# taz.de -- Nach dem Nazi-Auftritt am Reichstag: Eine Frage des Abstands | |
> Berlins Innensenator Geisel sieht sich im Nachhinein in seinem | |
> Verbotsversuch bestätigt. Im Innenausschuss gerät er aber gehörig unter | |
> Druck. | |
Bild: „Dem deutschen Volke“: Wenige Minuten können sich Neonazis vor dem R… | |
BERLIN taz | Andreas Geisel wirkt angeschlagen an diesem Montagmorgen, wie | |
er da am Kopfende der Tische im Innenausschuss sitzt. Tatsächlich stehen | |
dem SPD-Innensenator die vielleicht härtesten drei Stunden seiner Amtszeit | |
seit dem Terroranschlag am Breitscheidplatz bevor. Dass etwas ziemlich | |
schiefgelaufen ist am Samstag, als rund 400 Neonazis teilweise mit | |
Reichsflaggen bewaffnet [1][die Treppe des Bundestags] stürmen konnten, das | |
ist jedem hier im Saal 311 klar. Nur was? | |
Normalerweise müssen Geisel und Polizeipräsidentin Barbara Slowik zu | |
aktuellen innenpolitischen Vorfällen – von denen es in Berlin viele und | |
auch durchaus pikante gibt – meist nur einige kurze Fragen beantworten. | |
Denn der Ausschuss des Abgeordnetenhauses beschäftigt sich damit immer erst | |
am Ende seiner Sitzung. Doch diesmal macht er wegen „der besonderen | |
Vorkommnisse vom Wochenende“ eine Ausnahme, wie der Ausschussvorsitzende | |
Peter Trapp (CDU) sagt. | |
Der Innensenator indes sieht sich und die Versammlungsbehörde in ihrer | |
Einschätzung der Demonstrationen im Nachhinein bestätigt. „Die | |
Versammlungsverbote wären gerechtfertigt gewesen“, sagt er gleich zu | |
Beginn. Die Proteste hätten sich weniger gegen einzelne Coronamaßnahmen als | |
vielmehr gegen die Demokratie an sich gerichtet. Und sie waren laut Geisel | |
geprägt von heftigen Auseinandersetzungen – allein vor der Russischen | |
Botschaft gab es 200 Festnahmen, darunter auch Ex-Koch Attila Hildmann – | |
sowie der Missachtung der Abstands- und Hygieneregeln. Das sei absehbar | |
gewesen, schließlich habe es sich um die gleichen Anmelder gehandelt. Doch | |
das Verwaltungsgericht wollte, wie Geisel es ausdrückt, ihnen eine „zweite | |
Chance geben“. Auch das Oberverwaltungsgericht hatte das Verbot abgelehnt. | |
Den [2][Auftritt von Rechtsextremisten] auf der Reichstagstreppe nennt | |
Geisel „beschämend“ und fügt hinzu: „Aber die Macht der Bilder wirkt.�… | |
er gesteht Fehler ein: „Nichts ist so gut, dass es nicht besser gemacht | |
werden könnte.“ Man werde den Einsatz genau auswerten. Allerdings stellt er | |
klar, dass der Bundestag zu keinem Zeitpunkt ungeschützt war. | |
Laut Polizeipräsidentin Slowik waren [3][eigentlich genug Polizisten] vor | |
dem Reichstagsgebäude vorhanden. Als aber gegen 19 Uhr eine Rednerin auf | |
einer Kundgebung direkt davor dazu aufrief, die Treppe zu erstürmen, hätten | |
plötzlich an zwei Stellen Demonstranten – vor allem Reichsbürger und | |
„selbsternannte Patrioten“ – versucht, die Absperrungen zu überwinden. R… | |
400 sei das gelungen. Daraufhin wurden 250 Einsatzkräfte zusammengezogen, | |
die die Situation „binnen weniger Minuten aufgelöst“ haben, berichtet | |
Slowik. Zu spät jedoch, um die Bilder noch zu verhindern. | |
Die Opposition im Abgeordnetenhaus gibt sich damit nicht zufrieden. Die CDU | |
fordert sogar fast Geisels Rücktritt: „Sie sind Ihrem Amt nicht gewachsen“, | |
sagt Fraktionschef Burkhard Dregger, nachdem er Geisel zuvor Pfusch und | |
Parteilichkeit vorgeworfen hatte. Der Innensenator habe in Äußerungen | |
klargemacht, dass er die Gesinnung der Anmelder nicht teile. So habe das | |
Verbot politisch motiviert gewirkt. „Die Verschwörungstheoretiker können | |
jetzt Fakten vorlegen, wenn sie sagen, sie werden anders beurteilt“, so | |
Dregger. | |
Die Verbotsverfügung wiederum, erstellt von der der Polizei zugeordneten | |
Versammlungsbehörde, sei dilettantisch begründet gewesen. Mehrfach | |
versuchen Abgeordnete der Opposition, das Verbot als von Geisel angeordnet | |
darzustellen. Der Innensenator weist das zurück: „Bei der Verfügung waren | |
weder der Innensenator noch die Innenverwaltung einbezogen.“ | |
Auch von Linken und Grünen kommt Kritik. „Wir waren skeptisch, was das | |
Verbot angeht. Man hätte vorher mildere Mittel prüfen müssen“, sagt der | |
Innenexperte der Linksfraktion, Niklas Schrader. Die Vermischung der | |
inhaltlichen Debatte mit dem Verbot sei „unglücklich“ gewesen. Die jetzt | |
angekündigte kritische Aufarbeitung nennt Schrader „gut und richtig“. | |
Benedikt Lux (Grüne) bezeichnet die Gesamtbilanz des Polizeieinsatzes | |
lapidar als „okay“, jetzt müsse man nach vorne schauen. | |
Geisel geht unterdessen davon aus, dass es weitere Demos dieser Art geben | |
wird. Berlin sei dafür die „nationale Bühne“. Dabei müsse man zwischen | |
Artikel 2 und Artikel 8 des Grundgesetzes abwägen, also dem Grundrecht auf | |
körperliche Unversehrtheit und dem auf Versammlungsfreiheit. „Wir leben in | |
Zeiten, in denen der Artikel 2 sehr hoch gewertet werden muss“, sagt Geisel | |
dazu. Und kündigt an, am Dienstag im Senat über eine in der | |
Coronaverordnung festgeschriebene Pflicht für einen Mund-Nasen-Schutz auf | |
Demonstrationen reden zu wollen – was Auswirkungen auf andere größere | |
Zusammenkünfte haben könnte, etwa im kulturellen Bereich. | |
Ein Beschränkung der TeilnehmerInnenzahl, wie sie zu Anfang der | |
Coronapandemie bestand, lehnt er zum aktuellen Zeitpunkt mit | |
vergleichsweise niedrigen Infektionszahlen ab: „Man kann das nicht | |
willkürlich tun.“ | |
Zugleich fordert er mehr Unterstützung für die Demokratie. „Eher zu wenig | |
Demokraten sagen klar und eindeutig ihre Meinung.“ Eine | |
„Appeasement-Politik mit Extremisten“ könne es vor dem Hintergrund der | |
Weimarer Republik nicht geben. | |
31 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Bert Schulz | |
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