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# taz.de -- Sexualisierte Gewalt gegen Kinder im Sport: Die Übergriffe
> Endlich werden Betroffene sexualisierter Gewalt im Sport gehört. Ihre
> Geschichten zeigen haarsträubende Versäumnisse der Vereine.
Bild: US-Turnerin Simone Biles, eine der erfolgreichsten Athletinnen aller Zeit…
Dem Vater ist es wichtig, dass sie Kampfsport lernt. Damit sie sich als
Mädchen selbst verteidigen kann. Er schickt sie zum Judo und ahnt nicht,
dass seine Tochter gerade in diesem Judoverein regelmäßige sexualisierte
Gewalt erleiden wird. Marie Dinkel ist heute 24 Jahre alt und in der
zweiten Bundesliga in der Gewichtsklasse unter 57 Kilogramm aktiv. Mit 13
Jahren wird sie von ihrem Judolehrer regelmäßig sexuell missbraucht.
Heute kann sie darüber sprechen, als eine von drei Betroffenen bei der
[1][Anhörung vor der „Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen
Kindesmissbrauchs“], die beim Bundesfamilienministerium angesiedelt ist. Es
geht um einen Bereich, in dem Aufarbeitung sexualisierter Gewalt lange
nicht stattfand: den Sport.
Marie Dinkel ist über Video zugeschaltet; sie spricht sehr reflektiert und
lächelt viel, ihre Stimme klingt kindlich. Einige PressevertreterInnen
duzen sie penetrant und irritierend. Die Geschichte des Missbrauchs selbst
schildert Dinkel nicht, sie wird eingesprochen, wie bei allen drei
Betroffenen.
Bei der Reiterin Gitta Schwarz, die von ihrem Reitlehrer regelmäßig
genötigt wurde, ihn oral zu befriedigen, und deren Vater ihr nicht glaubte.
Bei einer anonymen Fußballerin, die von Betreuern erniedrigt, angefasst und
von einem vergewaltigt wurde.
## Angst, Scham, Verwirrung
Und es zeigen sich Parallelen: die Angst, sich gegen Autoritätspersonen zu
wehren. Die Scham, die Verwirrung; die Sorge, den Sport zu verlieren, den
man liebt. Und die Strukturen, in denen weggeschaut und geschwiegen wurde.
Wie die Ex-Fußballerin es sagt: „Sport war Familie, wo man niemanden
anschwärzt.“
Auch die Geschichte der Judoka Marie Dinkel zeigt einige dieser Merkmale.
Ihr damaliger Verein, der TV Gladenbach, habe damals keine Prävention
betrieben, sagt sie, kein Führungszeugnis verlangt, die Mädchen mit dem
Trainer unüberwacht allein gelassen. „Wenn wir im Kampf am Boden
festgehalten wurden, konnten wir nichts machen“, so schildert es Dinkel.
Und in diesen Situationen fasst der Trainer den Mädchen erst von außen an
den Schritt, dann in die Hose. Es betrifft alle Mädchen. Jede weiß, was der
anderen in diesem Moment geschieht, aber sie fühlen sich, so schildert es
Dinkel, hilflos. Auch schuldig, als hätten sie selbst etwas falsch gemacht.
„Es war schrecklich. Wir haben die Hosen extra fest zugebunden, bis wir
fast keine Luft mehr bekommen haben.“
Ein enges Vertrauensverhältnis, Abhängigkeit, viel Körperlichkeit, das sind
drei der Faktoren, die den organisierten Sport zu einem Gebiet mit hohem
Risiko und vermutlich hoher Prävalenz von sexuellen Übergriffen machen.
## Hohe Dunkelziffer
Genaues ist schwer zu ermitteln. Die Soziologin Bettina Rulofs hat für das
von 2014 bis 2017 laufende [2][Projekt „Safe Sport“ in einer Studie], der
ersten in diesem Umfang, unter anderem 1.800 KaderathletInnen zu
sexualisierter Gewalt befragt. Die Resultate waren erschreckend. JedeR
Dritte gab an, im Sport sexualisierte Gewalt erlebt zu haben, jedeR Neunte
lang anhaltend und schwer. [3][Viele prominente und schwerwiegende Fälle
kamen in den letzten Jahren an die Öffentlichkeit.]
„Wir müssen von einer hohen Dunkelziffer im Sport ausgehen. Wir haben den
Eindruck, dass es den Betroffenen schwergemacht wird, sich zu melden“, so
Sabine Andresen, Vorsitzende der Aufarbeitungskommission zu sexualisiertem
Missbrauch.
Die Kommission selbst besteht seit 2016, ab Mai 2019 hat sie aktiv
Betroffene im Sport aufgefordert, sich zu melden. Doch nur hundert
AthletInnen haben das bis jetzt getan. Obwohl etwa 2019 in der Altersgruppe
von 7 bis 14 Jahren 61 Prozent der Mädchen und fast 80 Prozent der Jungs in
Deutschland Mitglied eines Sportvereins waren; im Teenageralter sinken die
Zahlen, aber bleiben hoch. Wo sind die Betroffenen?
„Bislang gibt es im Sport keine Kultur des Sprechens über Gewalt“,
kritisiert Andresen. „Und schon gar keine Kultur des Zuhörens. Nach wie vor
berichten Betroffene, dass sie zurückgewiesen wurden und die Tragweite eher
verleugnet und bagatellisiert wurde.“ Das machistische Altherren-Umfeld des
Sports verschärft das Problem. „Es gab nur männliche Trainer im Verein“,
erzählt Dinkel. „Aber ich hätte darüber nur mit einer Frau gesprochen.“
## Ältere Männer mit anzüglichen Witzen
Obwohl es keine Prävention und keine Hilfe von außen gab, überwindet sich
Marie Dinkel nach einigen Monaten und vertraut sich ihren Eltern an. Die
unterstützen sie, der Trainer muss den Verein verlassen. An der Schule, wo
er Sport unterrichtet, darf er aber weiter tätig sein. Und auch im Verein
fühlt sie sich kaum unterstützt. „Ich hatte oft das Gefühl, das wird nicht
ernst genommen. Es wird im Sport so viel totgeschwiegen. Dann sitzen da
ältere Männer, denen will man das gar nicht erzählen. Da kommen nur sexuell
anzügliche Witze.“
Viele im Verein schützen lieber die TäterInnen als die Opfer. Dinkels
Eltern erstatten zwar Strafanzeige, aber [4][das Verfahren wird laut
Spiegel nach Zahlung eines Geldbetrags eingestellt]. Die juristische
Aufarbeitung läuft nach Dinkels Schilderungen völlig unangemessen. „Das war
eine ganz unangenehme Situation. Im Raum saßen acht Männer, die mich
ausgefragt haben: Wie hat er dich angefasst? Wo hat er dich angefasst?“
Als sie die Aussagen vor Gericht in Anwesenheit des Trainers wiederholen
soll, entscheiden sich die Eltern, die Tochter zu schützen, und verweigern
das.
Es ist unklar, ob sexueller Missbrauch in einigen Sportarten häufiger
vorkommt als in anderen. Es weist einiges darauf hin, dass Sportarten, wo
es viele Hilfestellungen und intensive Körperlichkeit gibt, stärker
betroffen sein könnten.
## Endlich ernst genommen
Unter den Betroffenen, die sich bei der Aufarbeitungskommission meldeten,
waren Spitzen- und BreitensportlerInnen, mehr Frauen als Männer, unter den
TäterInnen dagegen überwiegend Männer. Auch, wenn die Zahlen nicht
repräsentativ sind, spiegelt das die Erkenntnisse der „Safe Sport“-Studie:
„Kaderathletinnen sind signifikant häufiger von sexualisierter Gewalt
betroffen als Athleten.“
Zugleich ist diese Kommission für die Betroffenen aber auch, das ist
spürbar, ein Zeichen der Hoffnung. „Es gibt mir Kraft, dass das Problem
heute ernst genommen wird“, sagt die Ex-Fußballerin. In den letzten Jahren
hat sich Druck aufgebaut, auch durch wachsendes Selbstbewusstsein von
AthletInnen.
„Ich glaube, da ist was in Bewegung“, so Maximilian Klein von der
Interessenvertretung Athleten Deutschland. „AthletInnen fangen an, sich zu
regen, sie sprechen.“ Es gebe aber auch systemimmanente Probleme, etwa die
starke Abhängigkeit der SportlerInnen von TrainerInnen. Es brauche „eine
mächtige, unabhängige Struktur“. Und: „Es braucht einen flächendeckenden
Kulturwandel.“
Es sind kleine Schritte dorthin. Alle vom Innenministerium geförderten
Spitzensportverbände mussten bis Ende 2019 einen Beauftragten für
Prävention und Intervention benennen. Einsichtnahmen in Führungszeugnisse
müssen geregelt, Fort- und Weiterbildungskonzepte für MitarbeiterInnen
entwickelt, Internventionspläne und Sanktionsmaßnahmen eingeführt werden.
## „Er war doch so ein guter Trainer“
Laut einer Umfrage haben die Verbände bislang mehr als das umgesetzt. Petra
Tzschoppe, Vizepräsidentin [5][beim Deutschen Olympischen Sportbund
(DOSB)], entschuldigte sich zudem bei allen Betroffenen für das erlittene
Leid und kündigte weitere Schritte an, auch Zusammenarbeit mit den
Betroffenen. Sie räumte auch ein, die Aufarbeitung sei „noch nicht so weit
gediehen, das ist uns bewusst“.
Das prangert auch die Kommission an. „Es gibt zum Glück in allen Bereichen
deutlich mehr Bemühungen zu Prävention“, so Sabine Andresen. „Aber der
Blick zurück, die Aufarbeitung, konfrontiert den Sport mit Fragen des
eigenen Versagens. Man kann nicht mehr so tun, als ob es sich um
EinzeltäterInnen handelt. Das führt zu unbequemen Fragen.“ Man wird sich
mit Strukturen auseinandersetzen müssen.
Zum Beispiel bei dem Fall einer Zeugin, die anonym aussagt. In ihrem
Sportverein gab es einen Trainer, der, wie sich herausstellte, wegen
sexuellem Missbrauchs rechtskräftig verurteilt war. Aber der Vorstand
konnte sich nicht einigen, ihm zu kündigen. Er war doch so ein guter
Trainer und die Eltern wollten ihn behalten.
Es gibt noch viel zu tun. Etwa unabhängige Anlaufstellen für Betroffene.
Mehr oder überhaupt Präventionsarbeit im Verein, mehr Gewicht für das Thema
bei Lehrgängen und in der Ausbildung von TrainerInnen.
## Aktiv gegen die Gewalt
Zum Beispiel durch Menschen wie Marie Dinkel. Lange litt sie selbst unter
psychischen Problemen nach dem Missbrauch. Dann entschied sie sich, aktiv
zu werden. Heute ist die 24-Jährige selbst ausgebildete Trainerin,
konfrontierte KollegInnen mit ihrer Geschichte. Und hat Forderungen an den
Sport: „Es sollte Thementage geben, wo Betroffene eingeladen werden, und
Leitlinien, wie TrainerInnen bei Verdacht auf Missbrauch handeln. Die
Vereine müssen transparenter mit dem Thema umgehen.“
13 Oct 2020
## LINKS
[1] https://www.aufarbeitungskommission.de/
[2] https://www.forschungsnetzwerk-gegen-sexualisierte-gewalt.de/de/startseite-…
[3] /Missbrauchsfaelle-im-US-Leistungsturnen/!5525941/
[4] https://www.spiegel.de/thema/kindesmissbrauch/
[5] https://safesport.dosb.de/
## AUTOREN
Alina Schwermer
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