| # taz.de -- Immaterieller Reichtum: Die schönen Dinge des Lebens | |
| > Schon als Kind konnte sich unsere Autorin für vieles begeistern. | |
| > Besonders für Worte und all die Künste, die es eben nicht zu kaufen gibt. | |
| Bild: Kurzes Glück: Gänseblümchen verwelken schnell, auch als Kranz auf dem … | |
| Mir gefallen schöne Sachen, und schöne Sachen haben einen Preis. Als ich | |
| klein war, mochte ich Blumenketten aus Gänseblümchen. Ich habe die zarten | |
| Stiele mit den Fingernägeln aufgeschnitten und dabei bemerkt, dass die | |
| Blümchen sehr schnell ihre Köpfe hängen lassen. Das war der Preis für das | |
| Glück, einen schönen Blumenkranz auf dem Kopf zu tragen. Ich fand den Preis | |
| angemessen. Später, als ich glaubte, schön sein bedeute blond sein, sprühte | |
| ich mir billige Farbe aus der Drogerie in die Haare. Der Preis war eine | |
| juckende Helmfrisur. Auch teuer: schöne Kleidung, schönes Essen, schönes | |
| Wohnen. Aber am allerschönsten fand ich [1][immer die Künste.] | |
| Leute, die schauspielern, malen, singen, filmen, tanzen, Leute, die schöne | |
| Kleider machen. Und vor allem die Leute, die schreiben. Ich dachte: Das | |
| muss das beste Leben sein. Wenn es dein Job ist, das Schöne aus der Welt | |
| herauszuschälen, entgegen allen Hässlichkeiten. Ich kannte bloß keine | |
| Person, die so einem Job nachging. Schönheit war Hobby oder Luxus, aber mit | |
| schönen Sachen arbeiten kostet. Die Sorglosigkeit der Eltern. Tickets, | |
| bezahlt mit sozialem und kulturellem Kapital. Und ganz reales Geld, oft | |
| mehr, als der Job einbringt. | |
| Heute kenne ich ein paar Leute, die schöne Sachen machen, beruflich. Sie | |
| sind selten reich an Geld, aber sie sagen oft „Kennst du …“ gefolgt von | |
| Namen und Werken, die ich nicht kenne. Früher hätte ich versucht, meine | |
| Leerstellen wegzunicken. Ich hätte mir ausgerechnet, wie lange ich brauchen | |
| würde, die Löcher zu stopfen und alles aufzuholen, den Kanon, das Kapital. | |
| Und ich hätte dabei ständig versucht, die Balance zu halten auf dem | |
| schmalen Grat zwischen Arroganz und Selbstbewusstsein. | |
| Heute sage ich: „Nein, kenne ich nicht.“ Ich habe keine Zeit, | |
| hinterherzurennen und gleichzeitig zu balancieren. Vielleicht stehen an | |
| meinen Leerstellen einfach andere Dinge. Ich habe ein Leben lang Wörter | |
| aneinandergereiht, im Kopf, auf Papier, zwischen den Zähnen. Jetzt bin ich | |
| sicher, dass ich hier richtig bin. Hier, bei den schönen Sachen. | |
| Es ist gut, dass Schönheit oft kostenlos ist. Ein Schatten, eine Farbe, ein | |
| Zufall, ein Satz. Man muss die Welt so sehen können, besonders, wenn man | |
| wenig Ressourcen hat. Man muss sich aber nicht damit zufriedengeben. Wir | |
| reden viel von Privilegien und Demut, manchmal vergessen wir dabei | |
| Verhältnismäßigkeiten. Dass wir nicht nur Glück hatten, sondern auch gut | |
| sind. Dass es nicht die untere Mittelschicht ist, die zuerst abgeben muss. | |
| Dass uns wesentlichere Dinge Demut lehren als die Tatsache, nichts von | |
| Thomas Mann gelesen zu haben. Dass wir nicht nur dazugehören zu denen, die | |
| schon da sind, sondern längst gehören, eigenständig, dass wir mehr als | |
| Zusatz sind. [2][Dass „Diversity“] nicht da ist, um andere zu schmücken, | |
| sondern uns reicher zu machen. Dass die schönen Sachen für alle sein | |
| sollten – nicht nur als Güter zu kaufen, sondern auch als Leben zu haben. | |
| 7 Jul 2021 | |
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| Lin Hierse | |
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