| # taz.de -- Coronaleugner mit Reichsflaggen: Tabu Kaiserreich | |
| > Diejenigen, die sich heute den Kaiser zurückwünschen, hätten unter ihm | |
| > nichts zu lachen gehabt. Das deutsche Reich war eine harte | |
| > Klassengesellschaft. | |
| Bild: Die Freunde der Reichsflagge hätten im Kaiserreich nichts zu lachen geha… | |
| Der Mann [1][auf Spiegel TV] ist sich sicher. „Wir wollen unseren Kaiser | |
| zurück! Wir wollen zurück auf Ehrlichkeit, auf Menschlichkeit!“, sagt er | |
| auf einer Coronademo in Baden-Württemberg. [2][In Berlin] wird wenig später | |
| die Treppe des Parlamentsgebäudes von schwarz-weiß-roten Reichsflaggen | |
| geflutet. Während die Reichskriegsflagge – die mit dem Eisernen Kreuz in | |
| der Mitte – schon immer ein verkapptes Erkennungszeichen [3][von Neonazis] | |
| war, scheinen die Reichsflaggenschwenker, vor allem aber ihre Mitläufer, | |
| ein diffuseres Bild abzugeben. Ihr gemeinsamer Nenner ist offenbar: Sie | |
| fantasieren von einer Einheit zwischen „dem Volk“ und dem starken Mann an | |
| der Spitze, ohne lästige, korrupte Politiker dazwischen, die den | |
| „Volkswillen“ ignorieren. Und der Chef greift, wenn nötig, mal so richtig | |
| durch. | |
| Würden sie sich mit dem Kaiserreich ein bisschen näher beschäftigen – die | |
| Kette der Enttäuschungen wäre sehr lang. Das fängt mit dem Namensgeber an. | |
| Der durfte sich nicht „Kaiser von Deutschland“ nennen, sondern er hieß, | |
| ziemlich profan, „Deutscher Kaiser“. Ein feiner Unterschied und ein | |
| Kompromiss mit den Fürsten der Einzelstaaten, die sich nicht als Untertanen | |
| des neuen Kaisers sahen. Der Kaiser hatte Macht, aber sie war nicht | |
| absolut. Jede Entscheidung musste er sich vom Reichskanzler absegnen | |
| lassen, selbst öffentliche Reden. Zwar konnte der Kaiser den Kanzler | |
| jederzeit entlassen, aber ein starker Regierungschef wie Bismarck schaffte | |
| es, 19 Jahre lang drei Kaiser zu beeinflussen, gar zu lenken. | |
| Der Reichstag besaß für damalige Verhältnisse ziemlich viele Rechte. | |
| Gesetze mussten durch das Parlament gehen. Im Reichstag saßen Fraktionen, | |
| die im Laufe der Jahre feste Lager bildeten. Fraktionen, Parteien? Fänden | |
| diejenigen, sie sich heute hinter Reichsflaggen versammeln, wohl nicht so | |
| gut. | |
| Das Deutsche Reich war kein Führerstaat, sondern ein kompliziertes Geflecht | |
| aus Machtzentren, die sich gegenseitig relativierten. Hätten die heutigen | |
| Bewunderer des Kaiserreichs damals gelebt, hätten sie wohl, wie heute, von | |
| „denen da oben“ gesprochen. Denn auch das damalige politische Getriebe war | |
| auf den ersten Blick nicht leicht zu durchschauen. | |
| Sie wären außerdem entgeistert von den sehr unterschiedlichen politischen | |
| und sozialen Verhältnissen. Im Jahr 1892 brach in Hamburg die Cholera mit | |
| 8.500 Toten aus, weil der Stadtstaat das Trinkwasser direkt aus der Elbe | |
| bezog. Das benachbarte preußische Altona blieb von der Cholera verschont, | |
| dort wurde das Trinkwasser besser aufbereitet. Mittelalter und Moderne | |
| lagen ziemlich nahe beieinander – Föderalismus in Extremform. Und sehr | |
| wahrscheinlich hätten die Reichsfans, hätten sie damals gelebt, zur großen | |
| Mehrheit der Besitzlosen gehört. Wenn sie Fabrikarbeiter gewesen wären, | |
| hätten sie täglich 10 bis 12 Stunden schuften müssen, als Dienstmädchen in | |
| der Regel noch länger. Die Wohnbedingungen gerade in den Großstädten wären | |
| für sie elendig gewesen. | |
| Das Deutsche Reich war keine harmonische Volksgemeinschaft, sondern eine | |
| harte Klassengesellschaft. Die Regierungspolitik verschärfte die Spaltungen | |
| noch. Zwölf Jahre lang war die Sozialdemokratische Partei verboten. Während | |
| ihre Funktionäre als „Reichsfeinde“ verfolgt und ins Gefängnis gesteckt | |
| wurden, bildeten die Arbeiter eine Subkultur; sie schotteten sich ab, weil | |
| sie vom Staat wenig zu erwarten hatten. Wilhelm-Fans waren sie eher nicht – | |
| sie hatten einen eigenen Kaiser: den „Arbeiterkaiser“ August Bebel, den | |
| SPD-Vorsitzenden. | |
| Mit seinem sogenannten Kulturkampf versuchte Bismarck die katholische | |
| Kirche aus dem öffentlichen Raum zu drängen und ihren Einfluss zu | |
| beschneiden – was schließlich auch die Katholiken in die innere Emigration | |
| trieb. Der Kulturkampf hatte aber noch eine zweite Ebene: Er war ein Krieg | |
| des preußischen Rationalismus gegen diejenigen, die von einer alternativen, | |
| transzendenten Wahrheit überzeugt waren. Der preußische Staat schickte | |
| schon mal die Polizei vor, wenn es zu Massenaufläufen wegen angeblicher | |
| Marienerscheinungen kam. Menschen, die nicht der | |
| protestantisch-preußischen De-facto-Staatsreligion anhingen, waren | |
| marginalisiert. Auch esoterisch Veranlagte [4][und Impfgegner – auch die | |
| gab es damals schon] – hatten wenig zu lachen. Im Jahr 1874 wurde, von | |
| Preußen initiiert, das Reichsimpfgesetz auf den Weg gebracht, durch das | |
| für Kinder die Impfpflicht gegen die Pocken durchgesetzt wurde. Eltern, die | |
| dem nicht nachkamen, mussten mit Geld- oder Haftstrafen rechnen. | |
| Das Deutsche Reich war ein innerlich zerrissenes, mehrfach gespaltenes | |
| Staatsgebilde, dessen Widersprüche durch äußeren Pomp nur mühsam verdeckt | |
| wurden. Auch ohne den Ersten Weltkrieg wäre es sehr wahrscheinlich | |
| zusammengebrochen. | |
| Die Reichsfans wird man mit solchen Argumenten nicht erreichen können. Aber | |
| das Kaiserreich sollte aus der Tabuzone geholt werden. Gedenkpolitisch ist | |
| es eine Leerstelle; der Politik ist es entweder peinlich oder egal. Aber | |
| wie es mit Tabus so ist: Wird nicht darüber geredet, steigt bei vielen erst | |
| die Faszination dafür. Nicht nur bei den Demonstranten vor dem Reichstag. | |
| Auch in gediegenen Milieus kann es passieren, dass, natürlich erst nach dem | |
| dritten Whisky, dem Gast plötzlich die Liebe zum Kaiserreich gestanden | |
| wird. Geredet werden sollte auch über die verborgenen Erbschaften, die bis | |
| heute nachwirken: das Statusdenken breiter Schichten etwa, die sich nach | |
| unten abgrenzen; die oft maßlose Angst vor sozialer Deklassierung in der | |
| Mittelschicht. Oder die notorische Skepsis süddeutscher Bundesländer | |
| gegenüber „Berlin“. Reden über das Kaiserreich sollte gerade eine | |
| Bundesrepublik, die allen Ernstes [5][den Wohnsitz des ehemaligen Kaisers, | |
| auch als Berliner Schloss bekannt], wieder aufbauen lässt. Nächstes Jahr | |
| gibt es eine prima Gelegenheit für all das: Dann jährt sich die | |
| Reichsgründung zum 150. Mal. | |
| 17 Sep 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=bCaTX7gd32E | |
| [2] /Coronaproteste-in-Berlin/!5705179 | |
| [3] /Politologe-ueber-Demo-von-Coronaleugnern/!5706393 | |
| [4] http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/10458/1/dissertation_15_0… | |
| [5] /Debatte-um-das-Berliner-Stadtschloss/!5707717 | |
| ## AUTOREN | |
| Gunnar Hinck | |
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