| # taz.de -- Film „Yes, God, Yes“ auf Amazon und DVD: Sex und Sünden | |
| > Zwischen Humor und Selbsterfahrung: Im Spielfilmdebüt von Karen Maine | |
| > lernt eine Internatsschülerin die katholische Doppelmoral kennen. | |
| Bild: Alice's (Natalia Dyer) Blick deckt die gesamte Bandbreite zwischen „tee… | |
| „Du brauchst keine Armbanduhr, denn hier gilt Jesus’ Zeit!!!!“ Hmpf. Ganz | |
| so weltabgewandt hatte sich Alice (Natalia Dyer) das von ihrer streng | |
| katholischen Highschool organisierte „Retreat“-Wochenende nicht | |
| vorgestellt. | |
| Denn die schüchterne 16-Jährige, deren Freundin Laura (Francesca Reale) ihr | |
| ständig Vorhaltungen über Alices angeblich exzessives Sexualverhalten macht | |
| („Du hast dir die Autodeck-Szene bei ‚Titanic‘ doch mehrfach angeschaut!�… | |
| hat noch mehr Probleme: Seit ein paar Tagen kursiert in der Schule das | |
| Gerücht, Alice habe bei ihrem Mitschüler Wade (Parker Wierling) „tossing | |
| the salad“ betrieben. Und allmählich keimt in dem Mädchen die Erkenntnis, | |
| dass „tossing the salad“ gar nichts mit Salat zu tun hat … | |
| Karen Maines Debütfilm spielt in einer speziellen Zeit: Draußen versickert | |
| das Jahr 2000 zaghaft in der digitalen Ära, auf den grünlichen Displays der | |
| knüppeldicken Handys wird „Snake“ gespielt, und bevor man „You’ve got | |
| mail!“ zu hören bekommt, piepst es grauenerregend. Und drinnen, im Inneren | |
| von Protagonistin Alice, herrscht tiefste Pubertät. | |
| Zwar weiß die katholisch aufgewachsene Alice, deren Vater sie als seinen | |
| „Lieblingskirchenbesuchskumpel!“ bezeichnet, dass Sex vor der Ehe und damit | |
| auch Masturbation strengstens verboten ist. Aber sie ist neugierig auf | |
| alles Körperliche: Auf das, was Leo und Kate hinter den beschlagenen | |
| Autoglasscheiben treiben, kurz bevor die „Titanic“ untergeht. Auf das, was | |
| sie zwischen ihren Beinen fühlt, wenn sie sich behaarte Männer anschaut. | |
| Auf das Unaussprechliche eben. | |
| ## Sexchat mit „HairyChest1956“ | |
| Über das man ja vielleicht probehalber zumindest schreiben könnte: Als | |
| Alice, die sich in dürftig aufgemachten „Chatrooms“ herumtreibt, eine | |
| Nachricht und ein paar „saucy pics“ von „HairyChest1956“ bekommt, läss… | |
| sich mutig auf ihren ersten Sexchat ein. | |
| „Ich ziehe dir den Slip mit den Zähnen aus … Du bist klitschnass“, schre… | |
| der Unbekannte. „Was machst du mit mir?“ Nach ein paar Sekunden | |
| Überraschung und Überlegen tippt Alice nichtsahnend in die klappernde | |
| Tastatur: „Ich ziehe dir die Boxershorts aus. Du bist auch nass …“ | |
| Es ist ein absolutes Vergnügen, der durch [1][„Stranger Things“] bekannt | |
| gewordenen Hauptdarstellerin Natalia Dyer in Maines Coming-of-Age-Drama | |
| zuzuschauen: Wie sie mit nur einer Bewegung der zweifelnden Augenbrauen die | |
| gesamte Bandbreite zwischen „teenage lust“ und Naivität abdeckt. Wie sie | |
| angesichts der haarigen Unterarme des Retreat-Betreuers Chris (Wolfgang | |
| Novogratz mit stattlichem Armtoupet) ins Träumen gerät. | |
| Und wie sie nicht nur herauskriegt, was „tossing the salad“ bedeutet | |
| (Anilingus), sondern auch langsam hinter die Doppelbödigkeit und -moral der | |
| betont keuschen und angestrengt religiösen Betreuer*innen und | |
| Mitschüler*innen kommt, die das eine sagen, aber das andere | |
| praktizieren. | |
| ## Flucht in die Lesbenbar | |
| Lange funktioniert die Mischung aus Humor und Selbsterfahrung in Maines | |
| Film großartig: Immer mehr wird Alice von ihren christlich verstrahlten | |
| Retreat-Kolleg*innen niedergeputzt, bis sie eines Abends flüchtet und in | |
| einer gemütlichen, rockmusik- und rauchgeschwängerten Lesbenbar landet. | |
| Dort sitzt eine ältere Frau mit Lederjacke am Tresen und fragt das | |
| verstörte Mädchen: „Rough Day?“ Welch eine Idee für einen Wendepunkt –… | |
| Pubertistin muss es doch himmlisch sein, genau dann eine schlaue, | |
| verständige Lesbe zu treffen, wenn man sie am meisten braucht. | |
| Doch „Yes, God, Yes“ verliert seinen Fokus: Der letzte Teil der Story | |
| fehlt, der klassische Aufbau der charmanten Backfisch-Erkenntnissuche läuft | |
| nach einer erwartbaren Kulmination recht sang- und klanglos aus. Einige der | |
| angedeuteten Handlungsstränge werden abgewürgt, und für die immerhin bis | |
| zur ausgebeulten Jogginghose führende Begegnung zwischen Alice und dem | |
| grübchenstark lächelnden Chris hätte man auch gern mehr Zeit gehabt. | |
| Dennoch: Immerhin erzählt der Film seine Geschichte, anders als die | |
| ähnliche Themen in einer ähnlichen Lebensphase untersuchende, fabelhafte | |
| [2][Netflix-Serie „Sex Education“], komplett aus weiblicher Sicht. Hier | |
| steht nicht der legendäre hormonelle Tumult heranwachsender Jungen im | |
| Vordergrund, sondern ganz selbstverständlich die ebenso starke Lust eines | |
| zeitweise verwirrten Mädchens. | |
| Ob Generation-Z-Teens die Unwissenheit ihrer vor 20 Jahren pubertierenden | |
| Vorgänger*innen nachvollziehen können, selbst wenn sie ebenfalls unter | |
| körper- und sexualfeindlicher apodiktischer katholischer Kirchenmoral | |
| aufwachsen? Vermutlich nicht – in einer Zeit, in der man seine Kinder früh | |
| persönlich aufklären und über alles Menschliche informieren sollte, weil es | |
| sonst (sogar in katholischen Internaten) das ungefilterte Internet tut, | |
| wirkt die Ahnungslosigkeit von Alice fast anachronistisch. | |
| Insofern ist „Yes, God, Yes“ trotz Drehbuchschwächen auch die brillante | |
| Dokumentation einer Zeit, in der das WWW einem vielleicht noch nicht im | |
| Bruchteil von Sekunden lehrreiche Bilder jeder erdenkbaren Sexpraktik | |
| aufzwang. Aber das machte das (Sexual-) Leben nicht leichter. Nur gut, dass | |
| Alice irgendwann entdeckt, wie man das Handy auf Vibration stellt. | |
| 3 Feb 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jenni Zylka | |
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