# taz.de -- Rechte Anschlagsserie in Berlin-Neukölln: Nie eine Antwort bekommen | |
> Generalstaatsanwältin begründet im Rechtsauschuss, warum zwei | |
> Staatsanwälte abgelöst wurden. Es dürfe nicht der geringste Zweifel | |
> entstehen. | |
Bild: Generalstaatsanwältin Margarete Koppers, hier im Februar 2020 in Berlin | |
BERLIN taz | Generalstaatsanwältin Margarete Koppers hatte sich gründlich | |
vorbereitet. Selbst dem Linken-Politiker Niklas Schrader fiel es schwer, | |
allen Einzelheiten ihres detailreichen Vortrags zu folgen. Dabei kennt sich | |
Schrader in dem Komplex um die rechtsextreme Anschlagsserie in Neukölln | |
wirklich aus. Am Mittwoch im Rechtsausschuss legte Koppers die Hintergründe | |
offen, die vor zwei Wochen zur Ablösung von zwei Staatsanwälten geführt | |
hatten. | |
Die Ablösung der Staatsanwälte ging damit einher, dass die | |
Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlungen im Neukölln-Komplex an sich | |
gezogen hat. Es habe keine Anhaltspunkte für den Vorwurf der Befangenheit | |
der beiden Staatsanwälte gegeben, sagte Koppers am Mittwoch im | |
Rechtsausschuss. Dennoch sei die Umsetzung „alternativlos“ gewesen. „Es | |
darf nicht der geringste Zweifel entstehen, dass wir Straftaten aus dem | |
rechtsextremistischen Bereich nicht mit ausreichender Intensität | |
verfolgen“. | |
Eindeutige Signale seien gefordert, sagte Koppers. Sie habe dabei nicht nur | |
die von den Anschlägen Betroffenen im Blick, denen das Vertrauen in die | |
Ermittlungsbehörden verloren gegangen sei. „Nicht erst seit Halle und Hanau | |
stellen rechtsextremistische Straftaten eine akute und massive Bedrohung | |
unserer Gesellschaft dar.“ | |
Seit Ende 2016 ermitteln die Behörden in einer auf Neukölln konzentrierten | |
Anschlagsserie. Über 70 Straftaten sind gelistet, darunter allein 14 | |
Brandstiftungen. Auch diverse Sachbeschädigungen und der Diebstahl von | |
Stolpersteinen werden der Serie zugerechnet. Zielgruppe sind Menschen, die | |
sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Nennenswerte Erfolge konnten die | |
Ermittler bisher nicht verzeichnen, obwohl die mutmaßlichen | |
Hauptverdächtigen bekannt sind. Einer ist der Neonazi Sebastian T., ein | |
anderer Tilo P., einst auch im AfD-Kreisverband Neukölln aktiv. | |
Bei den Ermittlungen gab es viele Ungereimtheiten bis hin zu dem kapitalen | |
Versagen, dass der Linken-Politker Ferat Kocak nicht gewarnt worden war, | |
obwohl es vom Verfassungsschutz Hinweise auf einen bevorstehenden | |
Brandanschlag gegeben hatte. Die Hinweise waren von der Polizei aber nicht | |
rechtzeitig zusammengeführt worden. Am 1. Februar 2018 gingen in Neukölln | |
zwei Autos in Flammen auf. Das eine gehörte Kocak, das andere einem | |
Buchhändler. | |
## Anlass war ein geheimer Telegram-Chat | |
Und nun der Skandal bei der Staatsanwaltschaft. Abgelöst und versetzt | |
wurden der Staatsanwalt S., der bisher zuständiger Dezernent für die | |
Anschlagsserie war, sowie dessen Chef: Der Oberstaatsanwalt F. hatte bis | |
dato die für politische Straftaten zuständige Abteilung 231 geleitet. | |
Anlass für die Versetzung ist ein geheimer Chat bei Telegram, den der | |
Verdächtige Tilo P. mit anderen Verdächtigen geführt hatte. In dem Chat | |
ging es laut Koppers darum, dass P. am 27. März 2017 vom Oberstaatsanwalt | |
F. zu einer Zeugenvernehmung geladen war. F. ermittelte wegen eines | |
Angriffs auf einen AfD-Infostand. | |
Nach der Vernehmung, so Koppers vor dem Rechtsausschuss, habe P. anderen | |
Verdächtigen per Chat mitgeteilt, „der Staatsanwalt ist auf unserer Seite – | |
der ist AfD-Wähler“. Ein Gesprächspartner von P., so Koppers, habe | |
nachgefragt: „Hat er das gesagt?“ Antwort von P: „Angedeutet.“ | |
Das Handy mit dem Chat war am 2. Februar 2018 bei der Durchsuchung von Ps. | |
Wohnung beschlagnahmt worden. Es war die erste Durchsuchung in dem | |
Neukölln-Komplex überhaupt. Der Grund waren die tags zuvor erfolgten | |
Brandanschläge. Vier Handys und ein Tablet wurden laut Koppers bei P. | |
beschlagnahmt. | |
Erst im September 2019 seien die Geräte vollständig ausgewertet gewesen. | |
Das Ergebnis habe der Staatsschutz in einem 27-seitigen Bericht | |
zusammengefasst, ein Bestandteil davon: das vollständige Zitat des Chats | |
nebst Nennung des Namens des vernehmenden Staatsanwalts. Am 30. Dezember | |
2019 habe der Bericht die Staatsanwaltschaft erreicht. | |
## Erfolglose Anfragen der Anwältin | |
Der Bericht landete dann auf dem Schreibtisch von S., Dezernent für die | |
Anschlagsserie. Ungeachtet des Wahrheitsgehalts der in dem Chat | |
aufgestellten Behauptung, so Koppers, hätte S. den Befangenheitsverdacht | |
sofort seinen Vorgesetzten melden müssen. Aber S. habe acht Monate lang | |
nichts unternommen. | |
Inzwischen, so Koppers im Rechtsausschuss, habe sie vom Staatsschutz sogar | |
erfahren, dass ein Beamter den Dezernenten S. bereits am 7. Februar 2019 | |
telefonisch über den Chatverlauf informiert haben wolle. Also deutlich vor | |
dem Eingang des schriftlichen Berichts. | |
Erst Ende Juli 2020, als die Behördenleitung auf Drängen von Kocaks | |
Anwältin die Akten überprüft habe, sei der Vermerk entdeckt worden. Mehr | |
als ein Jahr lang habe die Anwältin beim zuständigen Dezernat erfolglos | |
Akteneinsicht beantragt. Wiederholt – Koppers listet die Daten auf – habe | |
die Anwältin angefragt, aber „nie hat sie eine Antwort auf ihre immer | |
drängenderen Anfragen bekommen. Nur aufgrund ihrer Beschwerde ist die Akte | |
in meinem Haus überprüft worden.“ | |
Auf Befragung der Behördenleitung habe S. erklärt, den Bericht gelesen, | |
aber nicht ernst genommen zu haben, so Koppers. „Die Einschätzung, das ist | |
einfach nur das Geschwätz eines Rechtsextremen, dem man nicht glauben kann, | |
zeugt von wenig rechtsstaatlichen Verständnis“, wurde die | |
Generalstaatsanwältin deutlich. Was den Oberstaatsanwalt F. betrifft, so | |
habe dieser auf Befragung „vehement bestritten“, in der Vernehmung von P. | |
politische Sympathie oder Ähnliches bekundet zu haben. F. habe aber auch | |
erklärt, dass er die Reaktion der Behördenleitung nachvollziehen könne. | |
## Schatten auf der Staatsschutzabteilung | |
Dass der Chat bei einer Durchsuchung entdeckt wurde und nicht bei einer | |
Telefonüberwachung, widerlege Vermutungen, der Beschuldigte P. habe das | |
Medium bewusst genutzt, um die Ermittler zu diskreditieren, ist Koppers | |
überzeugt. Die Verdächtigen hätten nicht ahnen können, dass das Handy mal | |
in die Hände der Polizei gelange und die Äußerung – „unmittelbar nach der | |
Vernehmung entstanden“ – den Ermittlungsbehörden bekannt werden würde. | |
„Wir alle kennen die Wahrheit nicht“, sagte Koppers, „wir können sie auch | |
nicht ermitteln.“ Aber es liege ein Schatten auf der Staatsschutzabteilung, | |
deshalb sei ein Neustart mit einer anderen Leitung erforderlich. | |
Innensenator Andreas Geisel (SPD) hatte wie berichtet angekündigt, dass | |
[1][externe Sonderermittler] mit bundesweiter Erfahrung im Bereich | |
Rechtsextremismus die Akten der Polizei noch mal nach Schwachstellen | |
durchforsten sollen. Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) sagte dazu im | |
Rechtsausschuss, seine Behörde werde prüfen, inwieweit dafür auch die Akten | |
der Staatsanwaltschaft geöffnet werden könnten. Es müsse aber eine | |
Abgrenzung zu den laufenden Ermittlungen geben. „Wir arbeiten transparent | |
zusammen, aber wir müssen aufpassen, dass das nicht den Tätern nützt“, | |
sagte Koppers. | |
Bei der nächsten Sitzung im September soll der Vorsitzende der Vereinigung | |
Berliner Staatsanwälte angehört werden. Ähnlich wie von der CDU waren in | |
Staatsanwaltskreisen parteipolitische Gründe hinter der Abberufung vermutet | |
worden. | |
20 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Senator-ueber-rechten-Terror-in-Berlin/!5702333 | |
## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
## TAGS | |
Polizei Berlin | |
Dirk Behrendt | |
Rechter Terror in Berlin-Neukölln | |
Brandanschlag | |
Andreas Geisel | |
Berlin-Neukölln | |
Letzte Generation | |
Rechter Terror in Berlin-Neukölln | |
Rechter Terror in Berlin-Neukölln | |
Rechter Terror in Berlin-Neukölln | |
Rechter Terror in Berlin-Neukölln | |
Schwerpunkt AfD in Berlin | |
Rechter Terror in Berlin-Neukölln | |
Vietnam | |
Andreas Geisel | |
Polizei Berlin | |
Rechter Terror in Berlin-Neukölln | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ermittlungen gegen Straßenblockierer: „Auf der Sachebene bleiben“ | |
Berliner Generalstaatsanwältin verwahrt sich gegen die Kritik, Ermittlungen | |
gegen die Blockierer der Letzten Generation würden zu lange dauern. | |
Prozess um Brandstiftung in Neukölln: Ex-NGO-Mitarbeiter freigesprochen | |
Ein Ex-Mitarbeiter der Amadeu-Antonio-Stiftung wurde vor Gericht | |
freigesprochen. Er war wegen Brandstiftung an dem Auto eines Neonazis | |
angeklagt. | |
Rechte Anschlagsserie in Berlin-Neukölln: Indizienlage klar, Täter ungestraft | |
Der Abschlussbericht der Sonderkommission zur rechten Terrorserie in | |
Neukölln räumt Fehler ein. Nun soll eine Sonderkommission weiter ermitteln. | |
Rechte Anschlagsserie Berlin-Neukölln: Das Tappen im Dunkeln | |
Am Montag wird der Abschlussbericht der Sonderkommission in der Neuköllner | |
Anschlagsserie vorgestellt. Fragen bleiben dennoch. | |
Rechte Terrorserie in Berlin-Neukölln: Razzia bei Nazi aus Neukölln | |
Ein Verdächtiger der rechtsextremen Anschlagsserie soll illegal | |
Coronahilfen kassiert haben. Betroffene kritisieren Ermittler:innen. | |
Rechtsextreme Anschlagsserie in Neukölln: Nazi-Prozess vertagt | |
Huldigung an Heß: Zwei Hauptverdächtige der Neuköllner Anschlagsserie | |
wurden am Montag wegen Nazi-Propaganda und Sachbeschädigung angeklagt. | |
Rechte Anschlagsserie in Neukölln: Die Verdächtigen stehen vor Gericht | |
Am Montag beginnt der erste Prozess im Komplex um die rechte | |
Anschlagsserie. Allerdings geht es nur um Sachbeschädigung und | |
Nazi-Propaganda. | |
Nahestehende über rassistische Morde: „Zwei junge Männer voller Hoffnung“ | |
Vor 40 Jahren wurden Nguyên Ngoc Châu und Đo Anh Lân in einem Hamburger | |
Flüchtlingsheim von Rechtsradikalen ermordet. Ihre Paten erinnern sich. | |
Anschlagsserie in Berlin-Neukölln: Im Fokus der Aufklärung | |
Generalstaatsanwältin wird vom Rechtsausschuss befragt. Was bisher über den | |
Ermittlungsstand in der rechten Anschlagsserie Neukölln bekannt ist. | |
Senator über rechten Terror in Berlin: „Dieses Versäumnis ist ein Problem“ | |
Bei der Untersuchung der rechten Terrorserie in Neukölln gab es Fehler, | |
sagt Berlins Innensenator Geisel (SPD). Er wird Sonderermittler einsetzen. | |
Rechte Anschlagsserie in Neukölln: Es rumort in der Staatsanwaltschaft | |
Nach der Versetzung zweier Staatsanwälte gibt es Kritik an | |
Generalstaatsanwältin Koppers und Justizsenator Behrendt. Strafverteidiger | |
widersprechen. |