| # taz.de -- Konsens-Sucht in Deutschland?: Moral statt Streit | |
| > Um die politische Streitkultur ist es in Deutschland schlecht bestellt. | |
| > Die „Cancel Culture“ befördert diese besorgniserregende Entwicklung. | |
| Bild: Ohne grundsätzliche Kritik ist der demokratische Geist auf Dauer nicht l… | |
| Streit gehört nicht nur zur Demokratie, er definiert sie. Ohne Freiheit zur | |
| Kritik kann es weder Demokratie noch Veränderung und Fortschritt geben. | |
| Einigkeit hingegen ist das Ideal totalitärer Systeme, die Pluralismus und | |
| Gewaltenteilung ablehnen. Überhaupt beruht Demokratie seit den ersten | |
| liberalen politischen Theorien von John Locke und Montesquieu auf der | |
| gegenseitigen Kritik von Legislative, Judikative und Exekutive: checks und | |
| balances. In Deutschland jedoch stand es schon lange vor der | |
| Cancel-Culture-Debatte der vergangenen Jahre schlecht um die demokratische | |
| Streitkultur. | |
| Wer in der deutschen Politik streitet, macht sich schnell unbeliebt. | |
| Konflikte gelten als Zeichen der Schwäche, der Kritiker tendenziell als | |
| Miesmacher. Das bekommen gegenwärtig die Ampel-Parteien in der Regierung | |
| und die Linkspartei in der Opposition zu spüren, während die (zumindest | |
| seit dem letzten Parteitag) demonstrativ geschlossene AfD ein Umfragehoch | |
| erklimmt. Glaubt man Umfragen, bevorzugen die Deutschen Einheit, würden am | |
| liebsten weiter von einer Großen Koalition aus regiert werden und | |
| interpretieren jeden Konflikt wahlweise als „Chaos“ oder als unnötigen | |
| „Zoff“. | |
| Die Klugheit der AfD besteht darin, sich nicht als Störenfried zu | |
| vermarkten, sondern als Opfer einer ungerechten, zänkischen Kritik. In | |
| ihrer Selbstdarstellung will sie zurück in harmonische Zeiten, in denen | |
| etwa „Genderideologen“ und Grüne noch nicht mäkelten. | |
| Vor genau 60 Jahren verglichen die Politikwissenschaftler Gabriel Almond | |
| und [1][Sidney Verba] in ihrer empirischen Studie „The Civic Culture“ die | |
| politische Kultur in fünf Nationen, wobei, wenig überraschend, die | |
| postfaschistischen Länder Deutschland und Italien besonders schlecht | |
| abschnitten. Die Bundesrepublik leide unter einer aus der absolutistischen | |
| und nationalsozialistischen Vergangenheit ererbten Kultur des | |
| Obrigkeitsdenkens und des Etatismus, urteilten Almond und Verba. | |
| „Das Erbe der autoritären Herrschaft hat in Deutschland eine politische | |
| Kultur produziert, in der der passive, konsumierende Bürger überwiegt“, | |
| schreiben sie. Von Kaiser Wilhelm II., [2][der keine Parteien, sondern nur | |
| noch Deutsche kennen wollte], bis zu den Nationalsozialisten, die gegen das | |
| „Parteiengezänk“ wetterten und Kritiker als „Diversionisten“ bezeichne… | |
| habe sich eine kulturell tief verankerte Abneigung gegen Streit und | |
| Abweichung etabliert. Allein schon Textgattungen wie diese, Essay, Polemik | |
| und Streitschrift, Genres der Kritik par excellence, haben sich hierzulande | |
| nie so etabliert wie in den wesentlich älteren angelsächsischen | |
| Demokratien. | |
| „Wer kritisiert“, schrieb Theodor W. Adorno in einem Artikel in der Zeit | |
| von 1969, vergehe sich, auch im „plötzlich demokratisch“ gewordenen | |
| Deutschland, gegen ein „Einheitstabu, das auf totalitäre Organisation | |
| hinauswill“. Der Kritiker werde als „Spalter“ denunziert, gemäß der | |
| Prämisse, dass Pluralismus per se schlecht sei. Umso fragwürdiger, dass | |
| noch im Jahr 2023 kaum eine Rede des Bundespräsidenten ohne die Warnung vor | |
| der „Spaltung der Gesellschaft“ auskommt. | |
| Ein wesentlicher Faktor beim Niedergang der Streitkultur in Deutschland | |
| spielt der Studie [3][„The Civic Culture“] zufolge die Passivität des | |
| Politikverständnisses der Bundesbürger. Im Vergleich zu den Sechzigern | |
| haben sich die Dinge in diesem Punkt noch dramatisch verschlechtert: Nicht | |
| nur die Anzahl der Mitglieder von Parteien, Gewerkschaften und anderen | |
| zivilgesellschaftlichen Organisationen ist besonders in den vergangenen 30 | |
| Jahren rapide zurückgegangen, sondern auch die Qualität der | |
| Mitgliedschaften, die inzwischen überall in etwa dem vom Kunden zu einem | |
| Dienstleister ähneln, wie der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch | |
| in seinem Buch „Postdemokratie“ schon vor knapp zwanzig Jahren feststellte. | |
| ## Keine langfristige Strategie der Parteien | |
| Diese tiefer gehende Entpolitisierung der Zivilgesellschaft scheint sich | |
| ungebrochen fortzusetzen. Von einer Re-Politisierung, wie sie zum Beispiel | |
| Politikwissenschaftler wie Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser in | |
| ihrem Buch „Triggerpunkte“ feststellen, kann bestenfalls unter Ausblendung | |
| dieses Bereichs die Rede sein. | |
| Die gegenwärtigen politischen Parteien erscheinen von einem größeren | |
| geschichtlichen Standpunkt aus als orientierungslos: Niemand scheint eine | |
| langfristige Strategie oder Zukunftsvorstellung zu haben, die den nächsten | |
| Wahlzyklus überdauert. Statt positiver Utopien versprechen Politiker heute | |
| nur mehr, das Schlimmste – Klimakrise, Deindustrialisierung, Putin, Terror | |
| et cetera – zu verhindern. | |
| Je nach Partei variiert das Szenario; ihnen zugrunde liegt allerdings ein | |
| gemeinsamer Kern. Ideologien und Utopien sind nicht überwunden, sondern ins | |
| Negative verkehrt. Während die Fortschrittsversprechen der Vergangenheit | |
| nicht mehr überzeugen, hat Politik als Versuch, eine bessere Gesellschaft | |
| einzurichten, abgedankt. Dadurch aber ist ihr Sinn selbst fragwürdig | |
| geworden, was sich in der Entpolitisierung der vergangenen Jahrzehnte | |
| längst nicht nur in Deutschland deutlich zeigt. | |
| [4][Cancel Culture] erscheint dagegen als eine Art Ersatzbefriedigung. Sie | |
| erlaubt der öffentlichen Meinung, unmittelbar wirksam zu sein, | |
| direktdemokratisch. Der belgische Historiker Anton Jäger beschreibt sie in | |
| seinem in diesem Herbst erschienenen Buch „Hyperpolitik“ als „extreme | |
| Politisierung ohne politische Folgen“. Sie ist Ausdruck davon, wie schlecht | |
| es um die politische Streitkultur bestellt ist. In ihr geht es nicht um | |
| politische Inhalte; sie ist rein moralisch. Sie spricht im Sinne einer sich | |
| als kultiviert verstehenden Elite gegen Nichtakademiker. Sie beruft sich | |
| auf verletzte Tabus statt auf vernünftige Argumente. Mit ihr ist nicht zu | |
| diskutieren. Wo sich Cancel Culture avant la lettre wie in den Siebzigern | |
| mit Notstandsgesetzen und Berufsverboten für „Radikale“ vor allem gegen | |
| Linke richtete, wendet sie sich heute zumeist gegen Rechte – viele | |
| verstehen sie deshalb als progressiv. | |
| ## Linke, die Meinungsfreiheit beschneiden | |
| Die Neue Linke in den Sechzigern begann dagegen als Bewegung für radikale | |
| Redefreiheit, während der gegenwärtigen vermeintlichen Linken jenes Recht | |
| fragwürdig erscheint. Skandalös ist, dass sie es der AfD damit erlaubt, | |
| sich als Kämpfer für liberale Freiheiten zu inszenieren. Gegenwärtig haben | |
| sowohl Rechte wie auch so genannte Linke oft ein rein taktisches Verhältnis | |
| zur Redefreiheit und rufen jeweils nach Verboten von Aussagen ihres | |
| politischen Gegners. | |
| Wie weit sich antidemokratische Stimmungen in der so genannten Mitte der | |
| Gesellschaft breitgemacht haben, zeigt sich an der Beliebtheit von | |
| Verbotsforderungen gegen missliebige Meinungen politisch völlig | |
| ohnmächtiger [5][und skurriler Minderheiten wie der Gegner der | |
| Coronamaßnahmen]. Redefreiheit hat jedoch nur dann einen Sinn, wenn sie | |
| Meinungen von Minderheiten schützt. Sie beginnt erst dort, wo es der | |
| Mehrheitsmeinung zu weit geht. | |
| In der Weimarer Republik benutzten die Nationalsozialisten die | |
| illiberalen Elemente der Verfassung – Notstandsgesetze, Parteienverbote und | |
| Redeeinschränkungen – als Einfallstor, um die liberale Ordnung ganz zu | |
| kippen. Sie riefen den Ausnahmezustand aus und machten ihn zur Regel. Dafür | |
| mussten sie zunächst nicht einmal die Verfassung ändern. Hitler kam nicht | |
| allein deshalb an die Macht, weil er frei reden konnte. Hätte man ihn | |
| stoppen wollen, wäre das ohne Weiteres wegen der Taten – nicht der Worte – | |
| möglich gewesen. | |
| ## Beschränkte Redefreiheit | |
| Doch vor den Weimarer Gerichten kamen die Nationalsozialisten für | |
| politische Morde, Putschversuche und Angriffe regelmäßig mit milden Strafen | |
| davon. In Wirklichkeit unterstützte die bürgerliche Mitte die | |
| Nationalsozialisten, um Kommunisten und Sozialisten loszuwerden, während | |
| die zahlreichen Rede- und Versammlungsverbote gegen Nationalsozialisten von | |
| diesen geschickt als effektive Propagandamittel genutzt wurde, um die | |
| Demokratie als bloße Fassade verächtlich zu machen. | |
| Gegenwärtig schaden so auch die neueren Einschränkungen der Redefreiheit, | |
| etwa die Verschärfung des Volksverhetzungsparagrafen erst zu Beginn des | |
| Ukrainekriegs und nun womöglich wegen des Nahost-Konflikts, der | |
| demokratischen Kultur. Sie fußen auf der falschen Prämisse, die | |
| Zivilgesellschaft würde mit reaktionären Tendenzen nicht fertig. Von einer | |
| „wehrhaften“ Demokratie kann aber nur dann die Rede sein, wenn die | |
| Zivilgesellschaft selbst in der Lage ist, demokratiefeindlichen Tendenzen | |
| in Wort und Tat entgegenzutreten. Die amerikanische Verfassung sieht – in | |
| Deutschland ist nach Strafgesetzbuch Paragraph 90a die „Verunglimpfung des | |
| Staates und seiner Symbole“ strafbar – aus exakt diesem Grund die | |
| Redefreiheit ausdrücklich auch für Verfassungsfeinde vor. | |
| Ohne auch grundsätzlicher Kritik an der Demokratie ist der demokratische | |
| Geist auf Dauer nicht lebensfähig. Eine Gesellschaft, die sich nicht von | |
| Zeit zu Zeit ihrer eigenen Normen vergewissern müsste, würde verlernt | |
| haben, sich selbst aufzuklären. Darin wird deutlich, dass Redefreiheit | |
| sowohl das Recht zu sprechen als auch das Recht zu hören beinhaltet. Sie | |
| ist kein rein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Recht. Wenn | |
| Verfassungsfeinde Zulauf haben, kann das, um ein Wort von Bertolt Brecht zu | |
| variieren, kein Grund für die Regierung sein, dem Volk das Vertrauen zu | |
| entziehen, es aufzulösen und ein anderes zu wählen. Vielmehr müsste das | |
| demokratische Lager selbstkritisch die eigene Politik überdenken. Wer mehr | |
| Demokratie will, muss mehr Streit zulassen. | |
| ## Was konstruiert Tatsachen? | |
| Würden populäre Phrasen wie die, dass zwar jeder sein Recht auf eine eigene | |
| Meinung, nicht aber auf eigene Fakten habe, konsequent zu Ende gedacht, | |
| müsste ein orwellianisches Wahrheitsministerium eröffnet werden, das dann | |
| per Dekret eine mehr als 2.000 Jahre alte philosophische Diskussion darüber | |
| beenden würde, was überhaupt Tatsachen konstituiert. | |
| Die Idee der freien Meinungsäußerung, so Adorno, sei nicht von der einer | |
| freien Gesellschaft zu trennen und beinhalte notwendigerweise das Recht, | |
| „die eigene Meinung vorzubringen, zu verfechten und womöglich | |
| durchzusetzen, auch wenn sie falsch, irr, verhängnisvoll ist. Wollte man | |
| aber darum das Recht auf freie Meinungsäußerung beschneiden, so steuerte | |
| man unmittelbar auf jene Tyrannei los, die freilich mittelbar in der | |
| Konsequenz von Meinung liegt.“ | |
| 9 Dec 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Sidney_Verba | |
| [2] https://www.dhm.de/lemo/bestand/objekt/plakat-ich-kenne-keine-parteien-mehr… | |
| [3] https://en.wikipedia.org/wiki/The_Civic_Culture | |
| [4] /Sprachpolitik-bei-der-New-York-Times/!5750135 | |
| [5] /Coronaleugner-mit-Reichsflaggen/!5709925 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Schroeder | |
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