# taz.de -- Aktivist über deutschen Antiziganismus: „Wir haben keine Lobby“ | |
> Vor 85 Jahren wurden die Nürnberger Gesetze erlassen. Bis heute werden | |
> Sinti und Roma in Deutschland diskriminiert. Erich Schneeberger kämpft | |
> dagegen. | |
Bild: Erich Schneeberger, Vorsitzender vom Verband Deutscher Sinti und Roma in … | |
taz: Herr Schneeberger, gibt man in eine Internetsuchmaschine den Begriff | |
„Sinti“ ein, erhält man fast nur Treffer für die Kombination „Sinti und | |
Roma“. Sind die beiden Gruppen tatsächlich so untrennbar? | |
Erich Schneeberger: Nein. Ich selbst gehöre der Gruppe der Sinti an, und | |
wir haben uns nie als Roma bezeichnet. Uns Sinti gibt es vor allem in | |
Westeuropa, die Roma sind mehr im Osten zu Hause. Im deutschsprachigen Raum | |
leben wir Sinti seit fast 700 Jahren. Natürlich ist da sehr viel von der | |
hiesigen Kultur an uns hängengeblieben. | |
Was macht einen Sinto denn zum Sinto? | |
Zunächst ist da die Sprache, Romanes. Sie ist das wichtigste Bindeglied in | |
unserer kulturellen Identität. Romanes stammt aus dem Sanskrit und ist die | |
älteste indogermanische Sprache, die noch in Mitteleuropa gesprochen wird. | |
Es wird allerdings nur mündlich weitergegeben, es gibt keine | |
Schriftsprache. Dann gibt es aber auch eine für Sinti typische Lebensweise. | |
Dazu gehört der besondere Zusammenhalt der Familie und der Respekt vor dem | |
Alter. Auch wenn das inzwischen etwas nachlässt. | |
Sinti und Roma sind neben Friesen, Dänen und Sorben gemeinsam die vierte | |
nationale Minderheit in Deutschland – wo es doch eigentlich zwei | |
verschiedene Minderheiten sind. | |
Ja, das stört uns auch, und als Sinti wollen nicht mit Gruppen aus Rumänien | |
oder Bulgarien in einen Topf geworfen werden. Aber ich habe mich inzwischen | |
fast daran gewöhnt, dass wir immer als eine Einheit wahrgenommen werden. | |
Natürlich gibt es auch einiges, was wir gemeinsam haben. Beide Gruppen | |
haben ihre Wurzeln in Indien. Vor allem aber ist uns die Verfolgung im | |
Dritten Reich gemein. Die Nazis haben keinen Unterschied zwischen Sinti und | |
Roma gemacht. Für die waren das alles „Zigeuner“. | |
Und damit [1][Ziel der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik.] Auch | |
Ihre Eltern waren in Auschwitz. | |
Mein Vater ist mit gerade mal 17 Jahren als sogenannter Arbeitsscheuer | |
verhaftet worden – absurderweise an seiner Arbeitsstelle. Bei meiner Mutter | |
war es genauso. Und dann kamen sie direkt nach Auschwitz. Im März 1943 war | |
das. Dass sie überhaupt überlebt haben, war ein Wunder. Fast alle meiner | |
übrigen Verwandten, meine Großeltern, die meisten Tanten und Onkel sind | |
ermordet worden. Meine Eltern hat es dann nach der Befreiung nach Stuttgart | |
verschlagen, wo sie sich kennengelernt haben. Dort bin ich auch geboren. | |
Haben Ihre Eltern mit Ihnen über das Erlebte gesprochen? | |
Ja, das war immer ein Thema bei uns. Vor allem mein Vater hat viel erzählt. | |
Nur die allerschlimmsten Erlebnisse, die hat er ausgelassen. Aber | |
beispielsweise hat er erzählt, wie sie sich in Auschwitz immer bei der | |
größten Kälte nackt aufstellen mussten – was gerade für Sinti, die sehr | |
schamhaft sind, besonders schlimm war. Diese SS-Schergen haben schon | |
gewusst, wie sie die Menschen erniedrigen und demoralisieren. Weihnachten | |
war bei uns nie ein Fest der Freude, sondern ein Fest der Tränen. Die | |
Eltern haben geweint, haben Kerzen für die toten Verwandten angezündet. | |
Vor genau 85 Jahren haben die Nazis hier in Ihrer Heimatstadt Nürnberg ihre | |
Rassenideologie in Gesetzesform gegossen und die Nürnberger Rassengesetze | |
verabschiedet. Und heute? Plakatiert die NPD: „Geld für die Oma statt für | |
Sinti und Roma.“ Und laut der Antidiskriminierungsstelle des Bundes stoßen | |
[2][Sinti und Roma auf mehr Ablehnung] als jede andere Gruppe in | |
Deutschland. | |
Das liegt daran, dass man uns nicht kennt. Wer persönlich Sinti kennt, hat | |
diese Ressentiments in der Regel nicht. Die Sinti leben unerkannt in den | |
Großstädten, in den Hochhäusern, die fallen ja gar nicht als andersartig | |
auf. Sieht man aber im Fernsehen Beiträge über Roma, die in Rumänien in den | |
elendsten Slums leben, und projiziert diese Lebensumstände auf die Menschen | |
hier, dann entstehen total verzerrte Bilder – und eben diese Ressentiments. | |
Um sie abzubauen, wollen wir deshalb die Gleichheit herausstellen. Dass die | |
Leute sehen: Menschenskinder, die sind ja gar nicht anders als wir. | |
Aber selbst wenn sie nun anders wären – das würde doch auch keine | |
Diskriminierung rechtfertigen. Und die Roma in Rumänien... | |
... können natürlich auch nichts dafür, dass sie in diesem Elend leben | |
müssen. Ja, ich denke mir das oft. Aber die Mehrheitsgesellschaft braucht | |
wohl immer Minderheiten, die sie an den Rand drücken und für die eigenen | |
Fehler verantwortlich machen kann. Wenn jemand plakatiert „Geld für die Oma | |
statt für Sinti und Roma“, sollte er sich mal Gedanken darüber machen, wie | |
viele Sinti und Roma durch ihre Arbeit zum Bruttosozialprodukt beitragen. | |
Das kommt solchen Rassisten aber natürlich gar nicht in den Sinn. | |
Die Rechtsextremen verbreiten immer unverhohlener ihre Hassbotschaften. | |
Auch Gewalttaten nehmen wieder zu. Wie stark sind Sinti und Roma davon | |
betroffen? | |
Die Situation ist für uns schon sehr beklemmend. Und da geht es jetzt nicht | |
direkt um uns als nationale Minderheit. Aber wir sehen, wie die Angriffe | |
auf unsere jüdischen Mitbürger gerade wieder zunehmen. Und es war immer | |
schon so: Wenn man gegen die Juden vorgegangen ist, dann waren wir die | |
nächste Gruppe. Die Leidtragenden sind heute zunächst die aus Osteuropa | |
zugewanderten Roma. Dadurch, dass einige von ihnen in den Innenstädten | |
betteln, sind sie das ideale Feindbild für diese Rassisten. | |
Erleben Sie selbst auch Diskriminierung? | |
Selbstverständlich. Ich sag’ Ihnen ein Beispiel: Ich hatte früher wie viele | |
Sinti einen Campingwagen, ein wunderschönes Gefährt. Und mit dem wollte ich | |
in Kochel am See auf den Campingplatz. Meine Frau, der man nicht ansieht, | |
dass sie eine Sinteza ist, hat zuerst mit dem Pächter gesprochen, aber als | |
er dann mich gesehen hat, hieß es sofort: „Um Gottes willen. Sinti kommen | |
bei mir nicht auf den Campingplatz.“ Da hat ihm meine Frau gesagt: | |
„Probieren Sie es doch mit uns! Sie werden sehen, Sie sind mit uns | |
zufrieden.“ Schließlich hat er sich erweichen lassen. Und als wir dann nach | |
14 Tagen abgereist sind, hat er gemeint: „Herr Schneeberger, Sie können | |
jederzeit wieder kommen, sie sind immer herzlich willkommen.“ Weil er mich | |
kennengelernt hat. Verstehen Sie? | |
Ja, schon. Aber wie erniedrigend ist das denn – einen Rassisten „erweichen�… | |
zu müssen? | |
Natürlich hat mir das weh getan. Aber so etwas passiert noch heute | |
regelmäßig. Wir kriegen immer wieder Anrufe von Sinti, denen so etwas | |
widerfährt. Ein anderes Beispiel: Wir wohnen seit 35 Jahren in unserer | |
jetzigen Wohnung. Und da gibt es immer noch zwei, drei Familien in unserem | |
Haus, die mich nicht grüßen. Die glauben, dass sie etwas Besseres sind – | |
weil ich Sinto bin. | |
Auch der Antisemitismus hat in Deutschland in den letzten Jahren | |
zugenommen. Dem steht in Deutschland aber auch eine besonders große | |
Sensibilität gegenüber. [3][Gibt es die beim Antiziganismus auch]? | |
Nein, die gibt es nicht. Weil wir in der Gesellschaft keine Lobby haben. | |
Wenn ein jüdischer Mitbürger beleidigt oder verletzt wird, gibt das einen | |
Aufschrei. Zurecht! Das ist aber bei uns nicht so. Oder hat man etwas davon | |
gehört, dass Angehörige der Roma in Berlin niedergestochen worden sind? | |
Oder dass bei dem Anschlag in Hanau drei Roma unter den Opfern waren? Oder | |
dass der Attentäter vom Münchner OEZ auch einen Sinto und zwei Roma | |
ermordet hat. | |
Aber diese Lobby, wie Sie es nennen, kommt ja aus der historischen Schuld | |
heraus. Und die gibt es den Sinti und Roma gegenüber in gleicher Weise. | |
Das stimmt. Trotzdem ist der Völkermord an den Sinti und Roma nie so | |
anerkannt worden wie der an den Juden. Daraus ergibt sich unserer Auftrag. | |
Und der heißt Aufklärungsarbeit? | |
Genau. Wissen schützt vor Rassismus. Zumindest ein bisschen. | |
15 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Dominik Baur | |
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