| # taz.de -- Erforschung der Coronafolgen: Der stille Frühling der Soziologie | |
| > Die Gesellschaftsforschung hat sich schnell auf die Coronakrise | |
| > eingestellt. Ganz spontan entstanden viele Projekte zu den Corona-Folgen. | |
| Bild: Nicht mehr wegzudenken – ohne die Coronakrise wäre das Homeoffice noch… | |
| Berlin taz | Die Coronapandemie treibt die Wissenschaft an. Nicht nur in | |
| der Virusforschung und Medizin, wo es um unmittelbare Lebensrettung geht. | |
| Sondern auch die gesellschaftlichen Auswirkungen, die indirekte Infizierung | |
| des sozialen Raums, rufen die Forscher auf den Plan. Binnen Kurzem sind bei | |
| Soziologen und Psychologen, Lernforschern und Arbeitswissenschaftlern neue | |
| Forschungsprojekte aufgesetzt worden, die zu Jahresbeginn noch in keiner | |
| Institutsplanung zu finden waren. | |
| Quasi über Nacht ist das neue Wissenschaftsgebiet der | |
| sozialwissenschaftlichen Coronafolgenforschung entstanden, das untersucht, | |
| wie die Gesellschaft mit den neuen Bedingungen der Infektionsprävention an | |
| Arbeitsplatz, Lernstätten sowie privatem und öffentlichen Raum fertig wird. | |
| Die neue Coronafolgenforschung ist eine wissenschaftliche Spontanreaktion. | |
| Im Unterschied zu den normalen Abläufen im Wissenschaftssystem, wo neue | |
| Forschungslinien in Fachgremien lange beraten, Finanzmittel besorgt, | |
| Programme entworfen und Ausschreibungen gestartet werden, ist es seit dem | |
| Lockdown im März in der Wissenschaft anders gelaufen. | |
| Statt top-down wurden in der Gegenrichtung bottom-up in den Hochschulen und | |
| außeruniversitären Forschungsinstituten eine Vielzahl von Projekten | |
| aufgesetzt, die zunächst aus eigenen „Bordmitteln“ betrieben werden | |
| konnten: Befragungen (in der Regel auch diese „sozial distanziert“ per | |
| Telefon oder Internet) etwa zu den Themen, wie schnell sich das Homeoffice | |
| in der Wirtschaft verbreitet hat, wie das Homeschooling ankommt und ob | |
| durch die Lernhilfsdienste der Eltern das Familienleben bereichert oder | |
| belastet ist, aber auch zur [1][psychischen Belastung] durch häusliche | |
| Isolation und Kontaktsperre. | |
| ## Prognosen über den Haufen werfen | |
| Die Wirtschaftswissenschaftler durften die meisten ihrer ökonomischen | |
| Prognosen über den Haufen werfen und mussten die Folgen der globalen | |
| [2][Wirtschaftskrise neu berechnen] und Veränderungen des Konsumverhaltens, | |
| so der Anstieg des Onlinehandels, in den Blick nehmen. Die | |
| Resilienzforschung, bisher ein Orchideen-Fach in der Nische ohne breite | |
| außerwissenschaftliche Beachtung, wurde zum rising star der Politik, die | |
| damit neue Leitlinien zur technologischen Souveränität und der Stärkung der | |
| Widerstandskraft gegen künftige Krisen schmückt. | |
| Eine kleine Auswahl von neueren Forschungsprojekten gibt einen Eindruck von | |
| der Bandbreite. Wie sich der Alltag von Kindern durch Kita- und | |
| Schulschließungen und Ausgangsbeschränkungen verändert, untersuchte das | |
| Deutsche Jugendinstitut (DJI) in einer Onlinebefragung. Das Institut für | |
| Psychologie der Universität Hamburg startete eine europaweite Studie zu | |
| sozialem Kontakt während der Coronapandemie. Ein Forscherteam der | |
| Goethe-Universität und der Universität Hildesheim fragte bundesweit Eltern | |
| und Kinder nach ihren Erfahrungen mit den Coronabeschränkungen. Unter dem | |
| [3][Projekttitel „CoronaMobility“] untersuchten Wissenschaftlerinnen der TU | |
| Dresden die Änderung des Mobilitätsverhaltens in der Pandemie. Die | |
| Fachhochschule Dortmund ermittelte in einer Onlineumfrage die Auswirkungen | |
| der Coronakrise auf die Lebensqualität. | |
| [4][„Zufrieden und produktiv im Homeoffice“] nennt sich die Ad-hoc-Studie | |
| der Technischen Hochschule Köln zur Homeoffice-Zufriedenheit im Kontext der | |
| Coronapandemie. Die gleiche Hochschule befasste sich in einer weiteren | |
| Befragung mit der Wahrnehmung von Risiken in der Coronakrise. In der | |
| [5][Onlineumfrage corona-alltag.de] untersuchte das Wissenschaftszentrum | |
| Berlin für Sozialforschung (WZB), wie die Coronapandemie das Arbeitsleben | |
| der Menschen in Deutschland grundlegend verändert hat. | |
| Die Uni Hohenheim in Stuttgart publizierte auf ihrer Webseite eine | |
| Expertenliste „Die Corona-Krise und ihre Folgen“, die Kontakte zu sieben | |
| Themenbereichen offeriert: Forschung zum Infektionsgeschehen, Auswirkungen | |
| auf Wirtschaft und Finanzsektor, Auswirkungen auf die Agrarwirtschaft, | |
| Folgen für die Arbeitswelt, Gesellschaft und soziale Medien, Bildungssektor | |
| in der Coronakrise, sowie Lehren aus der Krise – Vorsorge für die Zukunft. | |
| Allein an dieser einen Universität kamen 29 Wissenschaftlerinnen und | |
| Wissenschaftler mit Forschungsprojekten und Expertise zu den Coronafolgen | |
| zusammen. Ein Thema ist die Corona-App: „Wie gehen Menschen mit ihrer | |
| Privatheit um?“ | |
| Frank Brettschneider, Professor am Fachgebiet Kommunikationswissenschaft | |
| der Uni Hohenheim, befasst sich etwa mit der Politik in Coronazeiten und | |
| erwartet einen „Wahlkampf in der Warteschleife“, sowohl bei der | |
| Landtagswahl in Baden-Württemberg im Frühjahr 2021 als auch bei der | |
| Bundestagswahl im Herbst 2021. Wenn Menschen in Sorge sind, komme Wahlkampf | |
| gar nicht gut an, erklärt Brettschneider. „Besonders für die Opposition ist | |
| es in diesen Zeiten schwer, Gehör zu finden.“ Die Regierung dagegen habe in | |
| der Krise alle Hände voll zu tun – und so die Chance, bei den Bürgern zu | |
| punkten. | |
| „Doch nach der Coronakrise könnten ganz andere Themen wichtig werden“, gibt | |
| der Kommunikationsforscher zu Bedenken, „und die könnten wahlentscheidend | |
| sein.“ Ein Fall für die politische Coronafolgenforschung. | |
| Nach der Feldforschung im ersten Halbjahr steht als nächstes die | |
| Publikation der Ergebnisse und womöglich auch der Transfer in die Praxis | |
| an. Das WZB in Berlin hat sich eine Zwischenform einfallen lassen und | |
| bietet seit dem Frühjahr d[6][as digitale Kolloquium „Soziologische | |
| Perspektiven auf die Corona-Krise“] an. An den wöchentlichen Vorträgen | |
| können Interessierte per Zoom teilnehmen, später sind sie als Podcast | |
| nachzuhören. Thematisiert wird, welchen Einfluss die Coronakrise auf | |
| unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt hat. „Welche Folgen lassen sich | |
| schon jetzt abschätzen für Bildung und Bildungsungleichheit, | |
| Digitalisierung, Familie, Gesundheit, Mortalität, Pflege, Solidarität, | |
| Sozialpolitik und sozialwissenschaftliche Datenerhebung?“ 27 Vorträge | |
| wurden seit dem 8. April gehalten. Derzeit ist Sommerpause. Am 30. | |
| September geht es in der virtuellen Corona-Uni weiter. | |
| Während die Sozialwissenschaften derzeit emsig untersuchen, wie sich die | |
| Gesellschaft wandelt, ist aber noch nicht abzusehen, wie sich auch die | |
| Sozialwissenschaften unter der Coronakrise verändern werden. Udo Thiedeke, | |
| Professor für Soziologie an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz, | |
| spricht von einem „stillen Frühling der Soziologie“, der die bisherigen | |
| Gewissheiten des Fachs herausfordere. Es deute sich eine Zäsur an, wie sie | |
| 1986 der Soziologe Ulrich Beck mit seiner Diagnose der „Risikogesellschaft“ | |
| verkörpert habe, zeitgleich zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und dem | |
| Ende der Technikeuphorie. | |
| „Vielleicht sollte auch die Soziologie die Krise in ihren Besonderheiten | |
| als Chance sehen, nicht nur die sozialen Veränderungen mit zu | |
| protokollieren Daten zu „erheben“ und dann mit den allzu bewährten Ansätz… | |
| zu interpretieren“, schlägt Thiedeke vor. Die Zeit sei reif für neue | |
| soziologische Konzepte, „die in der Lage sind, die Auswirkungen | |
| gesellschaftsübergreifender Entwicklungen als soziale Tatsachen auch für | |
| die Individuen mit ihren nur relativen Autonomiemöglichkeiten zu erfassen“. | |
| Ein Thema wird der gesellschaftliche Zusammenhalt sein, für dessen | |
| Erforschung mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und | |
| Forschung (BMBF) inzwischen sogar [7][ein eigenes Institut gegründet] | |
| wurde. „Die Soziologie“, meint ihr Mainzer Fachvertreter Thiedeke, habe | |
| „viel zu lernen im stillen Frühling 2020, den uns ein neues Virus so | |
| überraschend beschert hat.“ | |
| 26 Jul 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Psychische-Belastung-in-der-Corona-Krise/!5692717 | |
| [2] /Wirtschaftsprognose-zu-Coronakrise/!5672735 | |
| [3] https://tu-dresden.de/bu/verkehr/ivs/vpsy/die-professur/news/befragung-zu-c… | |
| [4] https://www.th-koeln.de/hochschule/zufrieden-und-produktiv-im-home-office_7… | |
| [5] https://www.wzb.eu/de/forschung/dynamiken-sozialer-ungleichheiten/arbeit-un… | |
| [6] https://coronasoziologie.blog.wzb.eu/ | |
| [7] https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/forschung/institut-zusammenha… | |
| ## AUTOREN | |
| Manfred Ronzheimer | |
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