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# taz.de -- Fassbinder-Dokumentarfilm auf DVD: Annäherung an brachiale Mythen
> Zum 75. Geburtstag von Rainer Werner Fassbinder erscheint die Doku
> „Fassbinder – lieben ohne zu fordern“ als DVD. Der Film ist ein intimes
> Porträt.
Bild: Rainer Werner Fassbinder und sein Porträtist Christian Braad Thomsen
Prinz oder Kröte? Genie oder Bürgerschreck? Sonnenkönig oder Gruppenmensch?
Förderer oder Ausbeuter? Um keinen anderen deutschen Filmregisseur der
letzten Jahrzehnte ranken sich ähnlich viele Zuschreibungen wie um Rainer
Werner Fassbinder.
Die schiere Fülle seines Werks – sechzig Kino- und Fernsehfilme, zahllose
Drehbücher, dreißig Theaterinszenierungen, mehrere Hörspiele sowie
Filmessays und Gedichte in nur fünfzehn Jahren Karriere – fasziniert, zumal
selbst prominente Filmschaffende heute mehrere Jahre auf die Finanzierung
ihres nächsten Projektes warten müssen.
Doch das Umfeld des Neuen deutschen Films, die Aufbruchsstimmung, die nach
1968 im Fernsehen und unter Förderern weiterwirkte und
Produktionsbedingungen schuf, die Fassbinders extremen Schaffensdrang
begünstigten, gerät aus dem Blick. Er war das Alphatier des Neuen deutschen
Films. Mit seinem überraschenden Tod 1982 verlor die Marke an Glanz, an
Überzeugungskraft und Unterstützung, just in dem Moment, in dem die
internationalen Festivals das deutsche Kino wieder ernst zu nehmen
begannen.
Fassbinder starb zu früh, um mit der geballten Wucht seines Punk-Gehabes
gegen die einsetzende Verkrustung zu polemisieren oder aber im
internationalen Arthouse-Kino Fuß zu fassen. Sein Werk gehört heute zu den
am besten archivierten, digitalisierten, beforschten und verfügbar
gemachten, es ist durch die widersprüchlichen Anekdoten seiner Stars und
Mitarbeiter mit einer Aura versehen, hinter der der weitaus größere Teil
des Filmerbes seiner Zeit oft zu Unrecht zu verschwinden droht.
Annekatrin Hendel legte 2015 den von der Fassbinder Foundation initiierten
Dokumentarfilm „Fassbinder“ vor, eine Werk-Chronik, die seine Filme anhand
von Statements über seine schillernde Persönlichkeit mythisch aufzuladen
versuchte.
## Immense Produktivität, anarchistische Lebensphilosophie
Eine andere, ebenso persönliche wie distanzierte Annäherung gelang dem
dänischen Filmemacher Christian Braad Thomsen, dessen Porträt „Fassbinder �…
lieben ohne zu fordern“ 2015 bei der Berlinale Premiere feierte und beinahe
unterging. Jetzt zu Fassbinders 75. Geburtstag am 31. Mai als DVD
veröffentlicht, bietet Thomsens Film eine angenehm intensive Chance, die
Spuren seiner immensen Produktivität, seiner existentialistisch-
anarchistischen Lebensphilosophie und seine Kino-Leidenschaft bis in die
Prägungen der Nachkriegszeit zurückzuverfolgen.
Christian Braad Thomsen lernte Fassbinder 1969 kennen, als er 1969 das
erste Mal zur Berlinale eingeladen wurde, wo sein Spielfilmdebüt, der
„deutsche“ Gangsterfilm „Liebe ist kälter als der Tod“ eingeladen war …
unter Buhrufen durchfiel. Auf das erste Interview mit dem trotz des
holpernden Beginns in Berlin schnell zum Shooting Star des Neuen deutschen
Films avancierten Regisseur folgten viele Gespräche, die im Lauf von
Fassbinders Karriere in einem intensiven freundschaftlichen Austausch
stattfanden.
Fassbinder fühlte sich von Thomsen akzeptiert, offensichtlich von dessen
bürgerlicher Ausstrahlung angezogen, als würde der dänische Filmhistoriker
und Familienvater eine verborgene Kehrseite von Fassbinders narzisstischem
Selbstbild als Rimbaud-Bruder, Außenseiter und „wahnsinniges“ Genie
ansprechen.
## Private Aufzeichnungen
Dreißig Jahre ließ Thomsen sein Material ruhen, aus Furcht, sich mit
privaten, manchmal im Duktus einer psychoanalytischen Sitzung aufgenommenen
Aufzeichnungen auseinandersetzen zu müssen. Vor allem Fassbinders Aussagen
zu „Despair“ kurz vor seinem Tod und die darin verarbeitete Faszination für
den Wahnsinn als „Kur von der Gesellschaft“ und Ausdruck verzweifelter
Hoffnungslosigkeit schienen ihm zu mysteriös.
Es sind im Unterschied zu vielen anderen Fassbinder-Porträts jedoch diese
intimen, ungeschützten Selbstzeugnisse, die Thomsens abgeklärte, in sieben
Kapitel aufgefächerte Analyse der Turbokarriere des fremden Freundes und
ihrer psychologischen und historischen Voraussetzungen sehenswert machen.
Er nähert sich als Cineast, erzählt in seinem Off-Kommentar von der
Begeisterung für Fassbinders Filmsprache, die es möglich macht, „das Bild
wirklich zu erfassen“. Die Hommage zeigt anschaulich, dass Filmemachen
nicht nur eine Profession, sondern radikale Lebensform für Fassbinder war,
wie er als vernachlässigtes Kind das Kino als utopischen Fluchtraum
entdeckte und aus seiner chaotischen Kindheit in einer kriegsbedingt
zusammenlebenden Großfamilie ein diffuses Gefühl zwischen Aufgehobensein
und Verlassenheit kultivierte. Dies übertrug er später in seine Arbeits-
und Lebensform als dominanter Patron seiner Filmfactory.
## Surfen durch die Genres
Fassbinders Surfen durch die Genres wird deutlich, obwohl Thomsen nicht
viele Filmausschnitte zeigt, den Regisseur stattdessen ausführlich
beschreiben lässt, dass es darum ging, eine eigene cineastische Handschrift
zu entwickeln, im Bewusstsein, dass ihm die „Naivität“ seiner
Hollywood-Vorbilder abgeht.
Christian Braad Thomsen bietet Schlüssel zu Fassbinders gebrochener
Beziehung zur Nazi-Elterngeneration, seinem latent inzestuösen Verhältnis
zu seiner Mutter und dem starken Antrieb, sie durch zahlreiche Rollen als
Nazi-Mitläuferin in seinen Filmen für ihre eigene Geschichte „zu
bestrafen“.
Er gibt den Fassbinder-Stars wie der [1][am Dienstag gestorbenen Irm
Hermann] und Harry Bär viel Raum, um die Binnenwahrnehmung ihrer komplexen
Arbeits- und Beziehungsdramen mit Fassbinder offenzulegen. Filmemachen, aus
der Machtposition eines besessen Arbeitswütigen heraus, schien die einzige
Möglichkeit für ihn zu kommunizieren.
Prinz oder Kröte – die widerstreitenden Seiten seiner Persönlichkeit
gehören wie Spiegelbilder zusammen. Aus dem Kampf beider Seiten erklärt
sich vielleicht die Triebkraft von Fassbinders Kreativität. Unaufdringlich
und jenseits des gängigen Fassbinder-Kults macht Christian Braad Thomsen
jedoch deutlich, dass es Zeit ist, den Geniekult zu historisieren. Das
Selbstverständnis, Machtausübung und Kunst in eins zu setzen, ist nicht
erst seit #MeToo fragwürdig.
31 May 2020
## LINKS
[1] /Nachruf-auf-Irm-Hermann/!5686777
## AUTOREN
Claudia Lenssen
## TAGS
Dokumentarfilm
Rainer Werner Fassbinder
Neuer Deutscher Film
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Film
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Schwerpunkt Rassismus
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