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# taz.de -- Grüne Jugend fordert Reform: Sozialarbeiter*innen statt Polizei
> Die Grüne Jugend legt ein Papier für eine radikale Neuaufstellung der
> Polizei vor. Der Mutterpartei passt das nicht ins Konzept.
Bild: Polizeianwärter*innen werden in Hannover vereidigt
Berlin taz | Mögliche rechte Netzwerke, Racial Profiling,
Stammbaumrecherchen in Baden-Württemberg – die Polizei stand zuletzt
vielfach in der Kritik. Nun reagiert die Grüne Jugend und legt ein Papier
mit radikalen Reformvorschlägen vor: „Polizei neu aufstellen“. In der
Mutterpartei dürfte man darüber wenig begeistert sein. Denn die hatte
zuletzt die Nähe zur Polizei gesucht.
Die Parteijugend jedoch spart nun nicht mit Kritik an dem
Sicherheitsapparat. Die Polizei weise „eklatante Missstände“ auf, heißt es
in ihrem Papier, das der taz exklusiv vorliegt. Die Rede ist von „Tätern in
Uniform“ und einem „strukturellen Problem“. So seien
[1][Racial-Profiling-Kontrollen], also Überprüfungen allein aufgrund der
Hautfarbe, „alltäglich“ und [2][Polizisten in bewaffneten rechten
Netzwerken] aktiv.
Es gebe „jährlich tausende Fälle von brutaler Polizeigewalt, für die sich
niemand verantworten muss“. Damit sei klar: „Eine grundlegende
Neuausrichtung von Polizeiarbeit ist unausweichlich.“
Während die grüne Mutterpartei aktuell für „eine starke Polizei“ eintrit…
die mehr Personal bekommen müsse, formuliert die Grüne Jugend eine
gegenteilige Vision: Sie will die Behörde einschrumpfen. Es gehe um das
Ziel, „staatliche Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung nach und nach zu
verdrängen und durch Prävention und Kooperation zu ersetzen“, heißt es in
ihrem Papier. „Polizeieinsätze sind kein Selbstzweck.“
## Tote durch Polizeischüsse
Man wolle eine „befreite Gesellschaft, die Gewalt und Repression als Mittel
der gesellschaftlichen Problemlösung Stück für Stück überwindet“. Das
Argument der Parteijugend: Es gebe zivile Träger, die viele Aufgaben besser
übernehmen könnten als die Polizei. Sie nennt etwa den Umgang mit Opfern
häuslicher oder sexualisierter Gewalt, mit Fußballfans, Obdachlosen,
Geflüchteten oder Suchtkranken.
So seien bei psychischen Ausnahmesituationen Sanitäter*innen,
Streetworker*innen oder die psychologische Krisenhilfe die bessere
Alternative zur Polizei. Zuletzt hatten [3][Polizist*innen mehrfach
Menschen in solchen Situationen erschossen].
Dazu plädieren die Jung-Grünen für ein härteres Durchgreifen bei
Missständen. Einheiten oder Dienststellen müssten leichter aufgelöst werden
können, Neueinstellungen strikter überprüft werden. Besonders Beamt*innen
der geschlossenen Einheiten wie des SEK müssten „systematisch“ auf
menschenfeindliche Einstellungen überprüft und standardmäßig nach drei
Jahren ausgetauscht werden.
Racial Profiling gehöre „unverzüglich und konsequent beendet“. Der Passus
im Bundespolizeigesetz, auf den sich Beamt*innen hier oft berufen – nämlich
Kontrollen aufgrund „grenzpolizeilicher Erfahrung“ – sei zu streichen.
Damit Betroffene sich besser wehren können, sollen kontrollierte Personen
jedes Mal ein „Ticket“ zur Dokumentation bekommen. Dieses soll Angaben etwa
zum Umfang und zum Grund der Kontrolle enthalten.
## Weg mit dem Pfefferspray
Zudem müsse bundesweit das Antidiskriminierungsgesetz eingeführt werden,
wie es in Berlin seit Juni existiert und von Innenministern zuletzt heftig
kritisiert wurde. Und die Vorschläge sind noch weitreichender: So soll
künftig nicht mehr jede Polizeistreife Waffen tragen – um zur Deeskalation
beizutragen.
Auch die „standardmäßige Bewaffnung mit Pfefferspray ist zu beenden“. Auf
Demonstrationen sollen keine Hunde und Pferde mehr eingesetzt werden, das
Vermummungsverbot für Protestierende gehöre abgeschafft. Und gegen
Polizeigewalt sollen eine anonymisierte Kennzeichnungspflicht für alle
Einheiten und unabhängige Ermittlungsstellen mit
Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften helfen. Zur Aufklärung sollen
Einsatzprotokolle und Polizeivideos bei Treuhandstellen aufbewahrt werden.
Zudem sollen Polizist*innen nicht mehr „abgeschirmt unter ihresgleichen“ in
Polizeikasernen ausgebildet werden, sondern „wie in anderen Ländern
selbstverständlich“ an Universitäten. In Bund und Ländern soll es – anal…
zu Wehr- und Datenschutzbeauftragten – Polizeibeauftragte geben.
Mit Blick auf die [4][Drohschreiben des NSU 2.0] verweist die
Jugendorganisation auf mindestens 400 Verfahren nach illegalen
Datenabfragen bei Landespolizeien allein seit 2018 – und fordert eine
Reform dieser Abfragen, damit in Zukunft zweifelsfrei nachvollziehbar ist,
wer diese getätigt hat. Auch brauche es mehr kritische Polizeiforschung:
Diese werde bisher „teils vernachlässigt, teils bewusst verhindert“. So sei
etwa die v[5][on Bundesinnenminister Horst Seehofer gestoppte Studie zu
Racial Profiling] „dringend notwendig“.
## Kritik „systematisch abgeblockt“
Georg Kurz, Co-Sprecher der Grünen-Jugend, nennt die Forderungen „erste
Schritte, um die Polizei konsequent an rechtsstaatliche Prinzipien zu
binden“. Man habe sich für das Papier lange mit grünen Innenexpert*innen,
Polizist*innen und Betroffenen ausgetauscht. „Es ist ein Desaster für
die Demokratie, wenn feststeht: Rechtswidrige Polizeigewalt bleibt in den
allermeisten Fällen folgenlos“, so Kurz. „Daraus leitet sich für uns und
für alle demokratischen Parteien ganz klar der Auftrag ab, das zu beenden.“
Eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit staatlicher Gewalt müsse in
einem Rechtsstaat eigentlich eine „Selbstverständlichkeit“ sein, so Kurz �…
in der Realität hingegen würde Kritik von Polizeigewerkschaften und
Innenminister*innen „systematisch abgeblockt“. Man setze nun auf ein
positives Feedback auf das Papier aus Bundespartei und Bundestagsfraktion.
Die Parteiführung der Grünen windet sich, will zum Inhalt des Papiers
nichts sagen. „Wir sind immer im Austausch mit der Grünen Jugend, aber sie
ist eine eigenständige Organisation mit eigenem Kopf und eigenen
Vorschlägen“, sagt Pressesprecherin Nicola Kabel.
Deutlich reserviert reagiert hingegen Irene Mihalic, Innenpolitikerin der
Grünen im Bundestag und selbst Polizistin. Das Papier der Parteijugend
enthalte zwar „viele Interessante Anregungen“, etwa eine bessere
Kooperation von Polizei und Zivilgesellschaft. „Ich finde den Ton und die
oft polemischen Wertungen des Papiers jedoch an einigen Stellen nicht gut.“
Es fehle an einer differenzierten Betrachtung. „Die meisten Polizistinnen
und Polizisten machen einen sehr guten Job und haben mit Rassismus nichts
am Hut.“
## Grüne Sicherheit
Missstände müssten aber natürlich aufgearbeitet werden, so Mihalic –
„gerade damit sie nicht denen angeheftet werden, die sich vorbildlich
verhalten“. Und Reformbedarf sieht die Innenpolitikerin ebenfalls. „Aber
das ist nicht die Schuld der Polizistinnen und Polizisten, sondern der
Politik. Wir müssen die Strukturen verändern, Fehlerkultur ermöglichen,
Missstände abstellen.“ Es bleibe aber dabei, so Mihalic: „Egal von welcher
Seite: Pauschale Bewertungen verlängern den Stillstand. Differenzierung
führt zu Reformprozessen, die dringend nötig sind.“
Die Kritik kommt nicht überraschend. Galten die Grünen in den Anfangsjahren
noch als vehemente Polizeikritiker*innen, [6][ging die Partei zuletzt
betont auf die Behörde zu]. Man wolle Sicherheitspolitik nicht mehr nur
kritisieren, sondern selbst mitgestalten, so der Anspruch – wohl auch mit
Blick auf die kommende Bundestagswahl, bei der die Grünen auf eine
Regierungsbeteiligung setzen, gerne auch zusammen mit der Union.
Die Partei veranstaltete eigene Polizeikongresse, suchte den Dialog. Auch
im [7][jüngst vorgestellten Grundsatzprogramm] gibt man sich staatstragend.
„Polizei und Sicherheitsorgane garantieren die Sicherheit im Innern“, heißt
es dort. Diese Sicherheit sei eine „der wichtigsten Aufgaben des
Rechtsstaats“. Die Polizei sei „Hüterin und Verteidigerin von Rechtsstaat
und wehrhafter Demokratie“, sie brauche „eine gute Ausstattung und
ausreichend Personal“. Eingefordert wird aber auch hier, Fehlverhalten
„ohne falsche Rücksichten aufzuklären“.
## Lob und Utopie
Mihalic empfiehlt der Parteijugend ein Treffen mit PolizeiGrün, einem
Verein grünen-naher Polizist*innen. Georg Kurz aber tauschte sich bereits
mit deren Vorsitzenden Oliver von Dobrowolski aus.
Und der Berliner Polizist findet für die Grünen-Jugend durchaus Lob. Deren
Positionspapier enthalte „einige sinnvolle Forderungen“, zum Beispiel die
Stärkung ziviler Institutionen etwa im Umgang mit psychisch Erkrankten.
„Dies würde den Betroffenen zugutekommen und gleichzeitig der Polizei
ermöglichen, sich auf ihre originären Aufgaben zu besinnen“, so von
Dobrowolski. Die Fachstellen müssten dann aber auch in der Lage sein,
adäquat und ohne Verzug auf Notfälle zu reagieren.
Andere Forderungen der Grünen Jugend muteten dagegen „utopisch“ an und
seien für Polizeipraktiker schwer vermittelbar, sagt von Dobrowolski.
Dennoch: Das Papier sei eine „Diskussionsgrundlage, die nähere Betrachtung
verdient und Grundlage für eine Debatte über die Polizei der Zukunft
darstellen kann“.
14 Aug 2020
## LINKS
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[4] /NSU-20-Skandal-weitet-sich-aus/!5700668
[5] /Studie-zu-Racial-Profiling/!5695298
[6] /Parteipapier-zu-gruener-Sicherheitspolitik/!5572535
[7] /Gruene-und-ihr-Grundsatzprogramm/!5692766
## AUTOREN
Dinah Riese
Konrad Litschko
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Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
Grüne Jugend
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Racial Profiling
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Peter Beuth
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