| # taz.de -- Filmprogramm neben der Berlinale: Kino mit Pferdeschwanz | |
| > Die Berlinale läuft im März ohne Publikum. Immerhin bietet die | |
| > unabhängige Woche der Kritik ihr Film- und Diskussionsprogramm im | |
| > Internet an. | |
| Bild: Surrealistisch bunt: Ungewöhnliche Bilder im Fim „Horse Tail“ | |
| Vor ziemlich genau einem Jahr [1][endete die 70. Berlinale], nur wenige | |
| Tage bevor die Coronapandemie das öffentliche Leben, vor allem auch das | |
| kulturelle, abrupt stoppte. Daran hat sich ein Jahr später – abgesehen von | |
| einer sommerlichen Erholungspause – nichts geändert, mit Folgen, die auch | |
| zu einer Berlinale der anderen Art führen, einem Filmfestival fast unter | |
| Ausschluss des Publikums. | |
| Fast, denn eine Möglichkeit, ein bisschen Berlinale-Feeling auf dem | |
| heimischen Sofa zu haben, gibt es in diesen Tagen: die Woche der Kritik, | |
| die zum siebten Mal vom Verband der Deutschen Filmkritik ausgerichtet wird. | |
| Die anderen beiden großen Filmfestivals, Cannes und Venedig, haben schon | |
| lange eine solche Woche der Kritik, ein Programm, das ausschließlich von | |
| Filmkritikern zusammengestellt ist: In Cannes gibt es seit 1962 die | |
| „Semaine de la critique“; die erste „Settimana della critica“ von Vened… | |
| folgte 1984. In Berlin läuft die Woche der Kritik parallel zur, aber ohne | |
| Zusammenarbeit mit der Berlinale. Auch die Filme sucht das Team unabhängig | |
| von den zahlreichen Einreichungen bei der Berlinale aus. | |
| Den Auftakt bildet traditionell eine Konferenz, die sich am 27. und 28. | |
| Februar diesmal mit der Frage beschäftigt, die momentan alle Bereiche der | |
| Kultur umtreibt: Wie geht es nach Corona weiter, welche Rolle kann und muss | |
| die Kultur in Zeiten der Pandemie spielen, wie kann speziell das Kino | |
| Haltung zeigen? | |
| ## Befruchten und inspirieren | |
| Unter dem Titel „Konsequentes Handeln, inkonsequentes Kino“ diskutieren | |
| Filmemacher, Autoren und Kritiker – am Samstag um 15.40 Uhr zum Beispiel | |
| die in Berlin lebenden Filmemacher Philip Scheffner und Merle Kröger | |
| zusammen mit der Philosophin Juliane Rebentisch und dem Filmkritiker Victor | |
| Guimarães – die Frage, wie Kunst und Kritik sich befruchten und inspirieren | |
| können. | |
| Diskurse bilden auch das Rückgrat der eigentlichen Woche der Kritik. Jeden | |
| Abend um 20 Uhr sprechen meist die Regisseure der Filme mit Gästen und | |
| Kritikern zu unterschiedlichen Themen. Während die Diskussionen täglich um | |
| 20 Uhr gestreamt werden und anschließend abrufbar sind, stehen die | |
| dazugehörigen Filmprogramme schon ab dem 27. Februar online. Dem bewährten | |
| Prinzip der Woche der Kritik folgend, werden meist zwei Filme | |
| gegenübergestellt, Paarungen, die im besten Fall ungewohnte und | |
| inspirierende Kontraste öffnen. | |
| Gleich zum Auftakt am 1. März wird unter dem Titel „Auf Spuren“ diskutiert, | |
| im dazugehörigen Filmprogramm ist zunächst die chilenische Dokumentation | |
| „The Sky Is Red“ zu sehen, in der sich die Regisseurin Francina Carbonell | |
| auf geradezu forensische Spurensuche begibt. Sie forscht den Ursachen und | |
| Folgen eines Brandes im Gefängnis von Santiago nach, der 2010 tobte und | |
| Fragen über die Art und Weise aufwirft, wie Gesellschaften mit Menschen | |
| umgehen, die für Jahre oder gar den Rest ihres Lebens inhaftiert sind. | |
| ## Erzählerisch aufregend | |
| Auf andere Weise fragt der indische Regisseur Suneil Sanzgiri nach der | |
| Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart. In seinem aus Archivmaterial | |
| komponierten Essayfilm „Letter From Your Far-Off Country“ erzählt er von | |
| den Wirren des Kaschmir-Konflikts, der seit der Gründung Indiens und | |
| Pakistans des Verhältnis der Länder bestimmt. | |
| Der stilistisch und wohl auch erzählerisch aufregendste Film der | |
| diesjährigen Woche der Kritik ist im Programm „Vom Suchen und Finden des | |
| Kinos“ zu sehen. In „Horse Tail“ erzählt das indische Regieduo Manoj Leo… | |
| Jahson und Shyam Sunder von einem Mann, der eines Morgens nach einem wilden | |
| Traum mit einem Pferdeschwanz aufwacht, den allerdings nur er sehen kann. | |
| Fortan macht er sich auf die Suche nach Antworten, sucht Magier und | |
| Mathematiker auf, gerät schließlich an einen Psychiater, dessen | |
| freudianische Lesart der Ereignisse allerdings auch unbefriedigend bleibt. | |
| Doch klarer Antworten bedarf das Kino eben nicht immer, erst recht nicht, | |
| wenn durch grelle Farben, konstant verkantete Kameraeinstellungen und | |
| pulsierende Töne eine surreale Atmosphäre entsteht, die oft mehr einem | |
| psychedelischen Rausch ähnelt als einem narrativen Film. | |
| ## Realismus verfälscht Realität | |
| Auf andere Weise überzeugt der kanadisch-mexikanische Film „Fauna“, der im | |
| Programm „Der große Bluff“ zu sehen ist. Mit dem Klischee der Narcocultura, | |
| der durch den Netflix-Hit „Narcos“ neu belebt wurde, beschäftigt sich | |
| Nicolás Pereda in seinem Film, in dem der aus „Narcos“ bekannte | |
| Schauspieler Francisco Barreiro einen Schauspieler spielt, der aus „Narcos“ | |
| bekannt ist. | |
| Aus dieser selbstreflexiven Konstruktion entwickelt sich ein Spiel um | |
| Realität und Fiktion, das andeutet, wie eine realistisch anmutende, aber | |
| eben doch fiktiv aufbereitete Serie zu einer verfälschten Wahrnehmung der | |
| mexikanischen Realität führt. | |
| Schließlich sei noch auf einen deutschen Film hingewiesen, den man als | |
| willkommenen Beitrag zu einer Tendenz im deutschen Kino betrachten kann: | |
| Caroline Pitzens „Freizeit oder: Das Gegenteil von Nichtstun“ gehört zum | |
| diskursiven Kino, wie es auch die Regisseure [2][Julian Radlmaier] oder | |
| [3][Max Linz] praktizieren. | |
| ## Leben, Sexismus, Revolution | |
| Bei Linz’ Langfilmdebüt „Ich will mich nicht künstlich aufregen“ | |
| assistierte die Regisseurin und folgt in ihrem ersten Langfilm ähnlichen | |
| Spuren, mit einem Unterschied: Laien sind hier zu sehen, junge Menschen aus | |
| Berlin, die in langen Szenen über Leben, Sexismus und die Notwendigkeit der | |
| Revolution diskutieren. | |
| Marx wird zitiert, der sozialistische Filmklassiker „Kuhle Wampe“, vor | |
| allem aber der 1991 jung verstorbene Schriftsteller Ronald M. Schernikau, | |
| der 1980 in einer Fernsehsendung die Frage aufwarf, ob die von der Schule | |
| vermittelten Werte gesellschaftliche Veränderung fördern oder eher zur | |
| Unterstützung des Status quo anleiten. | |
| Gerade in Zeiten der Pandemie, in denen Filmemacher und andere Künstler so | |
| sehr ihre Systemrelevanz betonen, dass sie gerne vergessen, sich kritisch | |
| mit dem (Förder-)System auseinanderzusetzen, von dem sie abhängig sind. | |
| Auch das eine Frage der Haltung und Konsequenz, die im Rahmen der Woche der | |
| Kritik diskutiert werden dürfte. | |
| 26 Feb 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Michael Meyns | |
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