# taz.de -- Psychiater zu Gewöhnung an Corona: „Mitleid ist eine erschöpfli… | |
> In der Krise schalten wir von anfänglichem Zusammenhalt auf Selbstschutz, | |
> sagt Stressforscher Mazda Adli. Nötig sei eine neue Wertediskussion. | |
Bild: Dankesbekundung an einem Geschäft Ende März | |
taz: Herr Professor Adli, auf dem Weg zu diesem Gespräch fiel mein Blick | |
auf eine Zeitschrift, die mit Bezug auf Corona titelt: „Wie wir lernten, | |
Pause zu machen“. Hat uns Corona aus Ihrer Sicht eine Pause beschert? | |
Mazda Adli: Ich glaube, Pause ist das falsche Wort. Es gibt viele | |
Berufsgruppen, etwa im medizinischen Sektor und in anderen | |
Versorgungsbereichen, für die Corona keineswegs eine Pause bedeutet. Auch | |
wer im Homeoffice tätig war oder ist, hat alle Hände voll zu tun. Und | |
diejenigen, deren Geschäfte lahmgelegt wurden, etwa Gastronomen, hatten mit | |
anderen Dingen zu kämpfen: Man muss den Alltag anders organisieren, vielen | |
geht das Geld aus. Mir begegnet in meiner beruflichen Praxis kaum jemand, | |
der das als Pausenmodus erlebt. Höchstens vielleicht im öffentlichen | |
Alltag, wo für einen urbanen Raum zeitweise eine gespenstische Ruhe | |
herrschte. | |
In der Zeit des Lockdown wurde – auch in der taz – viel darüber spekuliert, | |
ob er auch positive Aspekte hat, uns „runterfahren“ lässt. Hat er? | |
Es gab einen reduzierten Aktionsradius, wir sind weniger verreist, hatten | |
weniger Termine, haben die Abende zu Hause verbracht: Die Ereignisdichte in | |
unserem Alltag war geringer. Das war sicher die größte Veränderung für | |
viele Menschen und auch eine relevante. Aber eine Pause im Sinne einer | |
willkommenen Ruhezeit würde ich das nicht nennen. | |
Hat das psychologische Konsequenzen? | |
Da sind mehrere psychologische Effekte gleichzeitig wirksam. Die massive | |
Veränderung des Alltags, die während des Lockdown extrem war und die wir | |
heute noch erleben, bringt uns dazu, Fragen zu stellen: Müssen wir so viel | |
reisen? Muss jede Besprechung vor Ort erfolgen? Was fehlt mir eigentlich an | |
üblicher Alltagsbetriebsamkeit? Gleichzeitig haben uns die Pandemie und die | |
Eindämmungsmaßnahmen aber auch sehr unter Stress gesetzt und tun das immer | |
noch. Ich erlebe als Psychiater sehr deutlich, dass es vielen Menschen | |
damit gar nicht gut geht. Viele sind psychisch belastet. | |
Es gab zu Beginn der Pandemie große Aufmerksamkeit für Menschen, von denen | |
man annahm, dass sie besonders leiden: Obdachlose, Kinder armer Familien, | |
Beschäftigte in Pflegeberufen, denen applaudiert wurde. Das war irgendwann | |
vorbei, nun regt man sich über Feiernde in Parks auf. Warum sind die einen | |
aus, die anderen in den Fokus geraten? | |
In der ersten Zeit hat man eine gesellschaftliche Solidarität erlebt, die | |
schön zu sehen war, sich dann aber aufgelöst hat. Mittlerweile müssen wir | |
befürchten, dass die Gesellschaft fragmentiert und es zu Spaltungen kommt. | |
Aber diese Entwicklung war zu erwarten: In so einer Krise rückt man | |
zunächst zusammen, sitzt im selben Boot, guckt, wer Unterstützung braucht, | |
welche Aufgaben man übernehmen kann. Aber das ist schwer durchzuhalten: | |
Irgendwann schalten wir Menschen dann doch auf den nichtaltruistischen | |
Überlebensmodus, auf Selbstschutz. Mitleid ist eine erschöpfliche Emotion. | |
Zudem tritt ein Gewöhnungseffekt ein: Wir haben uns an den Ausnahmezustand | |
und auch an die Präsenz des Virus gewöhnt. Und das dritte ist: Solche | |
Krisen decken auch Brüche einer Gesellschaft auf, demaskieren ihre | |
Schwächen. | |
Was wäre ein solcher Bruch? | |
Etwa die Trennlinie zwischen Besorgten und Sorglosen, die wir derzeit | |
sehen, aber auch die soziale Ungerechtigkeit, die Unterschiede zwischen arm | |
und reich, die jetzt sichtbarer zutage treten. Wer in Armut lebt, kommt | |
deutlich schlechter durch die Krise, hat ein viel größeres Risiko, unter | |
sozialer Isolation und Einsamkeit zu leiden, und kann wesentlich schlechter | |
eine eigene Hilfsstruktur aufbauen. | |
Aber die Aufmerksamkeit, die anfangs da war, scheint jetzt in Aufregung | |
statt in solidarisches Handeln zu münden. | |
Ja, da wurde ein Momentum verpasst, eine nachhaltigere Diskussion zu | |
erzeugen. | |
Wessen Aufgabe wäre das? | |
Die Aufgabe derjenigen, die eine hörbare Stimme haben. Das ist die Politik, | |
aber auch die Zivilgesellschaft. Natürlich ist es nicht einfach, inmitten | |
eines Krisenmodus eine Wertediskussion einzuflechten, deswegen will ich das | |
auch nicht bewerten. Aber es wäre wünschenswert gewesen, dass etwa ein | |
Bewusstsein bleibt für den Wert der Arbeit, etwa von Pflegepersonal und | |
Supermarktangestellten. Was haben wir am Anfang für ausgeschnittene Herzen | |
gesehen, die an die Türen der Supermärkte geklebt wurden! Es ist schade, | |
wenn das so verpufft. | |
Tragen wir als Medien dafür auch Verantwortung? | |
Ich denke: ja! Alle die, die Diskussionen entfachen oder am Leben halten | |
können, tragen Verantwortung. Sie prägen unsere gesellschaftlichen Werte. | |
Können wir diese Diskussion noch führen oder haben wir die Chance verpasst? | |
Das können wir, aber dazu bräuchte es einen Anstoß. So etwas wie die Rede | |
der Kanzlerin zu Beginn der Pandemie, die ein Weckruf war. | |
Ein neues „Wir schaffen das“? | |
Ja! Und das muss bald kommen. Denn im Herbst und Winter wird der Umgang mit | |
der Pandemie wieder schwieriger werden. Da wird noch einmal viel | |
gegenseitige Unterstützung und Hilfe gebraucht werden. Aber wir haben damit | |
auch noch einmal die Chance, uns in Verbundenheit und Solidarität zu üben. | |
Daran kann eine Gesellschaft wachsen. | |
Ist das in Berlin, in der anonymen Großstadt, schwieriger? | |
Generell ist diese Anonymität ja nichts Negatives. Sie ist für viele ein | |
Grund, in die Großstadt zu ziehen. Aber sie birgt auch ein größeres | |
Einsamkeitsrisiko. Und Einsamkeit erzeugt sozialen Stress, der krank machen | |
kann. Für uns Großstadtbewohner bedeutet das daher: Man muss | |
Verhaltensweisen entwickeln, die vielleicht ungewohnt sind. Etwa bei den | |
Nachbarn klingeln und fragen, ob sie Hilfe brauchen. Das ist ja in den | |
ungeschriebenen Regeln des Großstadtlebens so nicht vorgesehen, ohne dass | |
es brennt. Man muss eigene Hemmungen und soziale Grenzen überwinden. In | |
Berlin lebt etwa ein Drittel der Bevölkerung allein, das sind etwa die | |
Hälfte der Berliner Haushalte. Diese Alleinlebenden haben statistisch | |
gesehen ein größeres Einsamkeitsrisiko. Und ich erlebe auch unter den | |
gelockerten Pandemiebedingungen mehr Menschen, die unter Einsamkeit leiden | |
als vor der Pandemie, und bei denen das zu psychischen Erkrankungen führt. | |
Was wir jetzt als Aufgabe vor uns haben, könnte diesen sozialen Stadtstress | |
nachhaltig reduzieren. Aber es braucht eben einen Anstoß, damit wir uns als | |
Menschen dazu auch legitimiert fühlen. | |
22 Aug 2020 | |
## AUTOREN | |
Alke Wierth | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Stress | |
Solidarität | |
Psychologie | |
Sozialer Zusammenhalt | |
Kolumne Unter Druck | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Forscher über sozialen Zusammenhalt: „Es gibt Solidaritätsbereitschaft“ | |
Die Uni Bremen erforscht den Zusammenhalt der Gesellschaft. Ein Gespräch | |
über soziale Milieus, Aufstiegschancen und die Folgen der Pandemie. | |
Berichterstattung über Corona: Apokalypse und Schulterzucken | |
Eine aktuelle Studie kritisiert die Corona-Berichterstattung der Medien. | |
Aber in einer zweiten Welle wird sich auch die Berichterstattung ändern. | |
Leben mit Corona: Das neue Normal | |
Der Applaus für Pflegekräfte ist verhallt, die Maske Alltag: die neue | |
Coronarealität. Ist das schlecht oder ist der neue Realismus auch eine | |
Chance? | |
Corona in Berlin: Wie geht's denn den Pflegenden? | |
Bisher blieb eine Überlastung der medizinischen Kapazitäten aus. Jetzt | |
läuft die Vorbereitung auf eine mögliche neue Infektionswelle. | |
Die langsame Genesung: Nach Covid-19 | |
Im Fokus der Coronamaßnahmen bislang: Pandemie-Eindämmung und die | |
Behandlung schwer Erkrankter. Aber was ist mit den sogenannten Genesenen? |