| # taz.de -- Queerer Spielfilm „Vento seco“ auf DVD: Choreografie der Begier… | |
| > Daniel Nolascos Spielfilm „Vento seco“ verwischt elegant die Grenzen | |
| > zwischen Fantasie und Realität. Die Lust setzt darin die Prioritäten. | |
| Bild: In „Vento seco“ geht Sandro (Leandro Faria Lelo) auf eine emotionale … | |
| Ob der staubige Boden der Eukalyptusplantage der richtige Ort für Sex ist? | |
| Wieso eigentlich nicht. Sandro (Leandro Faria Lelo), ein kräftiger, | |
| haariger Mann mittleren Alters, trifft dort seinen Kollegen Ricardo (Allan | |
| Jacinto Santana), jung, schlank, getrimmter Vollbart. Vorausgegangen waren | |
| Blicke vom Rand des Schwimmbeckens, in dem sich beide vor ihrer Schicht als | |
| Fabrikarbeiter vom trockenen Wind im Mittelwesten Brasiliens erfrischen. | |
| Nicht nur Ricardo hat Sandros Begehren mitbekommen: Die Anfangssequenz von | |
| Daniel Nolascos „Vento seco“ zeigt pralle Männerbadehosen, leinwandfüllend | |
| und für Sandro gedankenabsorbierend. Umschweife sind überflüssig. | |
| Um das unausgesprochene, aber im Verborgenen ausgelebte Begehren Sandros | |
| hat Nolasco seine Geschichte von Freundschaft, Passion und queerem | |
| (Arbeits-)Alltag drapiert: Sandros und Ricardos heimliche, regelmäßige | |
| Stelldicheins verlassen nie die Sexebene, sie erreichen nicht einmal | |
| Sandros Träume, in denen Lederschwule menschliche Hunde glücklich machen. | |
| Doch plötzlich steht Maicon (Rafael Theóphilo) mit dem Motorrad vor dem | |
| Supermarkt, in dem Sandro einkauft. Der Muskelmann wirkt, als sei er einer | |
| Leder-Fantasie entsprungen – inklusive gespiegelter Sonnenbrille und | |
| Schnauzer. Dem wortkargen Sandro, der zu Hause Bilder von Ruderbooten | |
| puzzelt, und dem Anliegen seiner Freundin und Kollegin Paula ([1][Renata | |
| Carvalho]), die Gewerkschaft zu stärken, nur unwillig folgt, sieht man die | |
| Kulmination der Fragen an: Will er Maicon? Will der ihn? Und wenn ja – auf | |
| welche Weise? | |
| Die selbstbewusste Eindeutigkeit eines „gay gaze“ zieht sich wie ein roter | |
| Faden durch den Film. Ansonsten verzichtet der Regisseur und Drehbuchautor | |
| auf greifbare Handlungsstränge. | |
| Ja, die Situation der Arbeiter*innen in der Kunstdüngerfabrik spielt | |
| eine Rolle; ja, eine Anekdote aus der Vergangenheit Sandros scheint die | |
| Homophobie der provinziellen Umgebung zu bestätigen; ja, die Vertrautheit | |
| zwischen Sandro und der von einer trans Schauspielerin verkörperten Paula | |
| wird eine Vorgeschichte haben; und ja, dass der nahe gelegene See einst ein | |
| Tal war, dass ein Staudamm ihn geschaffen hat, dass man demzufolge sogar | |
| die titelgebenden trockenen Winde in einem größeren klimatischen | |
| Zusammenhang sehen könnte – all das lässt Nolasco mitschwingen, führt es | |
| aber nicht aus. | |
| ## Geschichte mit auffällig schönem Sound | |
| Denn es geht um die Lust Sandros, und die setzt die expliziten Prioritäten. | |
| Sandros Träume, welche die windige Trockenheit der Umgebung befeuchten wie | |
| Speichel und Samen, die der Liebhaber beim Sex in seinen Mund tropfen | |
| lässt, sind die Tonart, in der die Geschichte schwingt – mit auffällig | |
| schönem Sound: Schlager mit eindeutig-zweideutigen Texten wechseln sich mit | |
| einem ausdrucksstarken, orchestralen Score ab. | |
| Die spendablen echten und geträumten Sexszenen, auf die der Film vor allem | |
| am Anfang oft setzt, festigen die surreale Atmosphäre – in hübschen | |
| Retro-Kamerazooms und mit neonbeleuchteten Settings verwischt der Regisseur | |
| elegant die Grenzen zwischen Fantasie und Realität, denn die spielen, man | |
| ahnt es, für Sandro ohnehin keine große Rolle. | |
| Als Sandro mit Paula den lokalen Rummel, das „Livestock Festival“ besucht | |
| und sich in das berüchtigte „Loop“-Fahrgestell setzt, das die Gäste | |
| sekundenlang kopfüber in der Luft schweben lässt, schwingt sich der schöne, | |
| noch fremde Maicon plötzlich auf den Platz neben ihn – und nimmt angesichts | |
| des wackeligen Karussell-Erlebnisses Sandros Hand fest in die seine. | |
| ## Den Schweiß des anderen in der eigenen Hand riechen | |
| Das stellt Sandros Leben doppelt auf den Kopf: Nachdem Maicon ausgestiegen | |
| ist, leckt und riecht Sandro versunken den Schweiß des anderen in der | |
| eigenen Hand nach – Fetisch und seine vielen individuellen Auswirkungen | |
| werden vom Regisseur auf eine beiläufige, erwachsene Art inszeniert, weder | |
| als Selbstzweck, noch prüde, noch handlungstreibend. | |
| Später, als sich Ricardo und Maicon näherkommen, empfindet der in | |
| Gefühlsdingen stoische Sandro gar ein für ihn neues Sentiment: brennende | |
| Eifersucht, die ihn zu einer in anderen Filmen oft als typische | |
| hetero-weibliche Geste konnotierten Aktion treibt. Er zerkratzt Ricardo | |
| dessen rotes Auto, in dem beide schon oft Sex hatten. Und nebenbei passiert | |
| noch weitaus Schlimmeres – was aber, im Gegensatz zu Sandros emotionaler | |
| Karussellfahrt, für die Handlung kaum nachhaltig ist. | |
| Man kann „Vento seco“, der in diesem Jahr im Panorama der Berlinale lief, | |
| all das vorwerfen – dieses etwas verschlafene, etwas oberflächliche | |
| Verharren in der visuellen und sexuellen Lust, das Desinteresse an der | |
| Geschichte, das einen als Zuschauer*in zuweilen ebenfalls abschweifen | |
| lässt, ganz unabhängig davon, wie viele Schauwerte haarige Männer in | |
| Badehosen je nach Gusto bieten. | |
| Doch vielleicht sollte man den Film weniger als Geschichte im Sinne von | |
| „Story“, sondern als einen Tanz begreifen: Geschult an den | |
| [2][schwul-sinnlichen Bildern von Fassbinder] und [3][Almodóvar], ist | |
| „Vento seco“ eine Choreografie der Begierde. Und die lodert, man kennt es, | |
| eben nicht immer stark und sinnvoll. | |
| 13 Jan 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jenni Zylka | |
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