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# taz.de -- Pflegekinder an Pädophile vermittelt: Jugendhilfe im Sumpf
> Der Abschlussbericht zum sogenannten Kentler-Fall legt ein ganzes
> Netzwerk offen: Bundesweit vermittelte das Land Berlin Pflegekinder an
> Pädophile.
Bild: Helmut Kentler 1971
Berlin taz | Mit coronabedingter Verspätung wurde nun in Berlin der
Abschlussbericht zum sogenannten [1][Kentler-Fall] vorgestellt. Ein
ForscherInnenteam der Universität Hildesheim war der Frage nachgegangen,
wie es dazu kommen konnte, dass der (West)Berliner Senat Pflegestellen für
Kinder und Jugendlichen bei vorbestraften pädosexuellen Männern
einrichtete.
Der Fall, benannt nach dem einflussreichen Pädagogen [2][Helmut Kentler,]
bezeichnet eines der drastischsten Beispiele für Behördenversagen in der
Nachkriegsgeschichte. Als sich im Zuge einer ersten wissenschaftlichen
Aufarbeitung auch Betroffene meldeten, wurde offenbar, dass mindestens eine
der Pflegestellen dreißig Jahre lang bestanden hatte – obwohl es wiederholt
Hinweise auf die sexualisierte Misshandlung von Pflegekindern durch den
Pflegevater gegeben hatte.
Die Frage nach der konkreten Verantwortung des Westberliner Jugendsenats
stand im Raum, und auch, ob es neben den beiden bisher bekannten
„Pflegefamilien“ in Berlin noch weitere Betroffene gab. Die neuesten, im
Abschlussbericht festgestellten Forschungsergebnisse, bestätigen das. Mehr
noch: Die WissenschaftlerInnen aus Hildesheim haben die Existenz eines
bundesweiten Netzwerks zum Zweck des Kindesmissbrauchs aufgedeckt, dessen
Schlüsselfiguren in Berlin lebten, das aber bundesweit agierte.
Im Zuge der Forschungen, für das sich das Team aus Hildesheim durch eine
Vielzahl an Akten und Schriftstücken las und zahlreiche ZeitzeugInnen
befragte, meldete sich auch ein dritter Betroffener. Er war als
Jugendlicher Anfang der 1980er Jahre in einer Pflegestelle in
Westdeutschland untergebracht, die von einem Berliner Bezirksamt geführt
wurde.
Der Pflegevater war ein Professor der Sozialpädagogik, der noch andere
Jugendliche betreute. Nach Auskunft des Betroffenen erlebten er und die
anderen Kinder dort Übergriffe und wurden auch mit kinderpornografischem
Material konfrontiert. Der Pflegevater soll Kentler gekannt und seine
pädagogischen Positionen geteilt haben – ein weiterer Beleg dafür, wie
einflussreich der schillernde Pädagoge war.
Der Betroffene befreite sich aus eigener Initiative aus der Pflegestelle –
nachdem seine Beschwerden und Hilferufe vom zuständigen Berliner Bezirksamt
ignoriert worden waren. Zudem legten die ForscherInnen offen, dass es sich
bei den betreuten Kindern keineswegs um „Straßenkinder“ oder sozial
verwahrloste „Trebegänger“ handelte – damit werden endgültig Helmut
Kentlers Behauptungen widerlegt, mit denen er solcherlei
Kindesmissbrauchsstellen als progressive [3][pädagogische Experimente]
ausgab.
Jugendsenatorin Sandra Scheeres (SPD) dankte den Betroffenen für ihre
Mitwirkung an der [4][Aufarbeitung] und bat die ehemaligen Pflegekinder um
Verzeihung für das Versagen der staatlichen Jugendhilfe. Sie versprach:
„Das Land Berlin wird Verantwortung übernehmen“, und bat den Betroffenen
Gespräche über eine finanzielle Entschädigung an.
Nachdem Berlin zuletzt eine Prozesskostenhilfe für zwei Betroffene
verweigert und eine Aufhebung der Verjährung für diesen Fall ausgesetzt und
sogar mit einer Klageerwiderung sämtliche Vorwürfe abgestritten hatte,
hatten Betroffenenvertreter und Beratungsstellung harte Kritik am Umgang
des Berliner Senats mit den Betroffenen geübt. Scheeres versprach nun: „Es
wird bezahlt.“ Man habe sich inzwischen mit dem Finanzsenat geeinigt und
eine Rechtsanwaltskanzlei damit beauftragt, zügig Gespräche mit den
Betroffenen zu beginnen. Außerdem, so Scheeres, habe das Land Berlin eine
Studie zum Pflegekinderwesen beauftragt, um zu untersuchen, ob auch das
aktuelle System anfällig für Missbrauchsstrukturen sei.
Fachstellen aus Berlin forderten in einer gemeinsamen Stellungnahme,
Schutzkonzepte in allen Jugendämtern einzurichten, wie sie in den
Einrichtungen der Kinder-und Jugendhilfe längst Pflicht seien. Die
Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen
Kindesmissbrauchs, Sabine Andresen, empfiehlt, dass die
Jugendministerkonferenz eine bundesweite Aufarbeitung zu
Gewaltverhältnissen im Pflegekinderwesen und der Heimerziehung auf den Weg
bringen müsse, um die vorliegenden Hinweise auf ein weit verzweigtes
Netzwerk weiter aufarbeiten zu können.
15 Jun 2020
## LINKS
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[4] /Paedosexuelle-in-Berlin/!5362992
## AUTOREN
Nina Apin
## TAGS
Helmut Kentler
Jugendhilfe
Kindesmissbrauch
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