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# taz.de -- Serie „I May Destroy You“: Ausweg aus dem Trauma
> Die neue Serie von Michaela Coel verarbeitet sexualisierte Gewalt, die
> Coel selbst erfuhr. Und zeigt Schwarze Frauen jenseits von Klischees.
Bild: Verarbeitung für sich und Halt für andere: Michaela Coel spielt selbst …
Wer die ambitionierte Drehbuchautorin und Schauspielerin Michaela Coel
fragt, wovon ihre neue Serie [1][„I May Destroy You“] handelt, wird keine
eindeutige Antwort erhalten. „Es geht um alles“, erklärte die 33- jährige
im US-Talkformat „The Daily Show“, und sie könnte recht damit haben. „I …
Destroy You“ erzählt eine Geschichte über Sexualität, Gewalt, race,
Klassenzugehörigeit und Identität.
Die BBC-Produktion löste bei ihrer Veröffentlichung in Großbritannien und
den USA einen riesigen Hype aus und wurde unter anderem [2][vom Guardian
als beste Serie des Jahres] gepriesen. Andere Journalist:innen bezeugen
der Serie Einzigartigkeit und die Fähigkeit, Tabus endlich aufzubrechen.
Serien, die sich mit sexualisierter Gewalt auseinandersetzen, gab es in den
letzten Jahren so einige, was also macht Coel so viel besser?
Die Serie steigt mit der Bestsellerautorin Arabella ein, gespielt von Coel
selbst, die damit kämpft, den ersten Entwurf ihres neuen Buchs rechtzeitig
fertigzustellen. Weil sie nicht vorankommt, beschließt sie, sich in der
Nacht vor Abgabe mit Freund:innen in einer Bar zu treffen. Es wird
getrunken, gelacht und getanzt. Am frühen Morgen kommt Arabella vor ihrem
Laptop wieder zu Bewusstsein, ohne Erinnerung daran, wie sie dort gelandet
ist.
Lediglich die verschwommene Vision eines Mannes ist ihr geblieben, der auf
einer Toilette jemanden sexuell misshandelt. Arabella realisiert, dass sie
unter Drogen gesetzt wurde. Im Laufe der zwölf Episoden begeben sich die
Zuschauer:innen mit ihr auf die Suche nach der letzten Nacht. Immer wieder
wird sie von Flashbacks heimgesucht. Erst beim Verhör durch die Polizei
wird der Protagonistin bewusst, dass sie es war, die vergewaltigt wurde.
## Fiktive Verarbeitung von Coels Erfahrungen
Ein Schicksal, dass Michaela Coel mit ihrer Serienheldin teilt. „I May
Destroy You“ erinnert an ihre eigene Geschichte. Nicht nur, dass sie die
Story selbst verfasste, produzierte und auch Regie führte – es ist eine
fiktive Verarbeitung der sexualisierten Gewalt, die sie erlebt hat.
Denn auch Coel wurde 2016 von Fremden etwas ins Getränk gemischt. Auch Coel
wurde vergewaltigt, wie sie 2018 in einer [3][Rede beim Edinburg TV
Festival] erzählte. Die Britin arbeitete damals an der Fortsetzung ihres
preisgekrönten Erstlingswerks: der gefeierten Serie „Chewing Gum“. In
dieser versucht eine junge, streng religiös erzogene Frau verzweifelt, ihre
Jungfräulichkeit zu verlieren. Das Stück, aus dem die Serie später geboren
werden sollte, schrieb Coel bereits während ihrer Zeit an der Guildhall
School of Music and Drama, an der sie 2012 ihren Abschluss machte.
Chewing Gum machte Coel über Nacht berühmt. Erst in Großbritannien und nach
der Ausstrahlung auf Netflix auch weltweit. Sie wurde mit Preisen
ausgezeichnet und von heute auf morgen zu einer der meistgepriesenen
Newcomerinnen der britischen Filmwelt erklärt. Es folgten von
Kritiker:innen gefeierte Rollen in „Black Mirror“ und der Netflix-Serie
„Black Earth Rising“.
## Zweieinhalb Jahre für die Fertigstellung
Der Vergleich zwischen Coel und ihrer Figur Arabella drängt sich also auf.
Zwei junge, erfolgreiche, selbstbewusste Frauen, denen auf der vorläufigen
Höhe ihres Ruhms unvorstellbares Leid widerfährt. Coels persönliches Trauma
bildet die Grundlage der Serie, aber damit enden die Parallelen nicht. Auch
von ihren Erfahrungen als Tochter ghanaischer Einwanderer:innen, die
in einem Londoner Arbeiter:innenviertel aufwuchs und als
Kreativschaffende, die darum kämpfte, mit der Kunst ihren Lebensunterhalt
zu verdienen, lebt die Serie. Trotzdem betont die Schauspielerin in
Interviews immer wieder, dass es sich bei „I May Destroy You“ um eine
Fiktion handelt, gespickt mit realen Erlebnissen.
Zweieinhalb Jahre ließ sich Coel für die Fertigstellung Zeit. Sie nahm
keine anderen Projekte an und schrieb nach eigenen Aussagen um die 200
Versionen des Skriptes, bis endlich alles stimmte. Ein quälender Prozess.
Schließlich musste sie ihr Trauma immer wieder durchspielen, wie sie in
einem Interview [4][mit Vulture] verriet. Warum entschied sie sich dazu,
dieses persönliche Erlebnis und das damit verbundene Trauma mit der Welt zu
teilen? Es sei für sie therapeutisch gewesen, die schmerzhafte Erfahrung in
eine hoffnungsvolle, in Teilen sogar humoristische Erzählung umzuwandeln,
erklärte die Autorin in ihrer Rede beim Edinburgh TV Festival. Die Kreation
von „I May Destroy You“ war für Coel kathartisch, denn sie musste für ihre
Figur einen Ausweg aus dem Trauma suchen, und damit auch für sich selbst.
## Heilungsprozesse verlaufen selten linear
„I May Destroy You“ illustriert, wie schwierig der Weg zurück in die
Normalität sein kann für Menschen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben.
Zwei Schritte vorwärts, drei Schritte zurück – Heilungsprozesse verlaufen
selten linear. Mit „I May Destroy You“ habe sie Menschen mit ähnlichen
Erfahrungen Sichtbarkeit und Halt schenken wollen. Gleichzeitig habe sie
eine Serie drehen wollen, die die Bedeutung des Konsens beim Sex und die
unterschiedlichen Auffassungen untersucht, sagte die Autorin [5][der Radio
Times].
Was bedeutet einvernehmlicher Sex wirklich? Kann ich die Stimmung meines
Gegenübers lesen oder sollte ich lieber immer nachfragen? Das
Einverständnis beim Sex ist oft nur eine Vermutung, eine unbeantwortete
Frage, bei der das Gegenüber nicht immer daran interessiert ist, eine
Antwort zu erhalten. „I May Destroy You“ legt diese Fragen offen, aber die
Serie beantwortet sie ganz bewusst nicht. Anhand von Arabellas Erfahrungen
und denen ihrer besten Freund:innen, Kwame (Paapa Essiedu) und Terry
(Weruche Opia), erforscht Coel das Datingverhalten von Millennials.
## Tinder, Grindr und Hook-up-Kultur
Es wird über Tinder gesprochen und über Grindr, über zwanglose
Verabredungen zum Sex und die sogenannte Hookup-Kultur, in schwarz und
weiß, aber auch in all ihren unterschiedlichen Grautönen. Dabei fokussiert
sich die Produzentin auch auf die Täuschung des Gegenübers beim Sex, auf
ein Einverständnis, das unter Vortäuschung falscher Tatsachen erstohlen
wird, wenn der:die Partner:in während des Geschlechtsverkehrs
beispielsweise das Kondom abzieht. So, wie es Arabella beim ersten Sex nach
ihrer sexualiserten Gewalterfahrung passiert. Dieses sogenannte stealthing
wird in Großbritannien als Vergewaltigung gewertet, wie Arabella beim Hören
des Podcasts „The Receipt“ erfährt.
In diesem Podcast unterhalten sich drei Schwarze Frauen aus dem realen
Leben über ihre Beziehungen und Dating. Ein kleines Detail, das die
Zuschauer:innen daran erinnert, dass es sich bei „I May Destroy You“ um ein
Zeugnis Schwarzer britischer Lebensrealitäten handelt, und es ist nicht das
einzige. Ähnlich verhält es sich, wenn Terry bei einem Filmcasting von
weißen Menschen gefragt wird, ob sie ihre Perücke denn auch mal waschen
würde. Afrohaar als Politikum – für viele Schwarze Menschen in mehrheitlich
weißen Gesellschaften ist das Normalität. Diese auch in Serien
widergespiegelt zu sehen ist jedoch neu. Schließlich ist die Darstellung
Schwarzer Frauen in der europäischen Fernsehwelt nach wie vor von
rassistischen Stereotypen geprägt.
## Eindimensionalität noch weit verbreitet
Das bekam auch Michaela Coel in ihrer Karriere zu spüren. Im „Honest Actors
Podcast“ sagte sie, dass sie regelmäßig für die Rolle der „frechen,
angriffslustigen und wütenden“ Schwarzen Frau angefragt würde. Begriffe,
die genutzt werden, um Schwarze Frauen zu beschreiben. Das Bild der frechen
Schwarzen Freundin, die regelmäßig mit den Fingern schnippt, um ihren
Worten Nachdruck zu verleihen, und die nur existiert, um ihrer meist weißen
Freundin mit Rat und Tat beiseite zustehen, ist weit verbreitet in der
westlichen Film- und Fernsehwelt.
Hartnäckig hält sich dieses Narrativ und zwingt Schwarze Frauen in der
Eindimensionalität. Michaela Coel hat eine Lösung für das Problem: Sie
schreibt sich die Rollen, die sie spielen möchte einfach selbst. „Fuck it!“
So war es damals bei „Chewing Gum“ und so ist es heute mit „I May Destroy
You“. Michaela Coel hat sich Frieden für ihr eigenes Leben geschenkt. In
„Vulture“ erklärte sie: „Ich verstand, dass das Trauma mich nicht
definieren musste. Ich konnte es loslassen und ich war immer noch hier.“
Doch die Geschichte ist nicht nur ein Geschenk für sie selbst. Es ist ihr
gelungen, Schwarze Frauen zu zeigen, die sie selbst sein dürfen, vielfältig
und menschlich. In „I May Destroy You“ spielen die Schwarzen
Schauspieler:innen keine Nebenrollen mehr, sie bestimmen das Geschehen.
19 Oct 2020
## LINKS
[1] https://www.sky.de/programm/film-serien-news/i-may-destroy-you-190856
[2] https://www.theguardian.com/tv-and-radio/2020/jun/08/i-may-destroy-you-revi…
[3] https://www.youtube.com/watch?v=odusP8gmqsg
[4] https://www.vulture.com/article/michaela-coel-i-may-destroy-you.html
[5] https://www.radiotimes.com/news/tv/2020-07-05/michaela-coel-i-may-destroy-y…
## AUTOREN
Celia Parbey
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Sexualisierte Gewalt
BBC
Trauma
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Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
sexueller Missbrauch
Feminismus
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