# taz.de -- Forscher über sozialen Zusammenhalt: „Es gibt Solidaritätsberei… | |
> Die Uni Bremen erforscht den Zusammenhalt der Gesellschaft. Ein Gespräch | |
> über soziale Milieus, Aufstiegschancen und die Folgen der Pandemie. | |
Bild: Zusammenhaltende Menschen, hier bei einer Demo gegen Hetze im Jahr 2012 i… | |
taz: Herr Groh-Samberg, die Uni Bremen ist eine von elf | |
Forschungseinrichtungen, die seit Juni für vier Jahre die wachsenden Risse | |
im gesellschaftlichen Gefüge Deutschlands analysieren sollen. Kümmern Sie | |
sich nur um Bremen? | |
Olaf Groh-Samberg: Nein, wir probieren ein dezentrales Format, um die | |
Kompetenzen unterschiedlicher Standorte einzubeziehen. Zusammen bilden wir | |
das interdisziplinäre Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt, | |
das über 80 aufeinander bezogene Einzelprojekte realisiert, sieben davon in | |
Bremen. | |
Was untersuchen Sie? | |
Wie der gesellschaftliche Zusammenhalt gelebt wird innerhalb und zwischen | |
sozialen Milieus, die in puncto Einkommen und Bildung, aber auch in | |
Hinblick auf zentrale Einstellungen, Weltsichten und kulturelle Werte | |
vergleichbar sind. Im ländlichen Raum findet man sozialstrukturell recht | |
breite Milieus, die viele Gruppen integrieren können. Man kennt sich im | |
Dorf, hat ähnliche Auffassungen, aber unterschiedliche Statusgruppen. Da | |
gibt es den Bürgermeister, Bauern, Handwerker, aber alle sind in Vereinen | |
integriert und gehen gemeinsam in die Kirche. Urbane Milieus definieren | |
ihren Zusammenhalt viel stärker egalitär, man bewegt sich nur unter | |
seinesgleichen, sodass sich eine Stadtgesellschaft in immer kleinere | |
Mikro-Milieus segregiert. | |
Auf der Suche nach innerem Zusammenhalt werden immer neue Grenzen gezogen, | |
wie in den sozialen Netzwerken? | |
Im Internet kennen wir das als Surfen in den Bubbles der eigenen | |
Vorstellungswelt. Diese fortschreitenden Abkapselungen haben sich in der | |
Offline-Welt schon viel eher und stärker ausgebildet, sodass viele Milieus | |
untereinander inzwischen gar keinen Kontakt mehr haben, was sich auch im | |
Berufsleben zeigt. Wir untersuchen nun, ob sich die Milieus zumindest noch | |
akzeptieren oder ganz bewusst voneinander abgrenzen. | |
Funktioniert der gesellschaftliche Zusammenhalt in Bremen? | |
Den Stadtstaat kennzeichnet eine große Ungleichheit beim finanziellen | |
Reichtum und bei der Bildung. Diese soziale Spaltung spiegelt sich in einer | |
starken Segregation der Stadtteile. Dort findet man teilweise nur ein, zwei | |
Milieus, die in anderen Stadtteilen wiederum gar nicht vorkommen. Auch im | |
Vergleich zu anderen Großstädten ist die soziale Durchmischung in Bremen | |
unterdurchschnittlich, gerade bei Kindern. | |
Woran liegt das? | |
Bremen ist Spitzenreiter unter den Ländern, was die Armutsquote betrifft, | |
hat aber auch keinen geringen Reichtum. Das ist nichts Neues, aber seit 30, | |
40 Jahren wird die Ungleichheit zwischen Arm und Reich immer größer. In | |
Bremen geschieht das besonders drastisch, weil die Armut hier besonders | |
stark zugenommen hat. Das zeigt sich in immer größeren Unterschieden | |
zwischen den reichen und immer ärmeren Stadtteilen. | |
Wie ist es um die Aufstiegs- und Abstiegschancen bestellt? | |
In den 1980er-, 1990er-Jahren gab es nicht wenige Menschen in untersten | |
Einkommensgruppen, die aus der Armut herausgekommen sind. Die | |
Aufstiegsmobilität hat seither stark abgenommen. Ein wenig zugenommen hat | |
hingegen der Abstieg von Menschen aus der unteren Mittelschicht in die | |
Armut. Gering gestiegen auch ist die Zahl derer, die aus der oberen | |
Mittelschicht zu den sehr Wohlhabenden aufsteigen. | |
Der Sozialpsychologe Klaus Boehnke von der Jacobs University kam zum | |
Ergebnis, in Bremen sei der gesellschaftliche Zusammenhalt sehr gut. | |
Das gesellschaftliche Klima in Bremen ist bei Weitem noch nicht so roh und | |
rau wie in manchen ostdeutschen Regionen oder Ruhrpott-Städten. Und es gibt | |
den empirischen Befund, dass die Toleranz für andere Kulturen in Bremen | |
stärker ausgeprägt ist als in anderen Städten. | |
Das liberale hanseatische Bürgertum ist also keine Fantasie? | |
In Bremen gibt es ein überdurchschnittliches Interesse, Gegensätze | |
ausgleichen zu wollen. Das trägt dazu bei, dass die ökonomische | |
Ungleichheit sich nicht so stark in politische und kulturelle Abgrenzung | |
übersetzt, weswegen auch die AfD in Bremen nicht so superstark ist. Wir | |
haben aber auch eine langjährige Beteiligung der SPD an der Regierung und | |
trotzdem diese Probleme. | |
Oder gerade deshalb? | |
Jedenfalls muss man fragen, wie lange hält eine Stadtgesellschaft eine so | |
starke soziale und ökonomische Polarisierung aus, wie lange sind die | |
Beteuerungen des Bürgertums, wie lange ist die Regierungspolitik noch | |
glaubwürdig, wenn sich an der wachsenden Armut nichts ändert? Ich wundere | |
mich, warum trotz des erklärten Willens, etwas dagegen tun zu wollen, so | |
wenig rumkommt. | |
Sie bleiben skeptisch, was den Zusammenhalt angeht? | |
Häufig werden nur die Durchschnittswerte der Einstellungen der Menschen | |
gebildet. Wenn fürs Vertrauen in den gesellschaftlichen Zusammenhalt ein | |
mittlerer Wert herauskommt, kann das bedeuten, fast alle Befragten haben so | |
ein mittleres Vertrauen. Es kann aber auch bedeuten, die eine Hälfte hat | |
ganz großes, die andere gar kein Vertrauen. Wir schauen in unserer | |
Forschung nun eher auf solche Spaltungen, aber auch auf die Praktiken der | |
Menschen, untersuchen also, was tun Menschen tatsächlich für den | |
gesellschaftlichen Zusammenhalt. | |
Oder wie schaden sie ihm? | |
Nehmen wir die Gruppe kosmopolitischer Orientierter. Sie sind gut gebildet, | |
stehen der Globalisierung positiv gegenüber, unterstützen | |
Willkommenskultur, setzen sich für Nachhaltigkeit und gegen Klimawandel | |
ein, engagieren sich für Gendergerechtigkeit und Diversität – das sind | |
einerseits die Guten. Unsere These ist aber auch: Viele von ihnen sind zu | |
stark auf den eigenen Vorteil bedacht und machen sich nicht klar, dass die | |
Steigerung ihrer Ressourcen auf Kosten anderer geht. | |
Eigentum ist Diebstahl? | |
Nicht nur. Schauen wir auf den Bildungsbereich, der expandiert ja, immer | |
mehr, trotzdem ist die Bildungsungleichheit auch in Bremen weiterhin sehr | |
groß. Weil die, die viel Bildung haben, sich weiterhin viel um ihre eigene | |
Bildung und die der Kinder kümmern. Wir nennen das Statusinvestition mit | |
dem Ziel, selbst gut in der Konkurrenzgesellschaft zu bestehen. Das | |
erschwert aber den Gruppen, die von einem viel geringeren Niveau aus | |
starten, da mithalten zu können. Das ist ein Wettrüsten. | |
Und die Bildungsverlierer? | |
Da gibt es die, die für mehr nationale Abschottung sind, gegen „Genderwahn“ | |
angehen, sich von Political Correctness bevormundet fühlen. Andererseits | |
ist es in diesen Milieus wichtiger, sich an Regeln zu halten, es gibt einen | |
größeren Normkonformismus als etwa unter Akademikern, die sich durch | |
individuelle Freiheit definieren. Diese beiden Einstellungen funktionieren | |
gut nebeneinander, wenn man sich nur im eigenen Stadtteil bewegt und nur | |
mit seinesgleichen verkehrt – und dabei aus den Augen verliert, dass es | |
andere Milieus gibt. Die Lebenswirklichkeit vieler Bevölkerungsgruppen wird | |
im öffentlichen Diskurs nicht mehr abgebildet, gerade den geringer | |
Qualifizierten fehlt ein politisches Sprachrohr. Die Gefahr ist, dass der | |
Rechtspopulismus das zu nutzen versucht. Das ist das Ergebnis von | |
Ungleichheit und Segregation. | |
In Ihrem Konzept steht, Sie wollen den direkten Dialog mit der ganzen Stadt | |
führen. | |
Wir wollen ausführliche Einzelinterviews mit Bürgern in ausgewählten | |
Stadtteilen führen, auch mit Schüler- und Bevölkerungsgruppen in | |
Werkstätten ins Gespräch kommen und dort unsere Forschungsergebnisse | |
diskutieren, etwa in Gröpelingen. | |
... und in Schwachhausen? | |
Geplant ist, Menschen aus verschiedenen Stadtteilen wieder | |
zusammenzubringen. Der erwünschte Effekt wäre, dass man sich kennen- und | |
verstehen lernt. Leicht führen solche Begegnungen aber auch zu Abgrenzung | |
und Bestätigung von Vorurteilen. | |
Fördert Corona den gesellschaftlichen Zusammenhalt oder schadet das Virus | |
ihm? | |
Ich glaube, dass es ein Bedürfnis nach Solidarität in allen | |
Bevölkerungsschichten gibt und das wurde ausgelebt im ersten Lockdown. | |
Selber Rücksicht zu nehmen und zu helfen, dafür war die Bereitschaft sehr | |
groß. | |
Weil das im kapitalismusbedingten Egoismus-Alltag verdrängt werden muss? | |
Genau. In unserer neoliberalen Welt bietet sich dazu kaum eine Chance. Die | |
Solidaritätsbereitschaft wurde aber nicht in konkrete Politik aufgenommen, | |
die Anfangseuphorie blieb ungenutzt. Man hätte umgehend Zeichen setzen und | |
etwa Pflegeberufe finanziell deutlich besser stellen können. | |
Fördert die Coronapolitik soziale Spaltung? Statt eines Miteinanders wird | |
Social Distancing propagiert. Statt gesellschaftliche Teilhabe zu fördern, | |
werden ihre Orte geschlossen. | |
Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist es absolut fatal, dass jetzt | |
die Familien eine viel größere Rolle bei der Bildungsvermittlung spielen, | |
weil so Kinder aus weniger gebildeten Familien noch weiter abgehängt | |
werden. Die langfristigen Folgen können wir heute noch nicht absehen. Ich | |
glaube, Corona hätte einen positiven Effekt haben können, wenn die Politik | |
die Solidaritätsbereitschaft mehr genutzt hätte. | |
4 Jan 2021 | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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