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# taz.de -- Nach der rechten Demo in Berlin: Gegen die Fassungslosigkeit
> Der Angriff auf den Bundestag entlarvt auch die Linke. Sie muss raus aus
> der Wohlfühlzone, in der sie sich als die einzige Stimme der Vernunft
> wähnt.
Bild: Auf den Stufen des Reichstags am Samstag
In Berlin haben am Samstag zehntausende Menschen gegen die Coronaauflagen
demonstriert. Linke, Grüne, Liberale und Konservative konnten auf das Bild,
das ihnen dabei geboten wurde, nur mit Fassungslosigkeit reagieren: Zu
sehen waren Reichskriegsflaggen neben Regenbogenfahnen, Hippies neben
Nazis, Humanisten neben Trumpisten. Am Ende [1][stürmten Neonazis die
Treppen des Parlaments], während die Anhänger der Demokratie sprachlos
zuschauten.
Auch die [2][Polizei schien völlig machtlos]. Zu einem Zeitpunkt
beschützten nur drei Polizist*innen das Parlament vor der anstürmenden
Horde der Faschisten. Diese Beamten sollten als Held*innen der Demokratie
gelten. Doch darüber hinaus muss gefragt werden, was mit der Polizei los
ist: Denn zeitgleich mit dem offenen Angriff der Neonazis auf das zentrale
Gebäude unserer Demokratie bewachte eine eigens dafür abkommandierte
Reiterstaffel den kümmerlichen Rest der antifaschistischen
Gegendemonstration. Zuvor hatte man es als nötig erachtet, tausende
Antifaschist*innen eine Stunde in einem Kessel gefangen zu halten,
augenscheinlich, um sie vom Protestieren gegen die Nazisymbole abzuhalten,
die auf der Hauptdemo zuhauf geschwenkt wurden.
In Zeiten, in denen immer wieder neue Skandale ans Tageslicht stoßen,
welche eine intime Zusammenarbeit von [3][Teilen der Staatsgewalt mit
Rechtsextremisten] und sogar mit Rechtsterroristen nahelegen, müssen wir
deshalb einsehen: Diese Gesellschaft hat ein gigantisches Problem. Teile
der Staatsgewalt sehen anscheinend im Antifaschismus die wahre Gefahr – und
nicht etwa in Faschisten, die das Vierte Reich beschwören.
Doch zurück [4][zu den eigentlichen Protesten]: Hier kann man davon
ausgehen, dass die meisten der Teilnehmenden sich tatsächlich nur Liebe,
Frieden und eine harmonische Welt wünschen. Die Gesellschaft muss aber auch
einen Weg finden, diese Menschen vor der Naivität ihres eigenen
Selbstverständnisses zu warnen: Denn weil sie es unbedingt vermeiden
wollen, sich politisch zu positionieren (denn dann könnten sie ja nicht
mehr den Anspruch erheben, für die Menschheit als solche zu sprechen),
können sie sich gar nicht [5][vom Rechtsextremismus abgrenzen.] Wer sich
apolitisch gibt, kann niemanden politisch ausschließen.
Die bittere Ironie ist nun, dass es ebenjener Glaube an das Gute im
Menschen ist, der von den Rechtsextremen gnadenlos ausgenutzt wird. Hier
überwiegen eiskalte Machtkalkulationen: Man gibt sich bürgerlich, denn man
erkennt im verunsicherten Volk ein Radikalisierungspotenzial. Wer nicht
mehr weiß, was er in der Pandemie noch glauben soll, der lässt sich doch
vielleicht auch für die so alte wie falsche Geschichte eines ganz
besonderen Volkes gewinnen, das aber leider von geheimen Mächten
unterdrückt wird. Und so wird die BRD plötzlich zum Besatzungskonstrukt,
werden Geflüchtete zu einer vom vermeintlichen „Weltjudentum“ gesteuerten
Invasionsarmee und wird Homosexualität zu einem Ausdruck kultureller
Dekadenz, die von der eisernen Hand des Preußentums (des Faschismus)
beiseitegewischt gehört.
Dies sind Realitäten, mit denen wir als Gesellschaft umgehen müssen, wenn
wir nicht mit ihnen leben wollen. Wir dürfen deshalb nicht davor
zurückschrecken, die Ursachen dieser Zustände zu benennen: Wir leben im
Zeitalter einer vom Neoliberalismus hervorgerufenen Sinnkrise, die sich
[6][im Zuge zunehmender ökonomischer Unsicherheit], eskalierender
Ungleichheit und stagnierender Löhne noch zugespitzt hat. Dass es im
Neoliberalismus kaum kollektiven Sinn, Gemeinschaft und einen Lebenszweck
außerhalb von Konsum und Profit geben kann, hängt also direkt mit der
Attraktivität der Rechtsextremisten zusammen, die einen solchen Lebenssinn
anbieten. Die Gesellschaft erschafft sich ihre Nazis durch ihre Politik der
sozialen Kälte selbst.
Es ist deshalb Zeit für die Linke, endlich wieder eine eigene Erzählung auf
die Beine zu stellen. Wir können dabei von der Hoffnung ausgehen, dass die
Perspektive einer besseren und gerechteren Welt immer attraktiver sein wird
als die Gegenerzählung der ethnisch-kulturellen Ungleichheit, welche die
Abgabe aller persönlichen Autonomierechte an die große Maschinerie der
völkischen Diktatur impliziert.
Damit dieses Projekt aber erfolgreich ist, muss die Linke zwei Krisen
überwinden. Erstens die Krise der eigenen Kommunikation: Will man für den
Glauben an eine bessere Welt stehen, muss man sich auch so verhalten.
Menschen ohne Maske niederzubrüllen und als Faschisten zu beschimpfen,
erfüllt leider alle Stereotype, die diese Menschen gerade von ihren neuen
Kameraden vermittelt bekommen haben. Trotz der Notwendigkeit eines
militanten Widerstands gegen den Faschismus gilt also: Die Linke muss raus
aus ihrer Wohlfühlzone, in der sie sich als die einzige Stimme der Vernunft
wähnt – und mit allen anderen gar nicht erst redet.
Zweitens muss die Linke aber auch die Krise ihrer Theorie und die ihrer
Spaltung überwinden: Denn während die einen wirken, als hätten sie die
Hoffnung auf grundlegende Veränderung insgesamt aufgegeben, verharren die
anderen in abstrakten Konzepten, die längst keine Wirkkraft mehr entfalten.
Dabei verlangen die derzeit erlebten Krisen – die der Demokratie in einer
globalisierten Welt, die der sich verändernden Arbeitswelt, die des
sozialen Friedens in einer zunehmend rechtsoffenen Gesellschaft und die des
sich erwärmenden Planeten – nach linken Antworten. Sie verlangen nach
bedingungsloser Grundsicherung, nach europäischer Demokratie, nach einem
Green New Deal. Um all das umzusetzen, muss die Linke raus aus ihrer Blase,
sie muss Bündnisse schließen und sie muss sich schmutzig machen. Dann wird
ihr auch zugehört werden, womit schlussendlich die Kraft der völkischen
Demagogen schwindet.
31 Aug 2020
## LINKS
[1] /Coronaleugner-vor-Reichstagsgebaeude/!5706365
[2] /Corona-Proteste-am-Reichstagsgebaeude/!5706372
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[6] /Proteste-gegen-Polizeigewalt/!5688578
## AUTOREN
Timm Kuehn
## TAGS
Rechtsextremismus
Verschwörungsmythen und Corona
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