| # taz.de -- Rassismus-Studie und Horst Seehofer: Fakten gegen den Status quo | |
| > Vieles spricht dafür, repräsentative Daten zur ethnischen Herkunft und zu | |
| > Diskriminierungserfahrungen zu erheben. Auch wenn das Thema sensibel ist. | |
| Bild: Rassismus: umstrittener Bahnhofsname in Berlin, umstrittene Datenerhebung… | |
| Wir müssen reden. Denn wir haben ein Problem. Horst Seehofer hat eine breit | |
| angelegte Studie zu Rassismus in der Gesellschaft angekündigt. Über den | |
| genauen Umfang und die Methodik der geplanten Studie ist bisher nichts | |
| bekannt. Dabei ist aber gerade die Methodik das Entscheidende, denn eine | |
| weitere Studie zur Verbreitung von [1][Rassismus] und | |
| Ausländerfeindlichkeit in der deutschen Gesamtbevölkerung hätte keinen | |
| Mehrwert. Da es bisher keine repräsentativen statistischen Informationen | |
| zur Verbreitung von Diskriminierungserfahrungen aufgrund der ethnischen | |
| Herkunft gibt, müsste man Menschen, die von Rassismus betroffen sind, | |
| direkt befragen. | |
| Und genau das ist das Dilemma, denn es würde bedeuten, es müssten | |
| entsprechende Angaben erhoben werden. Sind wir dazu bereit? Die Erhebung | |
| dieser Daten ist gerade in Deutschland ein sensibles Thema. Es ist zwar | |
| bekannt, wie viele Menschen im Land einen Migrationshintergrund haben, aber | |
| diese Daten lassen nicht immer Rückschlüsse über die Diskriminierung | |
| aufgrund der ethnischen Herkunft zu: Dafür kommt es vor allem darauf an, ob | |
| eine Person als „fremd“ oder „nicht weiß“ wahrgenommen wird. | |
| Wenn es um die Erhebung von Daten zur ethnischen Herkunft und | |
| diesbezügliche Diskriminierungserfahrungen geht, gibt es Gewichtiges, was | |
| dafür, und manches, was dagegen spricht: Um strukturellen Rassismus sicht- | |
| und belegbar machen zu können, bedarf es aussagekräftiger Daten. Ansonsten | |
| kann man der Behauptung, bei [2][strukturellem Rassismus] handele es sich | |
| nur um Einzelfälle – so wie aktuell bei der Aufdeckung rechtsradikaler | |
| Strukturen in der Polizei postuliert wird –, keine Fakten entgegensetzen. | |
| Es bliebe eine Diskussion im luftleeren Raum, die denen nützt, die alles | |
| verleugnen, was über den eigenen Erfahrungshorizont hinausgeht, und den | |
| geliebten, weil so gemütlichen Status quo bloß nicht ändern wollen – den | |
| Konservativen. | |
| Andererseits zeigt der Blick in die deutsche Vergangenheit, dass Daten zur | |
| ethnischen Herkunft auf abscheuliche Art und Weise missbraucht wurden. | |
| Während des NS-Regimes wurden amtliche Statistiken und das Meldewesen | |
| gezielt darauf ausgerichtet, Bevölkerungsgruppen zum Zweck ihrer | |
| Vernichtung zu identifizieren und zu selektieren. Deshalb lehnt der | |
| [3][Zentralrat Deutscher Sinti und Roma] eine Erfassung ethnischer Daten | |
| bis heute grundsätzlich ab. Mit Blick auf das beängstigende Revival rechten | |
| Gedankenguts und rechter Parteien darf man die Sorge der Sinti und Roma | |
| nicht als übertrieben abtun. Die Demokratie ist ein fragiles Gebilde, das | |
| nur durch den Willen der Mehrheit aufrechterhalten wird. Sollten sich die | |
| Mehrheitsverhältnisse ändern und das Pendel nach rechts ausschlagen, muss | |
| sichergestellt sein, dass der Staatsapparat Daten zur ethnischen Herkunft | |
| keinesfalls einzelnen Individuen zuordnen kann. | |
| ## Minimalinvasive Präzision | |
| Ein weiterer Einwand, der sich gegen die Erhebung von Daten zur ethnischen | |
| Herkunft ins Feld führen ließe, ist der der Förderung der | |
| gesellschaftlichen Spaltung, wie man sie in den USA vorfindet. Die | |
| einzelnen ethnischen Gruppen leben und lieben überwiegend unter und kämpfen | |
| fast ausschließlich für sich. Dies liegt jedoch nicht an Formularen, die | |
| nach der ethnischen Herkunft fragen, sondern an der US-amerikanischen | |
| Gesellschaftsstruktur und dem Prinzip des Individualismus, wonach sich die | |
| eigene ethnische Community als einzig denkbare Erweiterung des eigenen | |
| Selbst darstellt. Solche Daten sollten hier auch nicht, wie in den USA | |
| üblich, bei Behörden, im Bildungs- und Gesundheitswesen oder in der | |
| (Straf-)Justiz erhoben werden. Eine derart inflationäre Datensammlung ist | |
| zum einen nicht geboten und könnte zum anderen zu diskriminierenden Zwecken | |
| missbraucht werden und rassistische Ressentiments noch befeuern. | |
| Den vorgenannten Bedenken und Einwänden lässt sich begegnen, indem man bei | |
| der Erhebung von Daten zur ethnischen Herkunft mit minimalinvasiver | |
| Präzision vorgeht. Diese Daten sollten mittels der anonymen | |
| Selbstidentifizierung sowie der selbst wahrgenommenen Fremdzuschreibung und | |
| auf freiwilliger Basis erhoben werden, auch wenn dies zu Abstrichen bei der | |
| Repräsentativität der Erhebung führen kann. | |
| Konkret umgesetzt werden könnte die Erfassung der ethnischen Herkunft | |
| beispielsweise im Rahmen des jährlich stattfindenden Mikrozensus, einer | |
| repräsentativen Mehrzweckstichprobe und mit der Befragung von etwa einem | |
| Prozent der Bevölkerung in Deutschland die größte Erhebung. | |
| ## Afrozensus als erster Schritt | |
| Eine Blaupause für dieses Vorgehen liegt bereits vor: Die Soziologinnen | |
| Anne-Luise Baumann, Linda Supik und die Sozialpädagogin Vera Egenberger | |
| haben 2018 im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes eine | |
| Expertise zur „Erhebung von Antidiskriminierungsdaten in repräsentativen | |
| Wiederholungsbefragungen“ erstellt und konkrete Umsetzungsvorschläge | |
| gemacht. Eine Erhebung von Daten zur ethnischen Herkunft im Rahmen des | |
| Mikrozensus scheint ein gangbarer Weg zu sein. Sehr wichtig, so betonen die | |
| Expertinnen, wäre dabei die frühzeitige Einbindung von | |
| Interessenvertretungen der von Rassismus betroffenen Gruppen schon bei der | |
| Konzeption der Fragen, um die nötige Aufklärungsarbeit zu leisten und die | |
| eigenen Communitys von der Wichtigkeit der Teilnahme zu überzeugen. | |
| Mit dem Afrozensus hat die afrodeutsche Community den ersten Schritt | |
| gemacht. Dennoch sollte es nicht ausschließlich von Rassismus betroffenen | |
| Gruppen überlassen werden, entsprechende Daten zu erheben. Denn dann | |
| besteht die Gefahr, dass aufgrund einer zu geringen Zahl von Befragten und | |
| uneinheitlicher Methoden die Aussagekraft dieser Studien infrage gestellt | |
| und sie von Entscheidungsträgern unzureichend beachtet werden. | |
| Interessant wird, ob und wie sich Horst Seehofer diesem Thema widmen wird. | |
| 6 Oct 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Johanna Soll | |
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