# taz.de -- Sexualisierte Gewalt im Sport: Sieben Jahre Haft für Judotrainer | |
> Das Berliner Landgericht verurteilt einen Judotrainer wegen sexuellen | |
> Missbrauchs an Minderjährigen. Zehn Jahre blieb der Täter unbehelligt. | |
Bild: Vaterfigur für die Judoka: Judotrainer wegen sexuellen Missbrauchs verur… | |
BERLIN taz | Zu viele Menschen wollen an diesem Montag in den kleinen Saal | |
B 129 des Berliner Landgerichts in Moabit. Pandemiebedingt darf nur knapp | |
die Hälfte der etwa 30 Wartenden eintreten. Es dauert aber nicht lange, da | |
wollen die ersten auch schon wieder raus. Denn bei der Urteilsverkündung | |
gegen den 43-jährigen Berliner Judotrainer wird recht detailliert über eine | |
halbe Stunde die teils schwere sexuelle Gewalt beschrieben, die der | |
Beschuldigte an sieben zum Tatzeitpunkt minderjährigen Judoka im Zeitraum | |
zwischen 2009 und 2019 begangen hat. | |
Vier Erwachsene verlassen nacheinander den Raum. Möglicherweise ist ihnen | |
das Zuhören kaum erträglich. Vielleicht sind es auch Eltern, die von ihren | |
anwesenden betroffenen Kindern hinausgeschickt werden, weil deren Scham | |
über das Geschehene so groß ist. | |
Zu sieben Jahren Freiheitsstrafe verurteilt das Landgericht den Trainer und | |
bleibt damit ein Jahr unter dem geforderten Strafmaß der | |
Staatsanwaltschaft. Die Angaben der Betroffenen, die mittlerweile zwischen | |
16 und Mitte 20 Jahre alt sind, seien so anschaulich, detailliert und | |
überzeugend gewesen, dass die Kammer keinen Zweifel an der Schuld des | |
Trainers habe, heißt es. | |
Eine Studie der Universitätsklinik Ulm aus dem vergangenen Jahr kommt zu | |
dem Ergebnis, dass im Kontext des Sports genauso viele sexuelle Gewalttaten | |
verübt werden wie in der katholischen und evangelischen Kirche zusammen. | |
Die [1][Kommission zur Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch] der | |
Bundesregierung konzentriert sich seit 2019 auf den Sport. Das Dunkelfeld | |
scheint hier besonders groß zu sein. Etwa einhundert Betroffene, weit | |
weniger als erwartet, folgten bislang dem Aufruf der Kommission, sich doch | |
mit ihren Geschichten zu melden. | |
## Judotrainer ist von Beruf Rechtsanwalt | |
Um sieben Betroffene geht es an diesem Montag in Berlin. Bei der Verlesung | |
des Urteils hört der Judotrainer regungslos zu. In den 27 Prozesstagen | |
zuvor hat er, der die Vorwürfe stets bestritten hat und mit seinem | |
Verteidiger einen Freispruch beantragte, eifrig mitgeschrieben, sich aktiv | |
bei der Zeugen- und Betroffenenbefragung eingeschaltet. Selbst vor Gericht | |
hatte er gegenüber seinen Opfern einen Heimvorteil. Denn er ist von Beruf | |
Rechtsanwalt. | |
Ein Beruf, mit dem er von Anfang an bei den Eltern großes Vertrauen genoss. | |
Das stellt der Richter fest, als er die begünstigenden Umstände der | |
Gewalttaten skizziert. Dem Judotrainer gelang es so, sich weit über seine | |
sportliche Aufgaben hinaus im Leben seiner Schützlinge einzunisten. | |
Der Vater eines der Betroffenen berichtete am Rande des Verfahrens, er habe | |
sich beim Austritt seines Sohnes aus dem Verein noch wortwörtlich für das | |
„irre Engagement“ des Trainers und den „positiven Einfluss auf die | |
Persönlichkeitsentwicklung“ seines Kindes bedankt. Wenn er könnte, so habe | |
er ihm damals geschrieben, würde er ihm den Mitgliedsbeitrag am liebsten | |
bis zur Rente überweisen. Heute ist er entsetzt über sein blindes | |
Vertrauen. | |
Vor Gericht wurde eine Mail des Vaters an den Angeklagten verlesen, in der | |
er über seinen Sohn schreibt: „Er schaut zu dir auf und hält dich für den | |
besten Trainer der Welt (kann dem nur zustimmen, Smiley).“ Ein besonderer | |
Moment, denn der Beschuldigte sagte daraufhin in weinerlichem Ton: „Ich bin | |
auch der beste Trainer.“ Jahre zuvor konstatiert der Verurteilte in einer | |
Mail an diesen Vater, sein Sohn käme im Judo gut zurecht, im „richtigen | |
Leben“ sei das aber komplizierter. Er sei immer gerne „hilfsbereit“. | |
Mit der Verquickung von sportlicher und schulischer Aufsicht gewann der | |
Judotrainer neben dem Vertrauen der Eltern mehr und mehr Macht über die | |
Kinder. In der Trainingshalle mussten die Schulzeugnisse vorgetragen | |
werden. Zeugenaussagen verdeutlichen, dass der Trainer bestens über | |
Stundenpläne und anstehende Schularbeiten informiert war. | |
Es hätte im Verhältnis zu den Kindern ein Wechselspiel aus Anerkennung, | |
Zuneigung, Nähe einerseits und Kontrolle, Sanktionen andererseits gegeben, | |
stellt der Richter fest. Einige Zeugen sagten aus, ihr Judotrainer habe | |
zugleich den Rang eines Ersatzvaters gehabt. Es fielen Sätze wie „Was er | |
sagte, war Gesetz. Ihm war nicht zu widersprechen.“ | |
So wurden Züchtigungen (Schläge auf den nackten Po) und massive sexuelle | |
Gewalt erduldet. Vom Trainer wurden sie teils als Sanktionen für schlechte | |
Schulnoten oder Treuetest für den Verein begründet, teils geschah es ohne | |
jeden Vorwand. Es passierte in der Turnhalle, auf Trainingsfahrten, | |
Turnieren in der Wohnung des Verurteilten oder in Schweden, wo der Trainer | |
ein Ferienhaus besaß und Trainingscamps veranstaltete. | |
## Frau war Kassenwartin, Stiefsohn war Trainer | |
In seinem selbst gegründeten kleinen Judoverein im Stadtteil Tegel hatte | |
der Verurteilte Strukturen geschaffen, die ihn fast unangreifbar machten. | |
Seine Frau war Kassenwartin und Vorstandsmitglied, sein Stiefsohn ebenfalls | |
Trainer im Verein. Selbst als im Sommer vergangenen Jahres der | |
Landessportbund Berlin (LSB) und der Judo-Verband Berlin (JVB) über die | |
Ermittlungen der Polizei informiert wurden, konnte der Trainer noch bis in | |
den November 2019 hinein weiter unterrichten. | |
Begründet wurde das vom Judo-Verband damit, dass man die Anweisung erhalten | |
habe, die polizeilichen Ermittlungen nicht zu stören. Das genaue Gegenteil | |
sagt die ermittelnden Polizeioberkommissarin Anfang September vor Gericht | |
aus. Sie habe beim LSB und JVB angerufen, um zu verhindern, dass der | |
Judotrainer weiter tätig sein könne. Beim JVB wiederum findet Präsident | |
Thomas Jüttner die Aussage „unerklärlich“. Es habe „definitiv“ keinen | |
Kontakt zur Polizei gegeben, sagte er. | |
Auch von dem Täter und den Opfern dieses Judovereins wüsste man heute | |
nichts, betonte der Richter am Montag, wenn nicht ein Zufall geholfen | |
hätte. Nicht etwa sensibilisierte Eltern, Trainerkollegen oder | |
Missbrauchsbeauftragte des Sports haben die Taten aufgedeckt, der Trainer | |
brachte sich selbst zu Fall. Er fragte einen Vater um Rat, weil andere | |
Eltern im Verein ein Kontaktverbot von ihm zu ihrem Kind erwirkt hatten. | |
Grund dafür war nicht der Verdacht des sexuellen Missbrauchs, sondern die | |
emotionale Abhängigkeit des Kindes zum Trainer. Von dem vom Trainer | |
kontaktierten Vater, dessen Kind der Trainer ebenfalls sexuelle Gewalt | |
angetan hatte, wollte er wissen, wie man dagegen vorgehen könne, bat ihn | |
aber, seinem Sohn und seinen Judofreunden nichts davon zu erzählen. Das | |
erregte das Misstrauen des Vaters. | |
## Ein erstes Verfahren bereits 2012 | |
Dabei hätte es Möglichkeiten gegeben, früher auf den Trainer aufmerksam zu | |
werden. Bereits 2012 gab es ein Verfahren gegen ihn. Es ging dabei um ein | |
Sexualdelikt, wie die Generalstaatsanwaltschaft Berlin der taz bestätigt | |
hat. Weil die Tat aber nicht nachweisbar gewesen wäre, sei das Verfahren | |
eingestellt worden. Auf Anfrage erklärte sowohl der Landessportbund Berlin | |
als auch der Judo-Verband Berlin, sie hätten noch nie etwas davon gehört. | |
Befremdlich wirkt in diesem Zusammenhang, dass der Trainer in der bereits | |
erwähnten Auseinandersetzung um das Kontaktverbot mit einem Judoka dem | |
Jugendamt anbot, der Junge könne bei ihm leben. Das sagte die ermittelnde | |
Polizeioberkommissarin aus. Offenkundig fürchtete der Jurist und Trainer | |
keinen Informationsaustausch der Behörden. Friedhard Teuffel, Direktor des | |
Landessportbunds, erklärte: „Prinzipiell wäre jede Art von Meldung | |
sinnvoll, weil wir nicht nur ausschließlich bei polizeilich relevanten | |
Meldungen Handlungsbedarf sehen.“ | |
Auch nach dem Urteilsspruch gegen den Judotrainer gibt es noch einiges | |
aufzuarbeiten. Dieser Prozess hat anschaulich gezeigt, wie schwierig es für | |
viele junge Sportler:innen ist, Grenzüberschreitungen als solche überhaupt | |
zu erkennen. Sie bewegen sich gerade in leistungsorientierten Vereinen – | |
wie auch der betroffene Judoverein einer war – in einem Umfeld, wo es darum | |
geht, die eigenen Grenzen zu überschreiten und dafür alles in Kauf zu | |
nehmen. Das wird auf die Sphäre jenseits des Sportlichen übertragen. | |
Ein Zeuge, der im Verein des Verurteilten auch als Trainer tätig war, | |
berichtete im Juni vor Gericht, dass es schon zu seiner aktiven, 2009 | |
beendeten Zeit üblich gewesen sei, verspätete Sportler abzustrafen. Die | |
Anwesenden hätten dann eine „Gasse“ gebildet. „Jeder hat dann mit der Ha… | |
oder dem Gürtel so feste zugeschlagen, wie er wollte … Gassen haben wir zum | |
Teil selbst eingefordert, wenn jemand zu spät kam. Wir haben das als Scherz | |
gesehen, als Bespaßung.“ | |
Auf die Frage des Richters, ob es weitere Gewaltspiele gegeben hätte, | |
erzählt der Zeuge, in den Pausen auf den Matten hätten sie „zur | |
Erheiterung“ den Partnern den Finger andeutungsweise in den Anus | |
eingeführt. „Popo füllen“ habe man das Ritual genannt. Das habe man sich | |
von den älteren Kaderathleten in Berlin am Olympiastützpunkt im Sportforum | |
Hohenschönhausen abgeschaut. | |
Der Berliner Judo-Verbandschef Jüttner schreibt dazu: „Meiner Einschätzung | |
nach kann ich dieses ‚Ritual‘ nicht als übliche Pausenbeschäftigung im Ju… | |
bezeichnen. Mir ist dieses ‚Ritual‘ auch nicht bekannt.“ Die von Zeugen | |
beschriebene Gasse sei im Judo nicht „gängig“. | |
Mit der Verurteilung durch das Landesgericht verliert der Judotrainer | |
automatisch seine rechtsanwaltliche Zulassung. Seine A-Trainerlizenz war | |
vom Deutschen Judo-Bund bislang „ruhend gestellt“. Sobald das Urteil | |
rechtskräftig sei, werde man die Möglichkeit ergreifen, diese zu entziehen, | |
sagt Frank Doetsch, der Sprecher des Vorstands. | |
Das schmerzt den Täter möglicherweise wenig. Er träume ohnehin schon seit | |
geraumer Zeit davon, das wurde während der Verhandlung ausgesagt, ganz nach | |
Schweden zu ziehen. Einen automatischen Informationsaustausch mit anderen | |
Verbänden, erklärt Doetsch, gäbe es bislang noch nicht. | |
8 Dec 2020 | |
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[1] https://www.aufarbeitungskommission.de/ | |
## AUTOREN | |
Johannes Kopp | |
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