| # taz.de -- Diskriminierte Sinti*zze und Rom*nja: „Wir haben nur noch Angst“ | |
| > In Bockenem wird eine Sinti*zze- und Rom*nja-Familie auf ihrem Parkplatz | |
| > drangsaliert. Am Sonntag fielen Schüsse aus einer Schreckschusspistole. | |
| Bild: Endstation nach langer Suche: der Parkplatz der Sinti*zze und Rom*nja im … | |
| Hannover taz | Zwei Schüsse hallten am Sonntagmittag durch die Luft in | |
| Bockenem, einer 10.000-Einwohner*innen-Stadt im Landkreis Hildesheim. Ein | |
| junger Mann hatte im Vorbeifahren vom Beifahrersitz eines Autos eine | |
| Schreckschusspistole abgefeuert, als er am Rasthof einer Aral-Tankstelle an | |
| der A7 vorbeifuhr. Obwohl die Staatsanwaltschaft Hildesheim das nicht so | |
| sieht, liegt die Vermutung nahe, dass die Schüsse Einschüchterungsversuche | |
| gegenüber einer Familie Sinti*zze und Rom*nja sein sollten, die auf dem | |
| Rasthof Stellplätze gemietet hatte. Unter ihnen waren wohl auch Überlebende | |
| der Verfolgung in der NS-Zeit. | |
| Seit Wochen findet die etwa 70-köpfige Familie nun keinen vorübergehenden | |
| Stellplatz für ihre 26 Wohnwagen und Transporter. Nach einer Zeit in | |
| Bielefeld zog sie zunächst nach Hameln. Nachdem sie dort aber nicht bleiben | |
| konnte, wollte die Gruppe einen derzeit ungenutzten Veranstaltungsplatz in | |
| Hildesheim mieten. Der Pächter konnte den Platz jedoch nicht zur Verfügung | |
| stellen, weil er schon einem anderen Mieter versprochen war. So strandeten | |
| die Sinti*zze und Romn*ja auf dem Parkplatz eines Freibads westlich von | |
| Hildesheim. | |
| Der dortigen Gemeinde Nordstemmen war das aber nicht recht. Das Ordnungsamt | |
| stellte ein Ultimatum zum Verlassen des Schwimmbadparkplatzes und drohte | |
| mit Platzverweisen. Auch regionale Medien berichteten über den | |
| Aufenthaltsort der Familie und über vermeintliche Verstöße gegen die | |
| Maskenpflicht innerhalb der Gruppe. | |
| Damals sagte der Sprecher der Familie, Josef Jim, gegenüber der | |
| Hildesheimer Allgemeinen Zeitung: „Wir haben nur noch Angst.“ Er berichtete | |
| von Passant*innen, die riefen, die Familie solle verschwinden, und die | |
| Familienmitglieder jagten. Die Behörden seien in der Situation auch keine | |
| große Hilfe gewesen, sagte Jim. | |
| Daraufhin verließ die Familie den Freibadparkplatz und mietete den | |
| Aral-Parkplatz an der A7 in Bockenem. Doch auch dort sollte keine Ruhe für | |
| die verfolgte Minderheit einkehren. Kaum war die Familie angekommen, sprach | |
| sich ihr Aufenthalt herum. Das gesamte Wochenende über soll es zu | |
| Anfeindungen gekommen sein. | |
| Die Hildesheimer Allgemeine Zeitung berichtet, Anwohner*innen seien | |
| hupend um den Aufenthaltsort der Familie herum gefahren, von Beschimpfungs- | |
| und Hasstiraden ist die Rede. Mehrfach kam die Polizei wegen Ruhestörungen, | |
| Bedrohungen und Sachbeschädigungen, wie ein Beamter der lokalen | |
| Polizeiinspektion der taz bestätigte. Anwohner*innen hatten den Notruf | |
| gerufen, weil sie sich von den Pöbeleien durch die Bockenemer gestört | |
| fühlten. Die Beamt*innen sprachen mehrere Platzverweise aus. Der Gipfel | |
| des antiziganistischen Momentums in Bockenem war am Sonntagmittag mit den | |
| Schüssen in die Luft erreicht. | |
| Nur ein „dummer Jugendstreich“ sei das gewesen, behaupten der ermittelte | |
| Schütze und der Fahrer des Wagens bei der Polizei. Die ist nachsichtig mit | |
| den 24-Jährigen und sieht von einer Hausdurchsuchung ab, da die Waffe | |
| freiwillig übergeben worden sei. Das bestätigt die zuständige | |
| Staatsanwaltschaft Hildesheim. Sie ermittelt lediglich wegen eines | |
| Verstoßes gegen das Waffengesetz. Ein politisches Motiv will die Sprecherin | |
| Christina Wotschke nicht erkennen. | |
| Andreas Glock, der Bürgermeister von Bockenem verurteilte die Tat scharf: | |
| „Das geht gar nicht“, sagte er der taz am Telefon. Ein Problem mit extrem | |
| Rechten gäbe es seiner Meinung aber nicht in der Kleinstadt. | |
| Für Mario Franz, Vorstand des [1][Niedersächsischen Verbands deutscher | |
| Sinti e.V.], kommen die Anfeindungen wenig überraschend, seien deswegen | |
| aber nicht weniger erschreckend. Europaweit gehörten sie zum Alltag der | |
| Sinti*zze und Rom*nja. „Anhand der Diskriminierungsfälle, die uns in der | |
| niedersächsischen Beratungsstelle für Sinti*zze und Rom*nja zugetragen | |
| werden, lässt sich erkennen, dass die Tendenz zum Antiziganismus in den | |
| letzten Jahren in besorgniserregendem Maß zugenommen hat.“ | |
| Am Montagnachmittag war von den Betroffenen auf dem Rasthof keine Spur mehr | |
| zu finden. In einer Bockenemer Facebookgruppe wird derweil weiter gehetzt. | |
| Wo die Sinti*zze und Romn*ja jetzt sind, ist unklar. | |
| 27 Jan 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Michael Trammer | |
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