| # taz.de -- Fassbinder-Film „Enfant Terrible“: Wirklichkeit ist kälter als… | |
| > Oskar Roehler inszeniert das Leben des streitbaren Regisseurs Rainer | |
| > Werner Fassbinder. „Enfant Terrible“ ist spartanisch und bewusst | |
| > künstlich. | |
| Bild: Rainer Werner Fassbinder (Oliver Masucci, links) bei Dreharbeiten zu „L… | |
| 75 Jahre wäre [1][Rainer Werner Fassbinder] am 31. Mai geworden; pünktlich | |
| zu diesem Jubiläum hätte [2][Oskar Roehlers] Biopic über Leben und Werk des | |
| bedeutendsten deutschen Regisseurs der Nachkriegszeit, vielleicht auch der | |
| ganzen Filmgeschichte, ins Kino kommen sollen. Die Coronapandemie hat das | |
| verhindert, hat auch verhindert, dass [3][„Enfant Terrible“ beim | |
| Filmfestival in Cannes seine Weltpremiere erleben] konnte, wohin er | |
| zumindest eingeladen war. | |
| In welcher Sektion er gezeigt worden wäre, muss offen bleiben. Angesichts | |
| der Cinephilie von Cannes-Chef Thierry Frémaux wäre auch ein Platz im | |
| Wettbewerb nicht unwahrscheinlich gewesen, was ironisch und bezeichnend | |
| gewesen wäre, denn die Berlinale hatte Oskar Roehlers Film offenbar | |
| abgelehnt. | |
| Wie so vielen deutschen Künstlern und vor allem Filmemachern war es für | |
| Fassbinder leichter, in der Fremde Anerkennung zu finden, während er im | |
| eigenen Land zwar nicht gerade auf Ablehnung stieß, aber doch immer wieder | |
| gegen Wände lief. „Ich will doch nur, daß ihr mich liebt“, heißt geradezu | |
| programmatisch dann auch einer von Fassbinders über 40 Kino- und | |
| Fernsehfilmen, die der manisch Arbeitende in knapp 13 Jahren zwischen 1969 | |
| und 1982 inszenierte. | |
| Die Suche nach Liebe und Anerkennung ist auch der lose rote Faden, der sich | |
| durch Roehlers episodenhaften Film zieht, der mit Fassbinders | |
| künstlerischen Anfängen am Münchner Action-Theater beginnt. Schon damals | |
| muss der noch junge Fassbinder ein autoritärer, von sich und seinen | |
| künstlerischen Fähigkeiten überzeugter Mann gewesen sein, der Schauspieler | |
| herumscheuchte und unbedingten Gehorsam verlangte. | |
| Trotzdem scharte Fassbinder im Lauf der Jahre eine Riege künstlerischer | |
| Mitarbeiter um sich, die ihm durch dick und dünn folgten, die ihm nach | |
| eigenen Aussagen geradezu hörig waren: Kurt Raab, Peer Raben, Günther | |
| Kaufmann oder [4][Irm Hermann] sind hier zu nennen, auch Barbara Sukova | |
| oder Hanna Schygulla. | |
| Letztere tauchen in „Enfant Terrible“ als Figuren unter Pseudonym auf, | |
| vermutlich aus rechtlichen Gründen, denn im Gegensatz zu vielen anderen | |
| Figuren aus dem Fassbinder-Kosmos sind die beiden Schauspielerinnen noch am | |
| Leben und haben womöglich einen etwas anderen Blick auf Fassbinder und | |
| seine Welt, als sie Roehler und sein Drehbuchautor Klaus Richter hier | |
| zeigen. | |
| Wer dagegen vorkommt, sind El Hedi ben Salem und Armin Meier, zwei der | |
| großen Lieben in Fassbinders Leben und – so muss man es wohl nennen – zwei | |
| seiner tragischsten Opfer. Den Marokkaner ben Salem lernte Fassbinder in | |
| einer Sauna in Frankreich kennen, holte ihn und später seine Familie nach | |
| Deutschland und besetzte ihn in „Angst essen Seele auf“ neben Brigitte | |
| Mira. | |
| Meier war Barkeeper in München und nahm sich ebenso das Leben wie ben | |
| Salem. Zu diesem Zeitpunkt, Mitte, Ende der Siebziger, ist der von Oliver | |
| Masucci gespielte Fassbinder schon zunehmend den Drogen und dem Alkohol | |
| verfallen, werden Flaschen und Koks zu bestimmenden Requisiten in einem | |
| ansonsten geradezu spartanischen Film. | |
| Denn Roehler hat eine radikale Entscheidung getroffen, vielleicht auch aus | |
| finanzieller Hinsicht, denn trotz des Sujets war das Budget knapp: Nicht an | |
| Originalschauplätzen, schon gar nicht im Ausland wurde gedreht, sondern | |
| ausschließlich im Studio, in Kulissen, deren Künstlichkeit nicht kaschiert, | |
| sondern offensiv ausgestellt wird. | |
| ## Der Rest ist künstlich | |
| Wenn da etwa eine Bar zu sehen ist, sind Türen, Fenster und der | |
| Zigarettenautomat deutlich als gemalt zu erkennen, Innenräume sind nur mit | |
| ein paar Stühlen, einem Tisch oder Bett angedeutet, der Rest ist künstlich, | |
| wirkt wie eine Bühne. | |
| Der Effekt dieser radikalen künstlerischen Entscheidung ist, dass kaum zu | |
| unterscheiden ist, wenn Fassbinder am Set eines Films steht oder mit einem | |
| Liebhaber im Bett liegt: Fiktion und Realität verschmelzen, werden zu einem | |
| großen Ganzen, so wie wohl auch in der Fassbinder’schen Realität die | |
| Grenzen oft fließend waren, zwischenmenschliche Konflikte seiner Equipe die | |
| Filme befruchteten und umgekehrt. | |
| Als Gesamtkunstwerk inszeniert Oskar Roehler also das Leben und Werk von | |
| Rainer Werner Fassbinder, als exzessive, zunehmend tragische, von rastlosem | |
| Schaffensdrang befeuerte Existenz. Erst ganz am Ende kam die wirkliche | |
| Anerkennung im eigenen Land, der Goldene Bär für „Die Sehnsucht der | |
| Veronika Voss“. Im Februar 1982 war das, keine vier Monate vor Fassbinders | |
| Tod, der mit nur 37 Jahren ausgebrannt nach Jahren des Exzesses und der | |
| Überarbeitung starb. | |
| Als tragische Figur zeichnen ihn Roehler und Masucci in „Enfant Terrible“, | |
| als Berserker, der sich und sein Umfeld zu außerordentlichen künstlerischen | |
| Leistungen antrieb und dafür alles andere zurückstellte. Das Ergebnis war | |
| ein reiches, abwechslungsreiches Œuvre, das wie kein anderes Deutschland | |
| und die deutschen Befindlichkeiten der Nachkriegszeit sezierte, hart und | |
| schonungslos, in der Darstellung von anderen, aber auch in der Analyse | |
| eigener Schwächen und Versäumnisse. | |
| Ein wahres Enfant terrible, ein großer, streitbarer Künstler, den Roehler | |
| und vor allem auch Masucci kongenial würdigen. | |
| 30 Sep 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Michael Meyns | |
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