädosexuelle Straftäter*innen sind sie oftmals eine Auflage | |
| nach der Haftentlassung. Zwingen könne man dazu aber niemanden. „Wenn ein | |
| Proband nur den Termin einhält, aber nicht viel spricht, ist das rechtlich | |
| nicht zu beanstanden“, sagt die Bewährungshelferin. | |
| Mein Onkel hat die 80 Stunden Therapie, die er nach einer seiner | |
| Haftstrafen verordnet bekam, einfach abgesessen. Der Therapeut habe meinem | |
| Onkel zufolge versucht, ihn davon zu überzeugen, dass seine Einstellung zu | |
| Sex mit Kindern falsch sei. Geschafft hat er das nicht. „Ich bin mit der | |
| Einstellung dorthin, dass ich keine Therapie brauche“, sagt mein Onkel. Das | |
| habe auch der Therapeut gemerkt. | |
| Als die Polizei 2006 den PC meines Onkels konfiszierte, fand sie auf ihm | |
| Filme, in denen Jungen im Alter zwischen 12 und 14 Jahren Sex miteinander | |
| und mit Erwachsenen haben. Er selbst habe nie Filme aufgenommen, | |
| Gewaltvideos schaue er sich generell nicht an, sagt mein Onkel. Auf meinen | |
| wiederholten Einwand, dass jegliche sexuelle Handlung mit Kindern Gewalt | |
| sei, antwortet er, er könne ja nicht nachvollziehen, unter welchen | |
| Umständen die Filme zustande gekommen seien und dass man bei manchen Jungen | |
| gesehen habe, dass es ihnen Spaß mache. | |
| Ich kann mir kaum vorstellen, dass ein pädophiler Mann mit dieser | |
| Einstellung sich nicht wieder strafbar macht oder es schon unentdeckt getan | |
| hat. Mein Onkel würde mir natürlich nichts erzählen, was ihn in | |
| Schwierigkeiten bringen könnte. Er sagt, er habe sich damit abgefunden, | |
| seine Neigung in seiner Fantasie auszuleben. Das bedrücke ihn, aber es gehe | |
| ja nicht anders. Er habe niemanden, mit dem er über dieses Thema sprechen | |
| könne. Man könne ohnehin nirgends öffentlich über Pädophilie reden. | |
| „Es gibt keine Lobby für mich, ich bin auf verlorenem Posten“, sagt mein | |
| Onkel. Vor einigen Jahrzehnten sei das noch anders gewesen. Die Grünen und | |
| die Schwulenbewegung hätten sich ja leider irgendwann von dem Thema | |
| distanziert. | |
| Mein Onkel spielt auf Teile des linksalternativen Milieus an, das in den | |
| siebziger und achtziger Jahren Straffreiheit für sexuelle Handlungen mit | |
| Kindern forderte. Im gesellschaftlichen Klima der sexuellen Revolution | |
| wurden alle Tabus infrage gestellt, was pädophilen Aktivist*innen Auftrieb | |
| verschaffte. Sie organisierten sich unter anderem bei den Grünen. | |
| So fanden etwa 1981 Forderungen nach Freistellung von der strafrechtlichen | |
| Verfolgung sexueller Handlungen zwischen Kindern und Erwachsenen, die | |
| gewaltfrei zustande kommen, Eingang in das Wahlprogramm der | |
| Alternativen-Grünen-Initiativen-Liste in Göttingen. Der ehemalige | |
| Grünen-Chef Jürgen Trittin war mitverantwortlich für dieses Wahlprogramm. | |
| ## Mein Onkel sieht sich als Kämpfer gegen Diskriminierung | |
| Auch die taz, die sich als Sprachrohr für abweichende Meinungen verstand, | |
| veröffentlichte in dieser Zeit Texte von Menschen, die für die Anerkennung | |
| von Pädophilie als gleichberechtigte sexuelle Neigung warben. Mein Onkel | |
| sieht sich in der Tradition dieser Aktivist*innen, als Kämpfer gegen die | |
| Diskriminierung von Pädophilen, der heute keine Unterstützung mehr erwarten | |
| kann. | |
| Kämpfen muss mein Onkel auch an anderer Front. Vor mehreren Jahren | |
| verschwand in der Stadt, in der er wohnt, ein achtjähriger Junge. Am | |
| nächsten Tag wurde das Kind tot in einem Bach gefunden. Bei der Polizei | |
| meldete sich ein anonymer Anrufer, der meinen Onkel des Mordes an dem | |
| Jungen bezichtigte. Polizisten*innen durchsuchten seine Wohnung, die | |
| Nachbar*innen erfuhren den Grund der Durchsuchung. Sie hätten vor dem Haus | |
| gestanden und gesagt, sie würden das Geständnis aus meinem Onkel | |
| herausprügeln. | |
| Für die Polizei sei mein Onkel nie als Täter infrage gekommen, sagt er. Er | |
| habe nicht ins Profil gepasst. Die Polizei riet ihm, für ein paar Wochen | |
| unterzutauchen. Er zog für kurze Zeit zu einem Bekannten in die Schweiz. | |
| Die Anfeindungen gegen meinen Onkel dauern an. Eine Frau aus der | |
| Nachbarschaft boxte ihm durch das offene Autofenster ins Gesicht, als er | |
| mit dem Wagen der Reinigungsfirma, für die er arbeitet, zu seinem Haus | |
| fuhr. Ein Kollege bei der Reinigungsfirma wurde entlassen, weil er meinen | |
| Onkel angegriffen hatte. Die Frau und der Ex-Kollege wissen, dass mein | |
| Onkel wegen sexuellen Kindesmissbrauchs im Gefängnis saß. | |
| Am frühen Abend im Sommer vor einem Jahr feuert mein Onkel auf der Wiese | |
| hinter seiner Wohnung seinen Gasgrill an. Der Rasen ist saftig grün und | |
| akkurat gemäht. Neben einem Steinplattenweg stehen drei Bäume in gerader | |
| Reihe: Birne, Quitte, Asienbirne Nashi Kumoi. Mein Onkel hat sie gepflanzt. | |
| Der Himmel ist mit dicken Wolken bedeckt. Als mein Onkel anfängt, mit einer | |
| Drahtbürste altes Fett vom Rost zu schrubben, beginnt es zu nieseln. | |
| „Katastrophe, gerade jetzt“, sagt er. Er zerrt von einer Ecke der Wiese | |
| einen Sonnenschirm samt Ständer heran und spannt ihn über dem Grill auf. Er | |
| keucht. Hinter der Blechwand, vor der der Tisch steht, an dem ich sitze, | |
| scheppern in regelmäßigen Abständen Güterwaggons vorbei. | |
| Wir grillen nicht allein. Mein Onkel hat einen Bekannten eingeladen. Er ist | |
| etwa so alt wie er, hat dunkle Locken und trägt blaue Sportshorts. Ich | |
| nenne ihn Karsten. Karsten bringt einen Mann mit, mit dem er zusammenwohnt. | |
| Er ist 24 Jahre alt. Ihn nenne ich Philipp. Karsten und Philipp haben | |
| gerade Besuch. Philipps Schwester und ihr achtjähriger Sohn verbringen das | |
| Wochenende bei ihnen. | |
| Mein Onkel hat Karsten im Gefängnis kennengelernt. Warum Karsten im | |
| Gefängnis war, wisse mein Onkel nicht, behauptet er. Er glaube aber, dass | |
| Karsten etwas Ähnliches gemacht habe wie er. Karsten stellt mir Philipp als | |
| seinen Ziehsohn vor. | |
| Später, nachdem der Besuch weg ist, sagt mein Onkel zu mir, dass Karsten | |
| Philipp schon kenne, seit er elf oder zwölf Jahre alt ist. Da sei bestimmt | |
| schon immer was gelaufen, sagt er. | |
| Philipp sitzt neben mir, als wir essen. Er riecht nach Schweiß und | |
| ungewaschener Kleidung. Er hat lange dunkle Haare. Seine Unterarme sind mit | |
| aufgekratzten Pickeln übersät. Seine Schwester, den Blick die meiste Zeit | |
| gesenkt, wackelt nervös mit den Beinen. Ihr Sohn ist ein fröhlicher, | |
| aufgeweckter Junge. Er hat schulterlange dunkelblonde Haare und trägt ein | |
| T-Shirt mit dem roten Auto aus dem Pixar-Film „Cars“. Er rennt über die | |
| Wiese und wechselt minütlich das Spielzeug. Mein Onkel hat ein | |
| ferngesteuertes Auto und eine bunt leuchtende Kugel, die an summenden | |
| Propellern über das Gras schwebt, aus seiner Wohnung geholt. | |
| ## „Komm vorbei und bring die Jungs mit“ | |
| Nach dem Essen sagt mein Onkel, weil so viele Hähnchenschenkel und Steaks | |
| übrig geblieben sind, werde er morgen wieder grillen. Zu Karsten sagt er, | |
| er könne ja vorbeikommen und die Jungs mitbringen. Das sagt er nicht nur | |
| einmal, sondern mehrmals, so als wolle er sichergehen, dass Karsten es | |
| nicht vergisst. „Welche Jungs?“, frage ich und versuche, möglichst arglos | |
| zu klingen. „Die vom Kinderbauernhof“, antwortet mein Onkel. | |
| Karsten arbeitet auf dem Hof und betreut dort Kinder. Er passe vor allem | |
| auf die Söhne der Besitzerin des Hofes auf, sagt er. Weil die an diesem | |
| Abend nicht da sei, müsse er recht bald nach dem Grillen wieder gehen, weil | |
| er den kleinsten der Jungen ins Bett bringen müsse. Mein Onkel hat vor | |
| einigen Jahren auch auf dem Hof gejobbt. | |
| In der Woche nach dem Besuch bei meinem Onkel lässt mich das Gespräch | |
| zwischen ihm und Karsten nicht los. Ist es nicht vielleicht völlig normal, | |
| dass Karsten die Söhne der Chefin des Kinderbauernhofs zu meinem Onkel | |
| mitnimmt, wenn er auf sie aufpasst? Sehe ich nach dem Besuch bei meinem | |
| Onkel plötzlich grundlos überall gefährdete Kinder? | |
| Ich kann die Gedanken nicht abschütteln. Karstens merkwürdige Beziehung zu | |
| seinem Ziehsohn Philipp. Der Fakt, dass Karsten und mein Onkel sich aus dem | |
| Gefängnis kennen. Die Selbstverständlichkeit, mit der mein Onkel sagt, | |
| Karsten solle doch die Jungs mitbringen. So als würde das regelmäßig | |
| passieren. Und vor allem: die Routine, mit der mein Onkel jahrelang | |
| Kinder missbraucht hat. | |
| Ich beschließe, das Jugendamt der Stadt anzurufen, in der mein Onkel wohnt. | |
| Ich spreche mit einer Sozialarbeiterin und schildere ihr meine Sorgen. Sie | |
| sagt, sie werde meinen Anruf mit ihren Kolleginnen und Kollegen besprechen. | |
| Aber da ich nicht genau wisse, warum Karsten im Gefängnis war, und auch | |
| sonst nicht mehr Details habe, sei alles sehr unkonkret. Sie werde aber | |
| schauen, ob vielleicht noch jemand etwas beobachtet hat. Man könne jedoch | |
| nicht einfach zu dem Hof fahren und die Besitzerin und Mutter der Jungen | |
| damit konfrontieren, ohne mehr zu wissen. | |
| Schon am nächsten Tag meldet sich die Sozialarbeiterin bei mir. Das | |
| Jugendamt habe sich entschieden, mit der Besitzerin des Kinderbauernhofs zu | |
| sprechen und sie darauf hinzuweisen, dass es eventuell Grund zur Sorge | |
| gebe. Das Jugendamt habe Kontakt zur Polizei aufgenommen. Sie fragt mich | |
| nach dem Namen und der Adresse meines Onkels. Ich gebe ihr die | |
| Informationen, bitte sie aber, mich als Quelle anonym zu behandeln. Sie | |
| sagt, sie würden nicht sofort bei meinem Onkel aufkreuzen, um ihn nicht | |
| aufzuscheuchen. Sie sagt auch, das Jugendamt wolle nicht eventuell schon | |
| laufende Ermittlungen der Polizei behindern. | |
| Als ich mich vor ein paar Wochen, ein Jahr nach meinem ersten Anruf, bei | |
| der Sozialarbeiterin nach dem aktuellen Stand in der Sache erkunde, sagt | |
| sie, sie könne und dürfe mir dazu nichts sagen. | |
| Ich rufe die Besitzerin des Kinderbauernhofes an, weil ich wissen will, ob | |
| das Jugendamt meinem Hinweis wirklich nachgegangen ist. Die Frau erzählt | |
| mir, jemand vom Jugendamt sei vergangenes Jahr im Sommer zum Hof gefahren. | |
| Das muss kurz nach meinem Anruf gewesen sein. Man habe ihr gesagt, es hätte | |
| sich jemand gemeldet, der sich Sorgen um ihre Söhne mache. An dem Tag sei | |
| auch Karsten, der Kumpel meines Onkels, auf dem Hof gewesen. Das Jugendamt | |
| habe mit ihm gesprochen und danach Informationen über ihn eingeholt. Das | |
| Ergebnis: Wegen sexuellen Kindesmissbrauchs war Karsten nicht im Gefängnis. | |
| Das sei für sie nichts Neues gewesen, sagt mir die Besitzerin des | |
| Kinderbauernhofes. Sie wisse, dass Karsten im Gefängnis war, wegen | |
| irgendwas mit Autos und Kennzeichen. 20 Minuten spreche ich mit ihr über | |
| Karsten und meinen Onkel. „Für Karsten halte ich meine Hand ins Feuer“, | |
| sagt sie. Er sei ein ganz lieber Mensch, der ihre Söhne wie seine eigenen | |
| liebe. Dass Karsten mit seinem Ziehsohn Philipp ein sexuelles Verhältnis | |
| habe, stimme nicht. Mein Onkel sei einfach schon immer eifersüchtig auf die | |
| beiden gewesen. | |
| Über meinen Onkel verliert die Frau kein gutes Wort. „Er hat immer Fotos | |
| von meinen Söhnen gemacht und ihnen ständig Süßigkeiten geschenkt“, sagt | |
| sie über die Zeit vor ungefähr sechs Jahren, als sie meinen Onkel in den | |
| Ställen auf ihrem Hof arbeiten ließ, nachdem Karsten ihn „angeschleppt“ | |
| hatte. | |
| Eine Mitarbeiterin habe ihr irgendwann gesagt, dass mit dem Verhalten | |
| meines Onkels etwas nicht stimme. Daraufhin fand ein befreundeter Polizist | |
| der Hofbesitzerin für sie heraus, warum mein Onkel im Gefängnis gewesen | |
| war. „Ich habe ihm dann gekündigt, und er hat meinen Hof im Internet | |
| schlechtgemacht“, sagt sie. | |
| ## Das Jugendamt war im vergangenen Sommer bei ihr | |
| Ihre Söhne hat sie Karsten danach trotzdem manchmal noch zu meinem Onkel | |
| mitnehmen lassen. Das überrascht mich. Nachdem das Jugendamt vergangenen | |
| Sommer bei ihr war, habe sie das Karsten jedoch verboten. Von ihm wisse | |
| sie, dass mein Onkel gelegentlich frage, ob er die Jungen mal wieder | |
| mitbringen könne. Karsten sage, mein Onkel tue Kindern nichts mehr. Doch | |
| sicher wissen könne sie selbst das ja nicht. | |
| Vielleicht ist mein Onkel heute kein Täter mehr. Vielleicht haben die | |
| vielen Haftstrafen Wirkung gezeitigt. Ich bin vor einem Jahr mit der | |
| Erwartung zu ihm gefahren, dass er mir ein wenig leidtun würde. Ein Mann, | |
| der seine sexuelle Neigung nicht legal ausleben kann, von seiner Familie | |
| verstoßen, von der Gesellschaft verachtet. Aber er tut mir nicht leid. | |
| Mein Onkel lebt in einer Fantasiewelt, in der Kinder gerne Sex mit | |
| Erwachsenen haben. Er bedauert nicht, dass Dutzende Jungen ihre ersten | |
| sexuellen Erfahrungen unfreiwillig mit ihm gemacht haben. Seine ständige | |
| Rechtfertigung, er habe nie Gewalt angewendet, ist eine traurige | |
| Selbsttäuschung, die er seit Jahrzehnten betreibt, um sich nicht damit | |
| auseinandersetzen zu müssen, dass er ein vielfacher Missbrauchstäter ist. | |
| Mit dieser Rechtfertigung reduziert er die Jungen, die er missbraucht hat, | |
| auf ihre Körper. Die psychischen Folgen, die der Missbrauch für die Jungen | |
| zweifelsohne hatte, scheinen für ihn völlig irrelevant zu sein. | |
| Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft von 1997 zeichnet ein Bild von | |
| meinem Onkel, das seiner Selbstdarstellung widerspricht. Ich habe das | |
| Dokument mit meinem Handy abfotografiert, als ich bei ihm zu Besuch war. In | |
| der Beschreibung der Tat Nummer 15 von 33 steht, mein Onkel soll einem | |
| 13-Jährigen in seiner Wohnung ein Bein gestellt haben, sodass dieser | |
| rücklings auf eine Couch fiel. Dann habe mein Onkel sich auf den Brustkorb | |
| des Jungen gesetzt, dessen Arme unter seine Beine geklemmt, die Hose | |
| heruntergezogen und seinen Penis in den Mund genommen. Der Junge habe sich | |
| gewehrt. Mein Onkel hat diese Tat vor Gericht bestritten. | |
| Und Tat Nummer 13 von 33: Mein Onkel soll mehreren Jungen in seiner Wohnung | |
| Pornos vorgespielt haben. Dann habe er gesagt, wer in seine Wohnung komme | |
| und Filme schaue, müsse auch eine Gegenleistung erbringen. Mein Onkel habe | |
| daraufhin die Wohnungstür abgeschlossen und sich gegenüber den Jungen | |
| aggressiv verhalten. Niemand verlasse die Wohnung, solange ihm keiner einen | |
| runterhole, soll er gesagt haben. Einer der Jungen habe meinen Onkel | |
| schließlich mit der Hand befriedigt. Mein Onkel soll ihm dafür 20 Mark | |
| gegeben haben. Vor Gericht hat er bestritten, den Jungen unter Druck | |
| gesetzt zu haben. Den sexuellen Missbrauch und die Bezahlung dafür gab er | |
| zu. | |
| Mein Onkel muss seit einigen Jahren keine Auflagen mehr erfüllen. Er darf | |
| Kinder in seiner Wohnung haben, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Sein | |
| einfaches und sein erweitertes Führungszeugnis sind eintragsfrei. Beide hat | |
| er mir gezeigt. Eintragungen über Verurteilungen werden nur für eine | |
| bestimmte Dauer in Führungszeugnisse aufgenommen. | |
| Bei Verurteilungen wegen sexuellen Kindesmissbrauchs beträgt diese Frist | |
| zehn Jahre zuzüglich der Dauer der verhängten Freiheitsstrafe. Der | |
| Gesetzentwurf zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder von | |
| Bundesjustizministerin Christine Lambrecht sieht vor, diese Frist auf 20 | |
| Jahre zu verdoppeln. Ein eintragsfreies erweitertes Führungszeugnis ist | |
| Voraussetzung für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Mein Onkel | |
| könnte sich also ohne Probleme einen solchen Job suchen. Auf dem Papier ist | |
| er kein Straftäter mehr. Ich hätte niemals gedacht, dass das möglich ist. | |
| Im Fall meines Onkels lautet die Antwort auf die Frage, wer verhindert, | |
| dass er wieder Kinder missbraucht: niemand. Er hat zwar seine Strafen | |
| abgesessen, doch in seinem Kopf hat sich nichts verändert. Mein Onkel ist | |
| nach wie vor davon überzeugt, nichts falsch gemacht zu haben. Ich kann | |
| nicht verstehen, wie es für einen Mann wie ihn keine strengen Regeln und | |
| Kontrollen geben kann. Sollte er sich doch wieder strafbar machen, wäre das | |
| ein Verbrechen mit Ansage. | |
| Die Bewährungshelferin Andrea Frauendorfer vom Landgericht Landshut | |
| befürwortet das Strafsystem in Deutschland. Sie finde es zwar schwierig, | |
| dass Männer wie mein Onkel nicht unter strengerer Beobachtung stehen, aber: | |
| „Es muss auch jeder die Chance bekommen, die Kurve zu kriegen und straffrei | |
| in der Gesellschaft zu leben.“ Man könne niemandem das ganze Leben lang | |
| vorhalten, eine Straftat begangen zu haben. | |
| Der Besuch bei meinem Onkel hat mich viel über meine eigene Sexualität | |
| nachdenken lassen. Ich bin schwul und habe schon mit 12 oder 13 Jahren | |
| begonnen, mich für Männer zu interessieren. Was hätte ich getan, wenn der | |
| Bekannte meines Stiefvaters, dessen Oberarme ich mir gerne anschaute, oder | |
| der Vater einer Freundin, an dessen Brustbehaarung ich dachte, wenn ich | |
| mich selbst befriedigte, Sex mit mir hätte haben wollen? Ich glaube nicht, | |
| dass ich Nein gesagt hätte. | |
| In den Tagen unmittelbar nach dem Treffen mit meinem Onkel verlaufe ich | |
| mich in seinen Gedankengängen. Es gibt doch sicher Jungen, die sich früh | |
| sexuell ausprobieren wollen, und das auch mit erwachsenen Männern. Doch | |
| dann sehe ich mich als 12- oder 13-Jährigen vor mir, etwas unsicher im | |
| eigenen Körper und mit einer neugierigen, aber nur vagen Vorstellung von | |
| dem, was Sex ist und wie Sex sein sollte. Männer wie mein Onkel nutzen | |
| diese Unsicherheit und Neugier aus. Was sie mit Kindern machen, ist | |
| Missbrauch. | |
| Auf Whatsapp schickt mir mein Onkel seit meinem Besuch regelmäßig Bilder | |
| von seinen Chihuahuas und Videos, auf denen er neben einem Pferd herläuft. | |
| Er hat eine Pflegebeteiligung für das Tier übernommen und will reiten | |
| lernen. Wenn mein Onkel noch einmal ein Kind missbraucht oder | |
| Missbrauchsabbildungen nutzt und dabei erwischt wird, droht ihm lebenslange | |
| Sicherungsverwahrung. „Also darf ich mir nicht mehr die Finger verbrennen“, | |
| hat er mir vor einem Jahr gesagt. | |
| Mein Onkel hat einen Traum: Wenn er eine Million Euro gewänne, würde er | |
| sich einen Pferdehof kaufen. Dort könnten dann Jungen wieder ein- und | |
| ausgehen, sagt er. Aber das sei natürlich alles Quatsch, er wolle ja nicht | |
| für den Rest seines Lebens ins Gefängnis. Er könne jedoch nicht | |
| ausschließen, dass irgendwann wieder etwas passieren könnte: „Man weiß ja | |
| nie, in was für eine Situation ich komme, in der es sich ergeben könnte.“ | |
| 14 Nov 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Sebastian Danz | |
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| Helmut Kentler | |
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