| # taz.de -- Buch über Integrationskurse: Integriert euch doch selber | |
| > Das Kunst- und Rechercheprojekt „Man schenkt keinen Hund“ zeigt wie sehr | |
| > Lehrmaterialien Ideen von „Leitkultur“ und „Deutschsein“ transportier… | |
| Bild: Linke Seite: „Das Gemüse ist nicht frisch“. In Deutschland, Collage … | |
| Der Begriff „Integration“ fungiert in Deutschland ja bekanntlich nicht im | |
| Sinne von Rechten, Ressourcen und Zugängen in der Migrationsgesellschaft – | |
| oder gar im Sinne des längst überfälligen Verlernens von Rassismen seitens | |
| der Dominanzgesellschaft. Als das Gerede von der Integration in den 2000ern | |
| in staatliche Maßnahmen wie „Integrationsnachweise“ und „Integrationskur… | |
| verstetigt wurde, brachte es Kanak TV mit dem Kurzfilm [1][„Das Märchen von | |
| der Integration“] (2002) stattdessen auf den Punkt: „Integration erklärt | |
| Migrant:innen erst zum Problem.“ | |
| Wie sich dieser Integrations-Komplex in konkreten Lehrmaterialen bemerkbar | |
| macht, zeigt die Scriptings-Publikation #47 „Man schenkt keinen Hund – | |
| Nicht-einvernehmliche Texte, Interviews und Bildstrecken zu den | |
| ‚Integrationskursen‘“. Das Buch, schon vor einiger Zeit herausgegeben von | |
| der Künstlerin Christine Lemke in Zusammenarbeit mit Achim Lengerer | |
| (Scriptings Verlag und Projektraum), versammelt 25 Beiträge, u. a. von | |
| María do Mar Castro Varela, Aïcha Diallo, Bahati Glaß, Nanna Heidenreich, | |
| Katrin Mayer, Kınay Olcaytu Okzidentalismus-Institut, Mithu Sanyal und | |
| Aretha Schwarzbach-Apithy. | |
| Die Publikation ist Teil eines Langzeitprojekts, zu dem auch eine | |
| Ausstellung gehört, die 2016 in den Räumen von [2][Scriptings], sowie 2017 | |
| bei [3][M.1] in Hohenlockstedt gezeigt wurde. Eine Variante des Projekts | |
| auf Französisch läuft noch bis Ende Mai diesen Jahres als Teil der | |
| Ausstellung [4][“Qalqalah: More Than One Language“] bei La Kunsthalle | |
| Mulhouse in Frankreich, bei der auch ein Scriptings-Talk mit Lengerer | |
| stattfinden wird. | |
| ## Kulturelle Erziehungsmaßnahmen | |
| Die Beiträge reagieren auf offiziell vom Bundesamt für Migration und | |
| Flüchtlinge zugelassene Deutschlehrwerke für „Integrationskurse“. Tenor: | |
| „Schlechtes Benehmen“, „Lieber Ausbildung statt Studium“, „schmutzige | |
| Kleidung geht gar nicht“: Die Materialien laufen quasi über mit | |
| „Leitkultur“-Mind-Set, Platzzuweisungen am Arbeitsmarkt und visuell in | |
| Szene gesetzter Differenz. Mal mehr, mal weniger subtil. | |
| Als Transportierer eines kulturalisierten Rassismus – die kritische | |
| Migrationsforschung nennt das Phänomen auch „Rassismus 2.0“ oder | |
| „Neo-Rassimus“ – dient „Integrationsunterricht“ also eher der ewigen | |
| Erzählung von kulturellen Unterschieden. Wie es die Erzieherin und | |
| Erziehungswissenschaftlerin Aretha Schwarzbach-Apithy im Gespräch mit | |
| Christine Lemke beschreibt, darf Differenz hier wiederum nicht als Zeichen | |
| von Vielheit existieren, sondern wird in den Beispielszenen in den Büchern | |
| stets als Problem verstanden, das per Anpassung überwunden werden muss. | |
| ## Deutsch = Weiß und andere falsche Gleichungen | |
| Abgesehen von der visuellen In-eins-Setzung von Deutschsein und Weißsein, | |
| die sich an den Zeichnungen im Lehrmaterial ablesen lässt und in der sich | |
| wiederum tradierte biologisierte Aufladungen von Rassismus spiegeln, lassen | |
| sich kulturelle Erziehungsmaßnahmen im Übrigen auf bürgerliche Pädagogiken | |
| aus der Kolonialzeit zurückführen. Die Illustrationen der Era „Die Bürde | |
| des weißen Mannes“, die koloniale Subjekte als Kinder karikierten, sind | |
| bekannt. Stichwort „Zivilisierungsauftrag“. | |
| Unter diesem Gesichtspunkt ist es auch bezeichnend, dass in den meisten | |
| Unterrichtsbüchern überhaupt Zeichnungen statt Fotos verwendet werden, was | |
| die Infantilisierung von lernenden Erwachsenen quasi fortschreibt, wie es | |
| Susanne Holschbach in ihrem Beitrag herausarbeitet. | |
| Interessant ist auch der im Buch gewählte der Ansatz der „(No) | |
| Bildbeschreibung“ – also einer Bildbeschreibung ohne Abdruck des | |
| dazugehörigen Bildes. Die Frage, ob essentialisierende Bilder immer im | |
| Gestus eines wiederholenden Zeigens zurückgewiesen werden müssen, ist eine | |
| zentrale Frage der postkolonialen Kritik, die sich auch die | |
| Herausgeber:innen zu Beginn des Projektes stellten. | |
| Die „Source Materials“ sind in der Ausstellungsdokumentation einsehbar, im | |
| Buch stehen dafür aber textuelle und visuelle Wege der Dekonstruktion und | |
| vor allem auch der Rekonstruktion im Zentrum. Insofern ist „(No) | |
| Bildbeschreibung“ eine überlegt reparative Geste, die Gegenerzählungen und | |
| subversive Auseinandersetzungen mit nationalisierten Bildgeschichten und | |
| ihren Konventionen ins Zentrum stellt. | |
| Designed wurde das Buch von Janine Sack, die 2017 gemeinsam mit Christian | |
| Küpker für das neue Layout der print-taz verantwortlich war. Bei EECLECTIC, | |
| ihrem 2018 gegründeten Verlag für digitale Publikationen im Bereich | |
| visueller Kultur, erschien dann Ende letzten Jahres die E-Book Version von | |
| „Man schenkt keinen Hund“ als vergünstigte Variante, die die textbasierten | |
| Beiträge der Printfassung enthält. Die künstlerischen Beiträge zum | |
| Ausstellungsprojekt wie [5][Collagen] von Kınay Olcaytu | |
| Okzidentalismus-Institut oder das großartige Hörspiel [6][„Lost in | |
| Representation“] von Serge Fouha und Jelka Plate sind im Übrigen über die | |
| Ausstellungsdokumentation auf der website von Scriptings zugänglich. | |
| ## Des-Integrationskurs | |
| Zur dekonstruktiven Analyse kommen im Buch also auch viele Neu- und | |
| Umschreibungen hinzu: wie wäre es z. B. mit einem | |
| [7][“Anti-Integrationsschal“] der Künstlerin Romy Rüegger? Oder der | |
| Umwandlung der Integrationskurse in „Survival Kits“ für das Leben und | |
| Überleben in Deutschland, inklusive Navigationssystem für Kontakt mit | |
| strukturell diskriminierenden Behörden, wie Bahati Glaß es in ihrem Beitrag | |
| „Im Ausgrenzungskurs“ vorschlägt. | |
| Wie Glaß unterrichtet auch Christine Lemke Deutsch als Fremdsprache. 2005 | |
| sahen sie sich als Lehrende plötzlich mit einer zweiten Ebene des | |
| Integrationsapparates konfrontiert, der sich nicht nur an die | |
| Teilnehmenden, sondern auch an die Lehrenden richtet: Aus Sprachkursen | |
| sollten „Integrationskurse“ werden. | |
| Sprachlehrer_innen sahen sich also plötzlich mit dem Auftrag konfrontiert, | |
| quasi stellvertretend für den Staat die Rolle der | |
| pädagogisch-kulturalistischen Komplizenschaft zu übernehmen. Doch nicht | |
| alle Lehrenden lassen sich so einfach in das Netz der | |
| Assimilationsanleitungen einspannen. Sie unterlaufen das System, machen das | |
| Lehrmaterial gemeinsam mit den Teilnehmenden zum Problem – oder geben | |
| Bücher heraus. | |
| 26 Feb 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://kanak-tv.kanak-attak.de | |
| [2] http://scriptings.net/index.php/man-schenkt-keinen-hund/ | |
| [3] https://www.m1-hohenlockstedt.de/en/kuratieren/2017-2018/man-schenkt-keinen… | |
| [4] https://qalqalah.org/en/activities/exhibition-qalqalah-ar-more-than-one-lan… | |
| [5] http://www.scriptings.net/index.php/man-schenkt-keinen-hund/kinay-olcaytu--… | |
| [6] http://www.scriptings.net/index.php/man-schenkt-keinen-hund/serge-fouha--je… | |
| [7] http://www.scriptings.net/index.php/man-schenkt-keinen-hund/romy-rueegger/ | |
| ## AUTOREN | |
| Noemi Molitor | |
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